Die Poesie der Gottesliebe - Beitrag zum Psalmendialog auf dem Katholikentag Ulm-Teil 1
Robert Leicht
Fangen wir der Einfachheit halber beim – Schwierigsten an:
In den Psalmen stoßen wir immer wieder auf Sätze, genauer: auf Verfluchungen von gelegentlich grausamster Aggressivität: vernichte, zerschlage, töte – heißt es da immer wieder, und zwar an die Adresse des – wie wir so harmlos sagen – lieben Gottes.
Psalm 143:12 … vernichte meine Feinde um deiner Güte willen und bringe alle um, die mich bedrängen…
Psalm 58:7 Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul, zerschlage, HERR, das Gebiss der jungen Löwen!
Und wir hätten es doch beinahe eben noch selber gehört – wenn auch vornehm versteckt im Latein und von der Musik umspielt, hätte nicht Johann Caspar Ferdinand Fischer die Stelle bei seiner Vertonugn ausgelassen – war sie ihm selber etwa schon zu anstößig? - :
Psalm 139:19 Ach Gott, dass du tötetest die Gottlosen, und die Blutgierigen von mir weichen müssten! 20 Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich ohne Ursache. 21 Ich hasse ja, HERR, die dich hassen, und es verdrießt mich an ihnen, dass sie sich wider dich setzen. 22 Ich hasse sie im rechten Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.
Wo bleibt der liebe Gott? Und wo bleibt da die schöne Bergpredigt – mit ihrem Gebot der Feindesliebe?
Matth. 5:43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: "Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen." 44 Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vater im Himmel; denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Übrigens: Wenn wir diese Stelle der Bergpredigt auslegen, dann betonen wir heute – nach all dem christlichen Anti-Judaismus und nach dem Holocaust – , dass der gute Matthäus in seinem Evangelium an dieser Stelle einen Schnitzer gemacht habe: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ Er zitiere da Jesus von Nazareth, der wiederum ein Gebot aus der Thora zitiere – aber in Wirklichkeit finde sich in der Thora nirgendwo ein Gebot, wonach man seinen Feind hassen solle. Gut – ein solches Gebot gibt es nicht. Aber es gibt die Psalmen – und da hören wir dann, wie soeben:
21 Ich hasse ja, HERR, die dich hassen, und es verdrießt mich an ihnen, dass sie sich wider dich setzen. 22 Ich hasse sie im rechten Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.
Was sollen wir denn dazu sagen – wir Christen, die in dieser modernen Welt und offenen Gesellschaft doch zu Toleranz und Versöhnlichkeit erzogen worden sind? Würden wir denn je noch einen Atheisten schief anschauen, geschweige denn hassen? Nun, immerhin haben in diesem Lande vor noch nicht allzu langer Zeit Katholiken und Protestanten einander schief angeschaut, bisweilen sogar gehasst. Und was waren das für Dramen, wenn in meiner Kindheit auf der Schwäbischen Alb, also vor eben fünfzig Jahren, ein junger katholischer Mann aus einem katholischen Dorf eine junge protestantische Frau aus dem protestantischen Nachbardorf nachhause brachte, gar heiraten wollte!? – Und was haben wir Christen – noch ein paar Jahre früher – gemeinsam, Katholiken und Protestanten zusammen, die Juden gehasst und verfolgt? Nicht alle, aber zu viele, zu schlimm!! Und immer fand sich jemand, der fand, der lb. Gott müsste mithassen und mitverfolgen.
Also, das wäre das erste, was wir zu diesen Hass-, Verfolge!-, Vernichte!-Sätzen in den Psalmen zu sagen hätten, die uns Heutigen mit unserem zuweilen sehr weich gespülten Christentum so fürchterlich (und zu Recht: so fürchterlich) in den Ohren klingen: Es hatte lange gedauert, bis wir unsere Weisheit mit Löffeln gefressen hatten. Und ob wir sie schon geistig wirklich verdaut haben, wer weiß? Kaum sehen wir ein muslimisches Kopftuch, stoßen wir schon wieder auf. Dabei erinnern jene Kopftücher so ungemein an jene, welche die christlichen Weiber damals auf der Alb – zum Beispiel in Dürrenwaldstetten – und anderswo zu tragen hatten, säuberlich auf der linken Seite des Kirchenschiffs sitzend.
Freilich, es gibt auch anderes: Seit der vormalige Direktor der Katholischen Akademie in Hohenheim – er sitzt heute in anderer Eigenschaft mitten unter uns – seine neue Kapelle gestalten ließ, werden im Zugang zu ihr Exemplare der Heiligen Schriften der drei Schriftreligionen nebeneinander vorgestellt.
Das zweite aber, was zu sagen wäre, führt uns nun viel näher an die Psalmen selber heran – ohne dass wir deswegen die anstößigen Sätze glätten wollen. (Sie fehlen ja in unseren Gebetbüchern zumeist ohnehin – da wir bereits stubenrein zitiert; und auf Latein ist ohnedies alles ungefährlich.)
Die Leidenschaft, mit denen in den Psalmen diese befremdlichen Verwerfungen ausgesprochen werden – diese Leidenschaft ist nur das Gegenstück (ja gewissermaßen: das sind die „Risiken und Nebenwirkungen“) der leidenschaftlichen Gottesliebe der Psalmisten – es sind die Nebenwirkungen einer geradezu leidenschaftlich blinden Gottesliebe und Gottesbeziehung (und Gottes-Liebe-Beziehung), die dann kein Auge, jedenfalls kein freundliches, tolerantes Auge mehr haben kann für andere, die Gott nicht lieben.
Nun ist das wie in der Medizin: Wir wünschen uns natürlich Arzneien ganz ohne Nebenwirkungen – aber lieber nehmen wir schädliche Nebenwirkungen in Kauf, um der heilsamen Hauptwirkung willen. Soweit will ich nun mit den bösen Seiteneffekten in Glaubenssachen gar nicht gehen – da hoffen wir doch auf deren Vermeidung und schon gar nicht wollen wir den schnell hingehetzten Zu-Satz hören: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie den exegetischen Kommentar und fragen Sie Ihren Gott oder Pfarrer.“
Aber soviel wird man doch drittens sagen – oder wenigstens: fragen dürfen: Fällt es uns heutigen Christen vielleicht deshalb so leicht, klug und erhaben auf all das Verfluchen und Hassen zu verzichten, weil uns längst vor der Leidenschaft dieser Abgrenzung – die Leidenschaft der Gottesliebe abhanden gekommen, weithin jedenfalls abgeflacht ist? Wer heiß liebt, muss ja nicht unbedingt heiß hassen. Aber Warmduscher – so oder so – das ist doch nicht die Alternative.
In den Psalmen, wenn man sie recht liest und hört, haben wir also ein Dokument der Leidenschaft vor uns, ja geradezu expressive, expressionistische Texte. Nichts gegen die Gregorianik – ich mag sie auch, besonders, wenn ich (noch) müde bin, vor allem, wenn sie gekonnt ist: Aber diese Leidenschaft der Psalmen tritt erst dann hervor, wenn man sie aus dem glättenden, egalisierenden Hin und Her der Liturgie und Formelsprache herauslöst, wenn man den Wechsel von schroffen und zärtlichen, ängstlichen und freudigen, von träumerisch-utopischen und scharf-realistischen Tönen frei und überraschend (und schockierend) auf sich wirken lässt. Das sind Gebete! Was sind das für Gebete!
Vergleichen wir doch damit nur unsere verbürgerlichte (ja, auch das – unsere in allen Konfessionen so „verkirchlichte“) Gebetssprache: Leidenschaft – in Formeln betoniert; oder in Sperrholz eingesargt, in Holzwolle gewickelt. Nicht oft – aber immer öfter.
Nun müssen weder unsere Pfarrer noch wir selber Psalmisten und Poeten sein. Vor allem: Poesie als bloße Pose – das wirkt so lächerlich, wie Leidenschaft ohne Liebe. Auch ist die hinreißende Poesie der Psalmen nicht unbedingt von individuellen Dichtern in einer genialen Sekunde hervorgebracht worden, mal schnell aus dem Ärmel der flotten Eingebung geschüttelt. Vielmehr sind diese Texte, diese Gebets-Gedichte durch lange Gottesliebe und Gotteserfahrung hindurch, durch Höhen und Tiefen des Lebens in Generationen, auf Wanderschaft und in Verfolgung geprägt worden, verdichtet und zugeschliffen wie Edelsteine, bevor sie nun – hell und dunkel – funkelnd vor uns liegen. Diese Psalmen-Poesie zeugt nicht nur von einer Leidenschaft, sondern auch von einer Länge, einer die Generationen übergreifenden Dauer der Gotteszuneigung, die uns staunen macht. Und vielleicht wünschen lässt, dass auch wir etwas mehr davon erführen. Vielleicht fangen wir dann sogar selber an, zu singen – und zu dichten. Jedenfalls: dichter zu singen.
Eine solche ungemein poetische Verdichtung jener Gottesliebe, die dann zuweilen in Angst und Verwünschung gegen andere ausbricht, haben wir schon gehört – ganz unmittelbar vor jenen zu Anfang zitierten, schockierenden Sätzen wider die „blutgierigen Gottlosen“. Und diese leidenschaftlich staunenden Sätze wollen wir nun nochmals hören, auf Deutsch – in ihrer poetischen Hingabe und existentiellen Auslieferung an den Gott Israels und den Gott Jesu Christi:
Psalm 139:1 Ein Psalm Davids, vorzusingen. HERR, Du erforschest mich und kennest mich. 2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. 3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. 4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wissest. 5 Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. 6 Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. 7 Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? 8 Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. 9 Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, 10 so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. 11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. 12 Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht. 13 Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleib. 14 Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl. 15 Es war dir mein Gebein nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde. 16 Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war, und alle Tage waren auf dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, als derselben keiner da war. 17 Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihrer so eine große Summe! 18 Sollte ich sie zählen, so würde ihrer mehr sein denn des Sandes. Wenn ich aufwache, bin ich noch bei dir.