"Wunder gibt es immer wieder…" - Predigt über JohEv 11, 1(2)3.17-27(41-45) in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg
Robert Leicht
Liebe Gemeinde,
Worum geht es in dieser Woche? Das sagt uns zunächst der Wochenspruch aus 2. Tim. 1,10: „Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesens ans Licht gebracht durch das Evangelium“. Doch wie das gekommen ist – das sollen wir nun genauer erfahren: zunächst aus dem Evangelium. Und vielleicht auch ein wenig aus der Predigt.
„Wunder gibt es immer wieder…“, den Schlager haben Sie wahrscheinlich alle im Ohr. Aber wer eigentlich glaubt daran? Gewiss, manchmal sagen wir schon: „Dass Karlchen das Examen geschafft hat, das ist ein wahres Wunder.“ Aber glauben wir wirklich an Wunder?
Und nun das Erstaunliche: Nach der Wundergeschichte, die wir heute als Predigttext hören, ist es gar nicht ausgemacht, dass wir an Wunder glauben sollen. Die Geschichte steht im 11. Kapitel des Johannesevangeliums:
LUT John 11:1 Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. … 3 Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank. 17 Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. 18 Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa eine halbe Stunde entfernt. 19 Und viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. 20 Als Marta nun hörte, daß Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. 21 Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 22 Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. 23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. 24 Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird - bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. 25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. 28 Und als sie das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria heimlich und sprach zu ihr: Der Meister ist da und ruft dich. 29 Als Maria das hörte, stand sie eilend auf und kam zu ihm. 30 Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch dort, wo ihm Marta begegnet war. 31 Als die Juden, die bei ihr im Hause waren und sie trösteten, sahen, daß Maria eilend aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie dachten: Sie geht zum Grab, um dort zu weinen. 32 Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 33 Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, ergrimmte er im Geist und wurde sehr betrübt 34 und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh es! 35 Und Jesus gingen die Augen über. 36 Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt! 37 Einige aber unter ihnen sprachen: Er hat dem Blinden die Augen aufgetan; konnte er nicht auch machen, daß dieser nicht sterben mußte? 38 Da ergrimmte Jesus abermals und kam zum Grab. Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag davor. 39 Jesus sprach: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. 40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41 Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. 42 Ich weiß, daß du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage ich's, damit sie glauben, daß du mich gesandt hast. 43 Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44 Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und laßt ihn gehen! 45 Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.
In dieser Wundergeschichte geht es ganz anders zu als in süßlichen Heiligenlegenden. Im Gegenteil: Jesus von Nazareth wird scharf kritisiert, ja regelrecht gescholten – das sollte sich einmal einer unser Pfarrer herausnehmen: „Hättest Du Dich rechtzeitig sehen lassen, wäre unser Bruder nicht gestorben.“ Auch wird Jesus wird nicht als der ewig sanfte, geradezu unerträglich ausgeglichene Heilige dargestellt:
Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, ergrimmte er im Geist und wurde sehr betrübt…
Man spürt richtig wie der Endredakteur der Geschichte dem Bericht, dass Jesus ergrimmte, vorsichtig hinzufügte „im Geiste“, natürlich nur im Geiste – denn wer ist Jesus, dass er einfach so ergrimmt, wie Du und ich?
Und schon an diesem kleinen Eingriff entdecken wir ein wichtiges Erzählgeheimnis dieser Geschichte. Sie bewegt sich nämlich auf ganz verschiedenen Ebenen.
Der Jesus von Nazareth, der allenfalls „im Geiste“ ergrimmt – das ist der Jesus nach Ostern, das ist der Auferstandene, von dem Johannes uns berichtet, unterstellend, wir hätten schon etwas über ihn gehört.
Der Jesus von Nazareth hingegen, der von Marta und Maria, den beiden Schwestern des Lazarus, so heftig gescholten wird und der tatsächlich ergrimmt – das ist noch der Jesus aus der Zeit vor der Karwoche. Da ist er sozusagen nur noch – oder: erst noch Mensch wie Du und ich. Er hat Jünger, gewiss – aber das hatte damals jeder ordentliche jüdische Theologe auch. Ob man an ihn geglaubt hat, wie wir das tun (oder doch tun wollen oder sollten), das darf man füglich bezweifeln – denn in der Geschichte selber wird das Verhalten des Jesus von Nazareth, freilich erst aus der Rückschau des Evangelisten, so geschildert, dass er den Glauben erst erwecken wollte. Und inwieweit ihm das gelungen ist, lässt die Geschichte insgesamt offen. Eines allerdings ergibt sich aus dem Fortgang der Geschichte im Johannesevangelium selber: Wer so handelt, wie Jesus von Nazareth – Blinde heilend, Tote aufweckend - , der ist schon oder der wird bald gefährlich: dem herrschenden Glauben, den herrschenden Glaubensautoritäten, den Mächten allesamt. Und deshalb muss er aus dem Weg geräumt werden – muss er ans Kreuz geschlagen werden.
Davon aber wissen Maria und Marta und seine Jünger noch nichts. Sie wissen noch nichts davon, dass Jesus von Nazareth (wenn man das einmal so drastisch ausdrücken darf, wie es uns der Passionsfilm von Meld Gibson vorführte) – sie wissen noch nicht, dass ihr Meister bald dran glauben muss – auf dass sie bald an ihn glauben werden. Wir Christen freilich lesen die Geschichte des Jesus von Nazareth (und folglich auch die Geschichte von Lazarus) aus dem Rückblick – von Ostern her. Wir lesen diese Geschichte also, und können sie gar nicht anders lesen, denn als Leser, deren Augen an Karfreitag und Ostern auf ungeahnte Weise geöffnet wurden. Und dann ist die Geschichte des Lazarus nicht für sich genommen interessant, sondern nur in Beziehung auf das Ostergeschehen – als ein Vor-Zeichen und als eine Rück-Blende zugleich.
Setzen wir also noch einmal beim Anfang ein:
Lazarus wird krank und stirbt – ein Fall wie tausend und abertausend andere. Und wir auch. Übrigens: Sonst wissen und erfahren wir buchstäblich nichts von Lazarus. Wir wissen noch nicht einmal, wie er auf seine wundersame Erweckung reagiert hat. Hat er sich etwas freudig bedankt? Wie hat er danach gelebt, wie lange – etwas als ein Jünger Jesu? Gerade, dass er in der Passions-Vorgeschichte noch einmal kurz auftaucht. Um es ganz hart zu sagen: Lazarus ist als Individuum uninteressant. Einzig sein Name hat symbolische Bedeutung. Aus dem Griechischen ins Aramäische zurückverfolgt, besagt er: Gott hat geholfen – oder auf gut Deutsch: Gotthilf.
Interessant aber sind Marta und Maria, seine beiden Schwestern – am interessantesten von beiden: Marta. Sie führt mit Jesus, nachdem sie ihm alleine entgegengeeilt war, ein Zwiegespräch, einen ganz intimen Dialog, ein Glaubensgespräch. Zuerst, zwar, kritisiert sie Jesus: Wenn Du nur früher gekommen wärest… Doch dann sagt ihr Jesus etwas, was für die frommen Juden – wenn sie es denn im Wortlaut gehört hätten, eine blasphemische Ungeheuerlichkeit gewesen wäre:
23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. 24 Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird - bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. 25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.
Wir sehen, Marta hält die Worte von der Auferstehung des Lazarus zunächst für eine ganz konventionelle Glaubensaussage – irgendwann, irgendwo am Ende der Tage wird’s geschehen. Aber Jesus sagt: Nein, jetzt – hier und jetzt! Schockierender noch als diese Ankündigung – und damit der theologische Kern der Szene – ist freilich den Grund, den Jesus für das Bevorstehende nennt: Denn welcher fromme Jude, und sei er ein noch so wundersamer Heiliger gewesen, hätte es je gewagt, von sich zu sagen:
„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“
Dass man an Gott glauben sollte, ja – das war und ist der Kern jeder religiösen Unterweisung. Aber dass man an den Lehrer selber glauben solle, weil dieser Lehrer mit Gott wesensgleich ist – das war nach der damaligen Glaubens- und Rechtslage Gotteslästerung – mit dem Tode zu bestrafen. Aber das blieb ja zunächst vertraulich zwischen Marta und Jesus – und zwar ohne dass Marta gesagt hätte: Höre mal, was sagst Du da? Sondern sie sagt, sozusagen als einzige christliche Glaubenszeugin schon vor Ostern:
Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.
Das Wichtigste aber erkennen wir, wenn wir den Zeitablauf genau beachten. Das Glaubensbekenntnis der Marta wird ja nicht etwa durch die Erweckung des Lazarus ausgelöst, im Gegenteil: Ihr Glaubensbekenntnis geht dem Wunder voraus. Wunder sind nicht irgendwelche Kunststückchen, gegen die Natur und Wissenschaft vorgeführt – auf dass wir staunen und an den religiösen Artisten glauben. Es ist der Glaube, der die Berge versetzt – nicht sind es die versetzten Berge, die uns so verblüffen, dass wir anfangen zu glauben.
Zurück zu Marta! So stabil war ihr Glaube nun auch nicht sofort. Als es nämlich darauf ankommt, als also die Steinplatte vom Grab des Lazarus gehoben werden soll, da ist diese eben noch vorösterlich-österliche Marta wieder ganz in die Gemeinschaft ihrer unösterlichen Verwandten und Bekannten zurückgefallen: Halt, der liegt doch schon seit vier Tagen dort (übrigens: vier Tage – einer mehr als die symbolischen drei Tage der Schrift)! Halt, der stinkt doch schon fürchterlich! Vier Tage tot. Da gilt als absoluter Todesbeweis.
Da nun erinnert Jesus die Marta an ihrer zween vertrauliches Gespräch von vorhin – übrigens ganz diskret, ohne dass die Umstehenden verstehen können, was die zwei miteinander besprochen hatten – und an wen Marta zu glauben bekannte:
40 …Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?
Noch einmal: Jesus sagt nicht: Nachdem Du die Herrlichkeit Gottes gesehen hast, könntest Du nun bitte glauben, sondern:
40 …Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?
Wenn wir in dieser Lazarusgeschichte als Vor-Zeichen und Rück-Blende auf Karfreitag und Ostern lesen, steht in ihrem Mittelpunkt nicht die wirklich merkwürdige Geschichte von Lazarus, sondern der Beginn der Glaubensgeschichte – die Geschichte von Marta als der ersten Christin, gewissermaßen avant le mot, noch vor der Bezeichnung und vor dem Glauben, dem Osterglauben der Ur-Gemeinde.
„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“
Diese Aussage sollten wir wichtiger nehmen als das merkwürdig blass auslaufende Happy End des weiterlebenden Lazarus, um den sich die Geschichte ja auch gar nicht mehr kümmert.
In dieser Selbst-Aussage – die spiegelbildlich doch unser Christusbekenntnis ist – ist aber gar nicht von einer Umkehrung des ordinären Todes die Rede, als sei der Tod ein Nichts und als folge daraus – nichts, sondern es heißt:
…der wird leben, auch wenn er stirbt…
Da ist also nicht die Rede von eine Leben ohne Tod– sondern die Rede ist von einem Leben trotz des Todes, dem Tode – der keinem von uns erspart bleibt – zum Trotz. Obwohl ihr sterbt, werdet ihr leben – wenn ihr an ihn glaubt und an den, der ihn gesandt hat.
Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt...
Das ist das Eine.
Aber dann folgt, scheinbar in ähnlichen Worten – doch in anderer Pointierung:
…und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.
Es gibt also ein Leben, auch ohne Glauben. Das aber ist tödlich. Es gibt ein Leben, das erst im Glauben vollends lebendig wird – und das wird nimmermehr sterben.
Das eigentliche Wunder in unserer Geschichte ist nicht die physische Erweckung des Lazarus – sein Todesmoratorium. Das eigentliche Wunder ist die Durchbrechung des Gesetzes des Todes überhaupt, nicht nur für den Lazarus und für eine kleine Weile – wie in dieser Geschichte, sondern durchbrochen für immer, offenbar geworden an Karfreitag und Ostern zugleich. Das Wunder ist also die unerhörte, für seine Zeit tödlich unerhörte Entstehung des Glaubens an Jesus Christus – oder wie Marta dies stellvertretend für die spätere Christenheit und ein paar Wochen oder Monate früher sagt:
Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.
Wunder gibt es immer wieder, so summen wir vor uns hin. Dieses Wunder gibt es nur ein für allemal – und davon leben wir. Nicht nur immer wieder – sondern: immer und ewig.
Amen.