Am Anfang aller Anfänge - Predigt über Psalm 111, 10 im ökumenischen Eröffnungsgottesdienst zum WS 2004/2005 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Robert Leicht

Psalm 111:10 Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang.

Liebe akademische Gemeinde!

Wir stehen am Anfang, eines Semesters, eines Studiums – aber was wollen wir anfangen?

Anfangen – das Wörtlein kann ja verschiedene Bedeutungen annehmen. Je nach dem, wie man es wendet, leuchtet es anders auf. Und das genaue Achten auf Worte – das gehört ja ohnedies zum Anfang eines jeden Studiums, sei es an der Universität, sei es über einem Bibeltext.

Nehmen Sie nur ein kleines Beispiel: Wie oft sagen wir vor uns hin: „Wer’s glaubt, wird selig!“? Aber war da nun ein „s“ dabei oder nicht – und ein Apostroph? Wer’s glaubt, wird selig – das sagen wir, wenn wir jemand den Finger zeigen wollen: Diese unsinnige Behauptung willst Du ernst nehmen? Sagen wir aber: Wer glaubt, wird selig!, dann meinen wir etwas ganz anderes. Im einen, im ersten Fall reden wir vom unpersönlichen Objekt der Aussage, von der mehr oder doch: weniger plausiblen Tatsachenbehauptung. Doch im anderen Fall reden wir vom Subjekt des Satzes, von der ganz persönlichen Haltung dieser Person namens „Wer“: Wer glaubt – wer also in einer bestimmten Beziehung steht, der wird selig.

Glauben, das heißt nämlich nicht abstrakt irgendwelche, möglichst auch noch weltfremde Thesen pauken und für richtig halten. Nein, glauben heißt etwas ganz anderes, nämlich: zu jemanden eine Beziehung aufnehmen, und zwar nicht nur eine lockere Beziehungskiste – sondern eine Beziehung, die mein Leben prägt und trägt. Glauben heißt dann: Treue halten. Eine Haltung also zu meinem Gegenüber, eine Haltung der Zuneigung, der Liebe gar, ja sogar – so stark kann eine Beziehung sein! –  der Ehrfurcht. Wer – so – glaubt, wird selig.

Aber pardon, wir sind abgeschweift – und damit paradoxerweise etwas zu schnell zum Kern der Sache vorgestoßen. Fangen wir also noch einmal an.

Anfangen – das ist ein Infinitiv, also eine Form des Verbums, welche die Handlung abstrakt, ohne Beziehung auf eine Person ausdrückt. Sobald wir aber das Wort „anfangen“ in eine Beziehung setzen, wird es lebendig. Dann heißt es nicht mehr nur leer: anfangen. Sondern konkret und persönlich: Ich fange an, Du fängst an, wir fangen an…

Wenn wir einen dann Schritt weitergehen und etwa sagen: „etwas damit anfangen“, bekommt die Rede sogar einer tieferen Sinn – und die Sache wird zur Sinnfrage.

Sie fangen an, ein Studium oder ein neues Semester. Aber was fangen Sie damit an? Wozu das Ganze? Auf solche Sinnfragen will uns der heutige Predigttext eine Antwort geben.

Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang.

Sie möchten Wissen erwerben und ausbauen. Aber werden Sie dadurch schon gescheit? Damit kein Missverständnis aufkommt: Weisheit ist ganz bestimmt auch nicht weniger als Wissen. Wer nichts weiß, wird niemals weise. Aber es kann einer sehr viel wissen – und darüber doch sehr dumm bleiben. Der weltberühmte katholische Theologe Karl Rahner soll – als man ihn einmal in die überaus reichhaltige Bibliothek eines Kollegen führte – gesagt haben: „Ja, großes Wissen ist die Rache derer, die nichts davon verstehen.“ Was also ist jene Weisheit, die für den Psalmisten so weit über das bloße Wissen hinausgeht – und die jedem Wissen erst seinen Sinn, seine Orientierung gibt, die also dafür sorgt, dass man mit dem Wissen wirklich etwas anfangen kann?

Für die frommen Juden und ihre Psalmisten fing die Weisheit dort an, wo der Mensch wusste (oder doch wenigstens ahnte), was er mit seinem Wissen, ja mit seinem ganzen Leben anfangen sollte. Weisheit – das hieß ihnen: Das eigene Leben und Wissen und Tun eingefügt zu sehen in einen Gesamtzusammenhang, in ein Sinngefüge.

Nun würde auch heute niemand mehr, der ernst genommen werden wollte, noch in einer bloß technisch und instrumentellen Weise über das Wissen reden – obwohl in manchen Redereien über die „Wissensgesellschaft“ und über das „Wissen als Rohstoff Nummer 1“ solche allein auf das Instrument und seine Verwertbarkeit gerichteten Denkmuster durchscheinen. Nein, zumindest wir aufgeklärten Menschen gehen mit unserem Wissen durchaus reflektiert um; „gebildet“ sagte man früher. Aber wie lernt man so etwas – das Reflektieren und die Bildung?

Reflektiert – das ist schon mal gut, jedenfalls besser als unreflektiert. Aber was heißt nun reflektieren? Nachdenken, schön. Aber wer über was? Ich denke über mich nach ..., das ist des Reflektierens Anfang. Aber ist das schon Weisheit? Nein! Wer nur immerzu selber über sich selber nachdenkt, dreht sich im Kreise – wie der Mensch, der in der Winternacht hinter einer Menschenspur hertappt, bis er nach vielen Stunden merkt, dass er fortwährend – hinter seiner eigenen Spur hergelaufen und folglich keinen Schritt weiter oder über seinen Spurkreis hinaus gekommen ist. Aus solcher Selbstreflexion kann durchaus ein Selbstbewusstsein erwachsen – aber es bleibt ein Selbstbewusstsein, das auf seinem eigenen Kopf steht. Das ist, zugegeben, mitunter immer noch besser, als eine sklavische Fremdbestimmung durch andere Menschen, die ihrerseits auf dem Kopfe gehen oder gar mit der Peitsche in der Hand herumlaufen.

Nun mögen Sie sogleich einwenden: Aber hören Sie mal, wenn jemand sich einer Idee verpflichtet, sich an einem hochstehenden Prinzip orientiert, dann tritt er doch aus seiner  kleinen Selbstbezogenheit schon heraus und baut zugleich eine Widerstandslinie gegen die Herrschaftsgelüste anderer auf – bis hin zum Widerstand gegen Diktaturen des Geistes und der Macht. In der Tat, das wollen wir nicht gering schätzen, im Gegenteil.  Es sind wirklich schon viele Idealisten und Vertreter eines philosophischen Prinzips in den Stunden der äußersten Herausforderung der Moral viel anständiger geblieben als so mancher Christ und Kirchenfürst. Aber es haben auch Prinzipienreiter und Ideologen aller Art die Welt – und Millionen von Menschen – tief in den Abgrund geritten. Oder sich zu Terroristen gemausert… Der Mensch kann wirklich vieles, ja nachgerade alles falsch machen und in sein Gegenteil verkehren: Prinzipien, Ideen und den edelsten Glauben.

Der entscheidende Unterschied zwischen einer hehren Idee oder einem hohen Prinzip einerseits und der Weisheit andererseits, von der der Psalmist spricht, ist aber der: Ideen oder Prinzipien, so schön sie sein mögen, bleiben notwendig immer abstrakt. Sie bleiben – wie wertvoll auch immer – stets Kopfgeburten. In Prinzipien kann man sich zum Beispiel nie verlieben. Sie haben einem zwar etwas zu sagen – aber sie können nicht mit uns sprechen. Mit der Weisheit des alten Testaments und dem Glauben der Christen aber verhält es sich anders. Gott spricht zu uns, mit uns – und er hält zu uns, in Treue – in Zorn und Treue. Wir können zwar einem Prinzip treu bleiben – aber das Prinzip kann nicht uns treu bleiben.

Die Furcht des Herrn – das also ist eine ganz persönliche, ganz lebendige, niemals abstrakte Beziehung. Und von dieser höchst persönlichen und konkreten Beziehung sagt der Psalmist, sie sei der Weisheit Anfang. Diese Beziehung, wenn man sich auf sie einlässt, gibt unserem ganzen Leben Grund und Boden. Und sie gibt all dem mühselig angehäuften Wissen eine lebensdienliche Orientierung, die seinen bloß zweckhaften Gebrauch lebensrettend aufsprengt.

Diese Weisheit zielt also auf das verblüffende Paradox einer befreienden Fremdbestimmung. Indem der fromme Jude und – ihm darin folgend – auch der fromme Christ sich in einer Beziehung zu seinem Gott sieht, in einer Beziehung der Ehrfurcht, erlebt er sich befreit vom Kreisen in sich selbst und vom Kuschen unter andere wie auch von der Kälte abstrakter Prinzipien.

Aber, könnte da jemand fragen, ist das nicht noch viel schlimmer? Unterwerfung unter einen Menschen oder unter eine menschliche Macht – das kann zwar sehr grausam, ja fürchterlich sein; aber spätestens mit dem Tod ist es vorbei, mit dem Tod des Täters oder des Opfers. Und wenigstens kann man den Diktator oder Tyrannen, den man fürchtet, verachten – und bei günstiger Gelegenheit vielleicht sogar umbringen. Aber Unterwerfung unter einen Gott – das hört ja nie auf, das findet keinerlei Grenzen – und dann soll man auch noch Ehrfurcht aufbringen!

Nun ist ja gar nicht zu bestreiten, dass es Formen der Religion gibt, die eine solche Tyrannis über Seele und Leib und über das ganze Leben ihrer Anhänger verhängen. Und Hand aufs Herz: Das hat es auch in den christlichen Kirchen und in der christlichen Kirchen- und Missionsgeschichte gegeben, und zwar nicht zu knapp.

Das aber ist nicht der Herr, von dem unser Predigttext – ja, von dem die Bibel der Juden und Christen von der ersten bis zur letzten Seite redet.

Hier gilt allemal der deutsche Volksmunde: Wie der Herr, so’s Gescherr! Damit wollen wir in der Regel sagen: Wenn der Chef schlampt, dann schlampen auch seine Angestellten. Aber zusammen mit dem Psalmisten geben wir dem selben Satz einen anderen – und dann doch: denselben – Sinn: Der Gott Israels und des Juden Jesus von Nazareth hat keine Lust, schon gar keine sadistische Lust an der Unterwerfung seiner Geschöpfe; und er hat übrigens auch gar keine Lust daran, dass wir uns seine Schöpfung und unsere Mitmenschen egoistisch und zerstörerisch unterwerfen, in der Politik – oder in der sogenannten Liebe.

Denn Gott ruft seine Geschöpfe um eines gelingenden Lebens willen – ins Leben. Seine Gebote und Ordnungen – und sie zu durchschauen, danach strebt die Weisheit: Sie sind keine lebenshinderlichen Knebelungen, sondern lebensförderliche Leitlinien.

Wie der Herr, so’s Gescherr! Diese befreiende Gottesherrschaft sieht man seinen befreiten Geschöpfen eben genauso gut an wie dem schlampigen Gesellen den schlampigen Meister. Und erst einem solchen souveränen, seinen Geschöpfen frei und treu zugewandten Gott kann sich dann das Geschöpf seinerseits in freier Ehrfurcht zuwenden. Und dann entsteht jene paradoxe, aber tragfähige und lebensförderliche Beziehung, in der beides gilt: Freiheit um Freiheit, Treue um Treue – und in der zugleich das schöpferische Gefälle zwischen Schöpfer und Geschöpf niemals auf den Kopf gestellt wird, auch nicht in den modernen Experimenten der Biomedizin oder in den Debatten der Bioethik.

Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang.

Wo also der Mensch sich in eine Beziehung rufen lässt zu diesem befreiend souveränen, zu diesem entgegenkommend treuen Gott, wo er sich heraushelfen lässt (und merken wir uns: das griechische Wort für Kirche – ekklesia – meint eben gerade dieses Herausgerufen-Sein) – wo also der Mensch sich herausrufen lässt aus all seinen Verstrickungen, da liegt der Weisheit Anfang.

Wir kennen alle diese Verstrickungen:

- in unseren verdammten, und verdammt kleinlichen Egoismus

- in unserer – auch: akademischen – Rechthaberei (davon sind auch unsere Lehrer keineswegs immer frei!)

- in unserem selbst gesetztem Ehrgeiz und Leistungsdruck, der uns ins Versagens- und Examensängste führt, so tief, dass wir gar mit niemanden mehr über unsere Nöte reden können

- in dem Selbstrechtfertigungsdruck, als ob wir imstande wären, für den ganzen Sinn unseres Lebens und Sterbens aus eigener Kraft aufzukommen, als ob der Mensch alles auf einmal sein könnte: Sein eigener Gesetzgeber, sein eigener Richter – und am Ende sein eigener Henker.

Verstrickungen sind eben etwas anderes als Beziehungen. Stricke sind etwas anderes Bindungen. Und wahre Beziehungen haben es an sich, dass sie den Menschen Luft zum Leben lassen, in Freundschaft und Familie, in Kirche und Welt. Das gilt am Anfang und Ende, also in erster Linie zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen. Und dann erst recht zwischen Dir und mir, zwischen Dir und Dir – und zwischen Euch allen.

Ja, wie soll das alles zugehen – im Alltag? Wird das nicht alles von unseren praktischen Erfahrungen gefährdet. Und was heißt das genau?

Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang.

Wir stehen ja erst am Anfang – und das immer wieder, bis auf unseren letzten Tag. Aber immerhin an einem Anfang, ja, an dem für den Psalmisten einzig möglichen Anfang.

Und Ihr alle? Ihr steht am Anfang eines Studiums, am Anfang eines neuen Semesters. Und fragt Euch, was Ihr damit anfangen sollt.

Fürchtet Euch nicht! Der Anfang ist nämlich längst gemacht – ob Ihr ihn finden – oder suchen – wollt?

Amen.