Frei, offen – und dann öffentlich! - Dankworte zur Entgegennahme des Hans-Ehrenberg-Preises in der Christuskirche in Bochum
Robert Leicht
Am Anfang steht beides – der große Dank und die wenig geringere Verlegenheit.
Sehr herzlich danke ich allen, die diesen Tag vorbereitet haben. Ich danke dem Kirchenkreis Bochum, der Hans-Ehrenberg-Gesellschaft, dem Verleger Hartmut Spenner, in Sonderheit der Jury des Hans-Ehrenberg-Preises für die Zuerkennung dieser Ehrung. Erst recht danke ich Ihnen, Bischöfin Margot Käßmann, dass Sie – ungeachtet Ihrer vielen anderen Verpflichtungen – die Aufgabe der Laudatio übernommen haben. Nicht zuletzt aber danke ich Ihnen allen, die Sie sich zu dieser Feierstunde aufgemacht haben. Wir alle verstehen unser Zusammensein vordringlich als einen Akt des Gedenkens an Hans Ehrenberg.
Damit ist aber schon die Verlegenheit, und zwar eine doppelte Verlegenheit hervorgerufen. Zum einen: Wer an Hans Ehrenberg erinnert, erinnert sich auch an all das, was seine Kirche ihm – und vielen anderen – schuldig geblieben ist. (Übrigens: So schön die Praxis ist, Hans Ehrenbergs durch diesen Preis seit dem Jahre 2000 immer wieder zu gedenken – bei einer etwas weniger feierlichen Gelegenheit würde ich dann doch gerne die Frage stellen: Weshalb eigentlich erst jetzt? Er ist doch schon seit langem tot…) Dieses Gedenken jedenfalls kann weder die Erinnerung noch die Gewissen besänftigen, auch nicht die der Nachgeborenen in unserer Pflicht, das peinliche Erbe unserer Vorgänger verantwortungsbewusst anzutreten. Das Gedenken muss unsere Gewissen schärfen, sonst bleibt die Erinnerung stumpf.
Zum anderen aber: Wessen Name auch immer im Zusammenhang mit dem Namen Hans Ehrenbergs genannt wird, muss sich fragen, ob dies unter den heutigen Umständen wirklich verdient sein kann. Schon die Frage zu stellen heißt, sie zu verneinen. Es hat wohl auch niemand von Ferne unterstellt, dass einer der Preisträger so war und sich so tapfer verhielt oder verhalten musste, wie Hans Ehrenberg dies war und tat. So kann der Preis also nur eine Mahnung und Ermutigung sein, einen eigenen Beitrag dazu zu leisten, dass es niemandem mehr in diesem Lande so ergehen möge wie Hans Ehrenberg.
Dazu bedarf es – heute jedenfalls – keiner Helden, sondern nur vieler Frauen und Männer, die verhindern, dass wir eines Tages wieder Helden brauchen: Die Wachsamkeit, das offene Wort, auch der Widerstand, jeweils aber: im Kleinen – das ist es, was eine freie Gesellschaft braucht. Keine dieser Aufmerksamkeiten ist, für sich genommen, eines Preises würdig – aber zusammengenommen verhindern sie, dass wir eines Tages einen hohen Preis bezahlen müssen.
Auch wenn ich Sie mit dem folgenden Geständnis enttäuschen sollte: Wenngleich ich in Artikeln (und dergleichen) unter anderem auch die Zivilcourage beschworen haben dürfte – zu keinem Zeitpunkt in meinem bürgerlichen oder beruflichen Leben war ich gezwungen, sie selber zu betätigen. Gut, man musste für seine Meinung immer wieder streiten, mitunter hartnäckig, gelegentlich listig, manchmal einfach nur ermüdend lange. Aber zu überwinden war dabei nie eine existentielle Furcht oder gar eine reale Gefahr, erst recht nicht für Leib und Leben, sondern allenfalls ( durch weitere Arbeit) die Lücke im eigenen Argument – sowie, da und dort, letztlich – sagen wir: unbegründeter Widerspruch im Kollegium. Drei, vier Mal (vielleicht!) in vielen Jahren habe ich hinterher, aber eben erst: hinterher erfahren, dass mir eine Ansicht oder Aktion an höherer, gar gräflicher Stelle eine Kerbe im Holz verschafft hat. Aber vor dergleichen Sanktionen konnte ich – freilich als Redakteur in zwei liberalen Zeitungen – schon deshalb keine Angst haben, weil ich sie gar nicht vorausgesehen habe, naiv, wie ich war, bin und hoffentlich bleibe...
Wenn es in der wahrlich nicht nur ruhmreichen Generations-Geschichte der 68er (es kostete manchmal ja auch Zivilcourage, ihrer da und dort ideologisch aggressiven Selbstherrlichkeit zu widerstehen) – wenn es in dieser Generationsgeschichte ein Ruhmesblatt gab, dann war dies – dort, wo es tatsächlich gepflegt wurde – das wirklich naive Vertrauen in die heilsame Kraft des argumentativen Streits. Der scheinbar nur technische Begriff des „Arguments“ zielt freilich, durchaus moralisch gestimmt, auf erstrittene Wahrheit, auf Rechtlichkeit und Anstand. Argumentativer Streit allerdings setzt zweierlei Bedingungen voraus: frei und öffentlich…
Ich darf hier vielleicht eine Fußnote einflechten: Wenn man sieht (und hört), was heutzutage alles frei und öffentlich verlautbart wird, will es mir bisweilen erscheinen, als gehöre inzwischen schon einige Zivilcourage und Selbstdisziplin dazu, gelegentlich – gut lutherisch gesagt: – einfach das Maul zu halten, anstatt hinter den von einer grellen, auf grobe Reize bedachten Öffentlichkeit gerne prämierten, prominenten Platitüden her zu plappern – je knalliger, desto breiter nachgedruckt. Diese Art von billigem, sorgfaltswidrigem Populismus, der im Grunde über seine intellektuellen Verhältnisse lebt, gibt es leider nicht nur in der Presse und in der Politik, sondern auch gelegentlich im Protestantismus.
Frei und öffentlich – so schön und wichtig diese normativen Stichworte sind: Ich zögere aus zwei Gründen, sie – wie bei der Themensetzung zu dieser Feierstunde – frank und frei als „protestantisches Prinzip“ auszubringen. Zum einen wäre dann doch zu fragen, wie es denn – und wann! – jeweils um die protestantische Praxis in Geschichte und Gegenwart bestellt war. Warum sind wir denn heute eigentlich beisammen zu einer Gedenkstunde? – wenn ich das einmal so fragen darf.
Sodann – und zweitens – lassen Sie uns doch einmal genauer nach dem biblischen Sitz dieser so trefflich gepaarten Worte – frei und öffentlich – schauen. Die lieben Menschen, die diesen Tag so gut vorbereitet haben, haben uns auf die dreimalige Evokation dieses „Prinzips“ in der Apostelgeschichte hingewiesen.
„Paulus und Barnabas aber sprachen frei und offen“ – heißt es da im Kapitel 13,46. Oder – wiederum von den beiden – später: „Dennoch blieben sie eine lange Zeit dort und lehrten frei und offen…“(Act 14,3) Oder von Appolos in Ephesus: „Er fing an, frei und offen zu predigen in der Synagoge“ (Act 18, 26) Wenn wir sorgfältig lesen, so werden wir Luthers Übersetzung durch das Wort „offen“ nicht vorschnell mit „öffentlich“ gleichsetzen. Man kann zum einen sehr wohl im nur sehr privaten Bereich sehr offen reden; zumeist tun wir es nur dort, hoffentlich wenigstens dort. Wir zeigen das nicht selten mit der Formulierung an: „Wenn ich das einmal ganz ungeschützt“ – also in Wirklichkeit: geschützt – „sagen darf…“ Man kann zum anderen aber durchaus sehr öffentlich reden – das jedoch keineswegs offen; aus dieser nicht unüblichen Praxis erklärt sich auch einiges am Zustand unserer Republik und Politik und Kirche.
„Offen“, das bezeichnet – wie auch die Übersetzung der genannten Passagen aus der Apostelgeschichte in andere Sprachen zeigt – eine bestimmte Haltung, im privaten wie im öffentlichen Bereich: Then Paul and Barnabas waxed bold – Da wurden Paulus und Barnabas mutig. Tunc constanter Paulus et Barnabas dixerunt – „standhaft“, das ist hier im Lateinischen die entscheidende Vokabel. Ein ander Mal: cum fiducia – mit Zuversicht! Oder im Französischen: Ils leur dirent avec assurance – „seiner Sache sicher, mit Gewissheit“ wäre hier zu lesen. Mit anderen Worten: „offen“ bezeichnet allein die Haltung, nicht das Forum. Und so wollen wir nicht der Verwechslung erliegen, wir seien dem von uns Erwarteten schon dann gerecht geworden, wenn wir nur möglichst viel in der Öffentlichkeit reden. Das allein wäre keinesfalls zureichend, ja sogar nachgerade schädlich, wenn es keine Rede aus der Haltung der Standhaftigkeit, des Mutes, der Gewissheit wäre – übrigens einer Gewissheit, die wiederum nicht verwechselt werden darf mit Selbstsicherheit; so wie eben auch das Selbstvertrauen sich durchaus vom Gottvertrauen unterscheidet.
Und anschließend ist dann zu entscheiden, ob es aus dieser Haltung, die uns stets Vorbild sein sollte, geboten ist, nun tatsächlich öffentlich zu reden.
Diese Unterscheidung, an der ich Sie nun mit einer gewissen Hartnäckigkeit – constanter, gewissermaßen – behaftet habe, wird nun erst recht deutlich, wenn wir uns jener Stelle in der Bibel erinnern, an der dieses normative Begriffspaar zuerst, jedenfalls kirchengeschichtlich, wenn auch nicht unbedingt textgeschichtlich zuerst auftaucht. Und damit wird zugleich die volle existentielle Herausforderung deutlich, die mich zögern macht, von einem „protestantischen Prinzip“, also von einer gewissermaßen standardisierten und damit abstrakten Regel zu sprechen.
Dazu haben wir in der Passionsgeschichte des Johannesevangeliums zu lesen, im 18. Kapitel:
John 18:19 Der Hohepriester befragte nun Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. 20 Jesus antwortete ihm: Ich habe frei und offen vor aller Welt geredet. Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und im Tempel, wo alle Juden zusammenkommen, und habe nichts im Verborgenen geredet. 21 Was fragst du mich?
Hier werden Haltung und Forum als streng geschiedene deutlich, gerade weil sie beide im Zusammenhang genannt werden: „offen“ – das heißt: avec assurance! Vor aller Welt, das – und nur das – heißt: „öffentlich“. Offen und öffentlich, das war – entscheidend – der Doppel-Charakter dieser Rede. (Die Elberfelder Übersetzung übrigens verwischt diesen Unterschied geradezu fahrlässig – so viel zum komparativen Vorteil moderner Übersetzungen. Sie schreibt nämlich vereinfachend: Jesus antwortete ihm: Ich habe öffentlich zu der Welt geredet…)
Vor allem: Der Charakter dieser Rede vor Pilatus – und damit sind wir ganz nahe beim Gedenken auch an Hans Ehrenberg! – war die einer prozessualen Verteidigungsrede im Zustand der Verfolgung – und des von der ganzen Welt, auch von Petrus und von den Kirchenleitungen, Im-Stich-gelassen-werdens. Mochte das Leben in den Berichten der Apostelgeschichte keineswegs ohne Gefahren gewesen sein – so stehen diese Berichte doch im Kontext einer Ausbreitungs- und Erfolgsgeschichte. Die Ursprungsreihe aber, nämlich: frei, offen und öffentlich – bezeichnet an ihrem originären Sitz nicht nur die Standhaftigkeit in der Verfolgung, sondern ist zugleich die prozessuale, wenn auch am Ende wirkungslose Rückfrage in einem tödlichen Prozess: Was eigentlich hätte sich jemand vor dem forum internum vorzuwerfen, der diese den Menschen freundlich zugewandte Lehre vorträgt, sofern er dies nur frei, offen und öffentlich tut – also ohne jeden Anspruch auf eine nackte Macht, die sich, je unverhüllter sie auftritt, gerade den offenen, den wehrlos nackten Diskurs verweigert, ja: die ihn unterdrücken muss, um ihr Gesicht und ihre Gewalt zu wahren? Was also hätte sich so jemand vor dem forum internum vorzuwerfen, obwohl er – und dies zu Unrecht! – vor dem forum externum verfolgt, angeklagt und schließlich hingerichtet, genauerhin: ermordet wird? Wer solche Fragen stellt, stellt freilich auch peinliche Fragen an die christliche Missionierungsgeschichte.
Mit anderen Worten: Frei, offen und öffentlich – diese normative Kriterien-Kette taugt nicht als Ausweis der ecclesia triumphans, schon gar nicht als zufriedenes Selbstlob der verbürgerlichten Kirche, sondern sie verweist zuallererst auf die Demut der Treue in der Verfolgung.
Wir brauchen heute keine Helden, seien wir froh darum.
Wir gedenken der Märtyrer, wir gedenken der Zeugen wie Hans Ehrenberg – nicht um uns mit ihnen zu zieren oder gar mit ihnen zu vergleichen, sondern allein als Beschämte.
Ihr Opfer und Leid mahnt uns, nun in unserer gegenwärtigen freizügigen Bequemlichkeit das Unsere, das wenige Unsrige zu tun – bescheiden, vor allem: beizeiten, frei, stets offen (avec assurance, constanter, vor allem: in der fiducia Dei), auf dass solche Opfer nicht mehr gefordert werden können und müssen.
Allein aus solcher Demut erwächst das Mandat, dies auch öffentlich zu tun.