"Der Tod – Grenze oder Macht?" - Vortrag beim Tag der Geisteswissenschaften der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Wolfgang Huber

Überblick:

I. Nach dem Tod fragen

II. „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“

III. „You can never be too dead for resurrection“. Tod und Auferstehung

IV. „Wie möchten Sie sterben?“ Umgang mit dem Tod heute

I. Nach dem Tod fragen

Nach dem Tod zu fragen, hieß im Zeitalter der Metaphysik, danach zu fragen, was nach dem Leben kommt. Im Vordergrund stand der Zustand nach dem Leben; die Antwort fand sich in der Aussage, dass mit dem Tod Leib und Seele voneinander geschieden werden und der Seele Unsterblichkeit gewährt wird. Nach dem Tod zu fragen, heißt nach der Herrschaft der Metaphysik, danach zu fragen, wie der Tod im Leben gegenwärtig ist. „Die Gegenwart des Todes im Leben“ ist das Thema.  Im einen wie im andern Fall ist unter dem Tod allein der Tod des Menschen verstanden. Philosophisch ist  es der menschliche, näherhin der individuelle Tod des Menschen, der beim Nachdenken über den Tod in den Blick tritt. Theologisch wird man nicht verkennen, dass der Mensch in seinem Tod teil hat am Todesgeschick alles Lebendigen, wie er ja auch in seinem Leben beteiligt ist an der Lebendigkeit der Schöpfung im Ganzen. Dennoch bleibt es auch unter theologischer Perspektive dabei, dass es mit dem Tod des Menschen etwas Besonderes auf sich hat, weil der Mensch sich zu seinem Tod verhalten kann und muss. In diesem Sinn gilt für die Theologie wie für die Philosophie,  dass sie die Gegenwart des Todes im Leben zum Thema hat.

Doch in welchem Sinn ist der Tod im Leben gegenwärtig? Unter den verschiedenen Antworten auf diese Frage will ich in meinen Überlegungen zwei hervorheben: Der Tod ist im Leben gegenwärtig als Grenze oder als Macht.

Er ist gegenwärtig als Grenze, die der Mensch hinauszuschieben wie näher zu rücken wünschen kann; schließlich aber muss er sie akzeptieren. Für das vermeintliche, aber eigentlich beklemmende Hinausschieben haben wir in diesen Tagen am Beispiel Jassir Arafats ein öffentliches Beispiel erlebt. Es muss zu denken geben, wenn der Tod eines Menschen – der möglicherweise nach den Maßstäben des Hirntodkriteriums  schon eingetreten ist – aus politischen Gründen hinausgeschoben wird, bis Trauerfeier, Beerdigung, Nachfolge und wohl auch die Apanage für die Witwe geregelt sind. Gegenläufig gibt es auch den Wunsch, die Grenze näher zu rücken und einen früheren Todeszeitpunkt aus eigenem Willen zu bestimmen. Dafür bietet die Diskussion über die Möglichkeiten der Selbstbestimmung an der Todesgrenze – Patientenverfügung und aktive Sterbehilfe heißen die Stichworte – ein aktuelles Beispiel. Doch in Wahrheit geht es darum, diese Grenze mitsamt ihrer Unverfügbarkeit anzunehmen; darin liegt ein entscheidender Maßstab menschlicher Lebenskunst, die eben die Kunst des Sterbens einschließt und einschließen muss. „Leise hat unser Vater die Welten gewechselt“, so lautet eine Todesnachricht dieser Tage, in deutlicher Anknüpfung an das Bild der Grenze. Es war die Todesanzeige für den Historiker Josef Fleckenstein.

Aber zugleich ist der Kampf mit dem Tod bis zum heutigen Tag ein Kampf um die Macht. Der Macht des Todes will der Mensch die eigene Macht entgegensetzen. Nach dem die metaphysische Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele ihre Kraft für viele eingebüßt hat, soll die Unsterblichkeit  des Selbst an ihre Stelle treten. Zum einen knüpfen solche Vorstellungen an den Gedanken der Reinkarnation oder der Seelenwanderung an. Zum andern gewinnt – teilweise gewiss in abseitiger Form – der Gedanke einer technisch herstellbaren Unsterblichkeit an Boden. Menschen akzeptieren den – einstweilen noch unvermeidlichen – Tod dann nur als vorläufiges Ereignis und lassen sich kryokonservieren, um auf den Tag zu warten, an dem Wissenschaft und Technik über die Mittel verfügen, sie wiederzubeleben. Andere verknüpfen mit der Möglichkeit des reproduktiven Klonens die Vorstellung, in einem Klon ihrer selbst weiterleben zu können. Und diejenigen, die auf Nanotechnologie und Computertechnologie setzen, entwickeln eine „Immortalitäts-Technosophie“, der zu Folge noch in diesem Jahrhundert die klare Unterscheidung von Mensch und Computer aufgehoben und zugleich damit die menschliche Sterblichkeit überwunden werden soll.

Aber nicht nur in dem Bestreben, die Macht des Todes zu brechen, sondern auch im Leiden unter dem Tod begegnet die Erfahrung des Todes als Macht. Der Schmerz über den Tod eines andern wie die Furcht vor dem eigenen Tod zeigen, dass und wie der Tod eine Macht ist. Deswegen kann es auch nicht überraschen, dass tötende Gewalt nach wie vor als Mittel eingesetzt wird – weit über alles rationale Begreifen hinaus. Der Mord aus Rache, die Vorstellung von der Unentbehrlichkeit der Todesstrafe, terroristische Gewalt und die Wiederkehr des Krieges als Mittel der Politik – sie alle sind unterschiedliche Schattierungen des Versuchs, sich der Macht des Todes zu bemächtigen, um über andere Macht zu gewinnen. Die Erfahrung des Todes als Macht und der Umgang mit der Macht des Todes sind alles andere als überholt.

So sind der Tod als Grenze wie der Tod als Macht offenbar zwei wichtige Formen, in welchen der Tod im Leben gegenwärtig ist. Beiden will ich deshalb in einigen theologischen Spiegelungen  weiter nachgehen.

II. „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“

„Wir sind allesamt zum Tode gefordert, und da wird keiner für den anderen sterben, sondern ein jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muss für sich selbst geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir.“

Der das gesagt hat, war kein moderner Individualist, auch wenn es danach klingen könnte. Der das gesagt hat, war Theologe im 16. Jahrhundert. Martin Luther formuliert so, am 9. März 1522, in der ersten seiner berühmten Invokavit-Predigten.

Der Hintergrund ist schnell erläutert: Während Luther sich auf der Wartburg versteckt hält, brechen in Wittenberg Unruhen aus, die zum größten Teil mit der für viele Menschen unklaren Situation des neuen religiösen Aufbruchs zusammen hängen. Gegen den ausdrücklichen Rat seines Kurfürsten verlässt Luther die Wartburg und steigt in Wittenberg auf die Kanzel, erstmals am Sonntag Invokavit. Sieben weitere Predigten folgen, mit denen es Luther gelingt, den Ausbruch der Gewalt zu beenden.

Typisch für Luther ist es, dass er nicht unmittelbar das Thema der Unruhen vor Ort anspricht, sondern mit einer Kernfrage seiner Theologie beginnt. Die Frage heißt: „Wie kann ich im Kampf mit dem Tode bestehen?“ Luthers Verhältnis zum Tod ist also ein kämpferisches. Der Tod ist bedrohlich. Der Tod ist mächtig. Der Tod ist eine Macht. Und zwar eine Macht, die bekämpft werden muss. Es ist kein Zufall, dass Luther auf die gewaltige Macht des Todes zu sprechen kommt, wenn es um die ganz menschliche Gewalt in Wittenberg geht. Das hat etwas miteinander zu tun.

Ein vorreformatorisches Kirchenlied hat dies so in Worte gefasst: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“  Es geht zurück auf die Antiphon „media vita in morte sumus“ aus dem 11. Jahrhundert. Das heißt: Der Tod ist nicht nur etwas, das am Ende des Lebens auf uns wartet. Der Tod greift in das Leben ein. Er rückt uns schon nahe, wenn mitten im Leben etwas endgültig kommt und kein Ausweichen zulässt. Im Ende von Beziehungen. Wenn Lebenspläne zerbrechen. Im Aufmarsch von Krankheiten. In Kammern voller Kummer. Im Scheitern. Oder, mit den Worten Rainer Maria Rilkes:

„Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. /Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns.“

„Mitten in uns wagt er zu weinen.“ – „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ Da ist kaum ein Unterschied zwischen der Lyrik des 20., des 16. wie des 11. Jahrhunderts. Große Dichtung hat sich nicht gescheut, dies als eine Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, die die Zeiten überdauert.

Christliche Theologie hat die Mächtigkeit des Todes immer wieder umkreist. Der Tod sei der Sünde Sold, erklärt der Apostel Paulus.  Nicht die Endlichkeit des menschlichen Lebens als solche, sagt er damit, sondern die Bedrohlichkeit dieses Endes hängt mit der Selbstverkrümmung des Menschen zusammen, die er Sünde nennt, jener Abkehr von Glaube, Liebe und Hoffnung, die allein dem menschlichen Leben eine klare Orientierung und eine Verheißung verleihen können, die am Tod nicht zerbricht. Diese Vorstellung vom Tod als Macht begleitet – bei allen Variationen und Verschiebungen, die hier nicht zu erörtern sind – den menschlichen Umgang mit dem Tod. Der mittelalterliche Totentanz, hier in Berlin beispielhaft – und hoffentlich eines nicht zu fernen Tages auch wieder deutlicher – im Vorraum von St. Marien zu sehen, zeigt den Tod als unheimlichen Herrscher, der nach dem Leben des Menschen greift, ohne dass es ein Entrinnen gibt. Diese Vorstellung vom Tod als Macht erschließt eine besondere Wahrheit über den Menschen. Vor dem Tode sind alle Menschen gleich. Ob Kaiser oder Krüppel, ob Papst oder Jude: vom Tod wird jeder gleichermaßen ergriffen. Diese Gleichheit der Verschiedenen vor einer letzten Instanz hat Rückwirkungen auf den Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden. Sie enthält einen untergründigen Zug zu demokratischer Egalität, zu der Vorstellung, dass „ein Mensch eine Stimme“ haben müsse.  Und es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich umgekehrt deutlich zu machen, dass der Gedanke, einzelne könnten sich Unsterblichkeit kaufen, während die anderen der Sterblichkeit unterworfen blieben, auch mit der Erwartung entsprechender Vorrechte verbunden ist, wie weit hergeholt dieser Gedanke auch immer sein mag.

Doch kehren wir zurück zu dem Lied „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ Martin Luther hat dem vorgefundenen Hymnus zwei Strophen hinzugefügt. In einer dieser Strophen fragt er: „Wo solln wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben?“ Das Gefühl der Bedrohtheit kommt zur Sprache. „Wo bleiben?“ ist noch existenznäher gefragt als „Was bleibt?“. Der Tod ist hier die härteste Probe. Wer auf die eine Frage antwortet „Nichts bleibt!“,und erst recht, wer auf die andere Frage antwortet: „Nirgendwo!“, spielt mit unabsehbaren Konsequenzen, kokettiert am Rande des Abgrunds mit eben diesem Abgrund. Aber hart am Abgrund gefragt werden muss schon, wenn tragender Grund gefunden werden soll, auf dem der Macht des Todes Paroli geboten werden kann.  Luther antwortet so: „Wo solln wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben? – Zu dir, Herr Christ, alleine.“ Er beruft sich auf das Grunddatum des Glaubens: auf das Bekenntnis zum Tod des Todes.

III. „You can never be too dead for resurrection“. Tod und Auferstehung

„Durch seinen Tod wird der Tod getötet“, sagt Luther wiederholt vom Tod Jesu von Nazareth. Der Tod Christi wird als „Tod des Todes“ verstanden. Das nötigt dazu, theologisch nicht allgemein, sondern konkret, nicht abstrakt, sondern in einer unüberbietbaren Bestimmtheit vom Tod zu reden. Unüberbietbar ist diese Bestimmtheit deshalb, weil am Tod eines Menschen abgelesen wird, was vom Tod überhaupt zu sagen ist, und weil am Tod dieses einen Menschen darüber hinaus abgelesen werden soll, wie Gott zum Tod des Menschen steht. Das erklärt, warum die frühen christlichen Glaubensbekenntnisse diesem Zusammenhang so breiten Raum einräumen, einen im Verhältnis zur Kärglichkeit ihrer Aussagen über das Leben Jesu geradezu üppigen Raum: Von Jesus Christus sagen sie – beispielsweise in den Worten des Apostolischen Glaubensbekenntnisses – , er sei „gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel.“ Der Karfreitagstod ist auf der einen Seite ein Tod wie jeder andere; das Todesgeschehen selbst ins Unermessliche zu steigern – wie Mel Gibsons Film das tut – führt von daher eher in die Irre. Aber gerade in seiner Verwechselbarkeit – zur gleichen Zeit starben auch zwei andere am Kreuz, rechts und links von Jesus – gewinnt dieser Tod etwas Einmaliges, weil Gott sich mit dem toten Jesus identifiziert. An diesem einen Menschen nimmt er dem Tod die Macht; an diesem einen Menschen durchbricht er den Zusammenhang von Sünde und Tod, von Selbstverkrümmung des Menschen und Todverfallenheit. Und dies geschieht, so bekennt es die Christenheit seitdem, allen Menschen zu Gute. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort; darum kreist das christliche Bekenntnis zur Auferstehung Christi wie die Hoffnung auf eine allgemeine Auferstehung.

Würdigen kann man diese Wendung nur, wenn man sie nicht als selbstverständlich nimmt. Im Alten Testament ist die Vorstellung einer Auferstehung der Toten keineswegs geläufig. In frühen Texten wie beispielsweise dem 88. Psalm kommt deutlich zum Ausdruck, dass man damit rechnete, mit dem Tode sei alles aus. Alles, sogar die Beziehung zu Gott. Leben ist Beziehung, Tod Beziehungslosigkeit, das Ende aller Verhältnisse, auch des Gottesverhältnisses. Erst langsam kommt in den alttestamentlichen Texten die Überzeugung zum Durchbruch, dass die Macht und die Liebe Gottes auch mit dem menschlichen Tod nicht am Ende sind. Diese Überzeugung übersteigt alle Erfahrung und ist deshalb schwer in Sprache zu fassen. Spätere biblische Texte versuchen das in Bildern zu sagen, zum Beispiel durch das Bild des Aufstehens vom Schlaf. Aufstehen, oder - im Deutschen noch etwas intensiver – auf-er-stehen, mit dieser Metapher versuchen alttestamentliche Beter und prophetische Stimmen dann auszudrücken, was eigentlich unsagbar ist: Es gibt ein Leben nach dem Tod. Das zwölfte Kapitel im Buch des Propheten Daniel ist eines der herausragenden Beispiele. Dabei ist es für alttestamentliches Denken deshalb besonders schwer, diese Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, weil es von einem ganzheitlichen Bild vom Menschen ausgeht. Es teilt den Menschen nicht in Leib und Seele auf. Es sieht ihn vielmehr als leib-seelische Einheit. Auf ihn bezieht sich der hoffnungsvolle Blick auf den Tod. Der Tod verliert seine Macht, indem die Hoffnung über ihn hinausführt.

Im Neuen Testament gewinnt diese Hoffnung eine bestimmte Kontur. Sie knüpft sich an den gekreuzigten Jesus. Von ihm bekennen die frühen Christen: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden.“ Unter Berufung auf ihn hoffen sie auf „die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“. Sie fragen, wie Franz Kamphaus neuerdings wieder unterstrichen hat, nicht nach einem andern Leben, sondern nach der Bewahrung, Erneuerung, Vollendung dieses Lebens.  Es geht beim Bekenntnis zum Auferstandenen und bei der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten nicht um zusätzliche Bekenntnisinhalte und additive Glaubensleistungen, sondern lediglich um das Vertrauen auf Gott. Nicht die Ewigkeit des Geistes, die Unsterblichkeit der Seele, die Unzerstörbarkeit der Materie oder der ewige Kreislauf der Natur werden hier in Anspruch genommen. Nur das Vertrauen auf Gott sucht Sprache. Menschen fragen, was es bedeutet, dass sie ihr Vertrauen ganz und gar an den Gott hängen, der sich in Christus offenbart hat. Auch was es für ihren Tod bedeutet, fragen sie. Und die Antwort heißt: Er behält nicht das letzte Wort. Im Grunde kommen alle theologischen Aussagen des Neuen Testaments von dieser Überzeugung her: die Umkehr zu einem neuen Leben,  die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft durch die Taufe, die Rechtfertigung allein aus Glauben – und eben auch: die Auferstehungshoffnung.

Freilich kann der Herrschaft des Todes nicht einfach die Wiederkehr des Lebens entgegengesetzt werden, sondern nur ein neues Leben. Deshalb muss auch mit der Auferstehung anderes gemeint sein als die Rückkehr in das Leben. Das Neue Testament kennt auch eine solche Rückkehr in das Leben; die Auferweckung des Lazarus ist dafür das wichtigste Beispiel. Von ihr ist die Auferweckung Jesu deutlich unterschieden. Es geht nicht um eine Rückkehr in das bisherige Leben. Es soll nicht der Anschein erweckt werden, als sei nichts gewesen. Jesu Tod am Kreuz ist nicht eine kurze Unterbrechung, nach der alles so weitergehen kann wie zuvor. Das christliche Bekenntnis unterstreicht das besonders durch den descensus ad inferos, den Hinabstieg in das Reich des Todes. Deshalb hängt für die liturgische  Erinnerung dieses Geschehens und für seine Vergegenwärtigung im Kirchenjahr so viel daran, ob man den Samstag zwischen den Tagen der Kreuzigung und der Auferstehung als Karsamstag oder als Ostersamstag versteht, als Tag des Verharrens unter der Todesgewalt oder als vorweggenommenes Osterfest. Nur das erste wird dem inneren Sinn gerecht, in dem diese drei Tage – Karfreitag, Karsamstag und Ostersonntag – sich zueinander verhalten. Die von der Auferstehung des Lazarus unterschiedene Auferstehung Jesu meint dann aber den Übergang in eine andere Sphäre, die der raumzeitlichen Struktur enthoben ist. Mit dem Bekenntnis zur leiblichen Auferstehung bekennt sie sich zu einer Überwindung des Todes, die auch die Leiblichkeit transzendiert.

 Das ist der Zusammenhang, in dem die frühe Christenheit ihr Bekenntnis wieder und wieder in Aussagen zum Verhältnis von Tod und Macht gefasst hat, beispielsweise in dem Bekenntnis zu „Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“  Aber es ist dabei deutlich bewusst, dass der Tod auch bleibt, wenn er nicht mehr die Macht hat. Er bleibt als eine dem Menschen gesetzte Grenze. In beiden Bedeutungen des Wortes Tod haben wir es mit einer solchen Grenzerfahrung zu tun – sowohl wenn wir den Tod als Totsein, also als den Zustand nach dem Leben, als auch wenn wir ihn als das Todesereignis, also als den Übergang vom Leben zum Nicht-mehr-Leben verstehen. Die christliche Tradition hat sich durch ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Tod als Macht die Zugänge zu diesem Charakter des Todes als Grenze keineswegs verschlossen.

Die Parallele zwischen Geburt und Tod hat bei dieser Deutung des Todes als Grenze Pate gestanden. Auch dies – wie schon die Betrachtung des Todes als Macht – will ich mit einem Zitat von Martin Luther belegen. In seinem „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ gibt Luther zwanzig Ratschläge zu einem angemessenen Umgang mit dem Tod. Kurfürst Friedrich von Sachsen hatte ihn darum gebeten. Als ich mir diesen Text wieder vergegenwärtigt habe, stand mir das Bild des alten Peter Ustinov vor Augen, der im Luther-Film als Friedrich der Weise seine letzte Rolle spielte. Unter den vielen Gestalten, in denen Ustinov Menschen verzaubern konnte, hatte er nun zuletzt auch noch die Gestalt dieses Reformationsfürsten angenommen – und zwar in einer, wie ich finde, unvergesslichen Weise.

Von den zwanzig Ratschlägen, die Luther gibt, zitiere ich nur den dritten. Er lautet:

„Wenn so jedermann Abschied auf Erden gegeben ist, dann soll man sich allein zu Gott richten, wohin der Weg des Sterbens sich auch kehrt und führt. Und hier beginnt die enge Pforte, der schmale Steig zum Leben. Darauf muß sich ein jeder getrost gefaßt machen. Denn er ist wohl sehr eng, er ist aber nicht lang. Und es geht hier zu, wie wenn ein Kind aus der kleinen Wohnung in seiner Mutter Leib mit Gefahr und Ängsten geboren wird in diesen weiten Himmel und Erde, das ist unsere Welt: ebenso geht der Mensch durch die enge Pforte des Todes aus diesem Leben. Und obwohl der Himmel und die Welt, darin wir jetzt leben, als groß und weit angesehen werden, so ist es doch alles gegen den zukünftigen Himmel so viel enger und kleiner, wie es der Mutter Leib gegen diesen Himmel ist. […] Aber der enge Gang des Todes macht, daß uns dies Leben weit und jenes eng dünkt. Darum muß man das glauben und an der leiblichen Geburt eines Kindes lernen, wie Christus sagt: ‚Ein Weib, wenn es gebiert, so leidet es Angst. Wenn sie aber genesen ist, so gedenkt sie der Angst nimmer, dieweil ein Mensch geboren ist von ihr in die Welt.’ (Joh 16,21). So muß man sich auch im Sterben auf die Angst gefaßt machen und wissen, daß danach ein großer Raum und Freude sein wird.“

Neben die Parallelisierung zwischen Geburt und Tod tritt der Vergleich zwischen dem Tod und dem Schlaf. Auch er hat dabei geholfen, den Tod als Grenze zu verstehen, besonders anschauungsstark bei Paul Gerhardt, der aus eigener Todeserfahrung auch der Todeserfahrung anderer bis zum heutigen Tag Sprache verliehen hat. Kein Abendlied konnte er dichten, ohne den Abend als Grenze zwischen Tag und Nacht zur Todesgrenze ins Verhältnis zu setzen. Doch „Nun ruhen alle Wälder“ ist dafür das Beispiel schlechthin:

„Der Tag ist nun vergangen, / die güldnen Sternlein prangen / am blauen Himmelssaal; / also werd ich auch stehen, / wenn mich wird heißen gehen / mein Gott aus diesem Jammertal. // Der Leib eilt nun zur Ruhe, / legt ab das Kleid und Schuhe, / das Bild der Sterblichkeit; / die zieh ich aus; dagegen / wird Christus mir anlegen / den Rock der Ehr und Herrlichkeit. // Das Haupt, die Füß und Hände / sind froh, dass nun zum Ende / die Arbeit kommen sei. / Herz, freu dich, du sollst werden / vom Elend dieser Erden / und von der Sünden Arbeit frei. // Nun geht, ihr matten Glieder, / geht hin und legt euch nieder, / der Betten ihr begehrt. / Es kommen Stund und Zeiten, / da man euch wird bereiten / zur Ruh ein Bettlein in der Erd.“

Der Tod als Grenze oder der Tod als Macht: aus einer Perspektive des Glaubens treffen beide Betrachtungen sich darin, dass sie den Tod als Inbegriff menschlicher Zeitlichkeit ins Verhältnis setzen zur Ewigkeit Gottes. Sie rücken die Endlichkeit des menschlichen Lebens ins Licht der Unendlichkeit Gottes. Nicht um eine Verlängerung des irdischen Lebens geht es dabei, sondern um ein Geborgensein des irdischen Lebens in vollkommener Gemeinschaft mit Gott. Dieses ewige Leben beginnt schon immer dort, wo Menschen sich auf die Wirklichkeit Gottes einlassen, die Liebe ist; und wo immer sie sich dieser Wirklichkeit verschließen, gewinnt der Tod Macht über sie. Auch für den, der meint, der Macht des Todes schon entronnen zu sein und mit ihm nur noch als einer Grenze zu tun zu haben, kann doch diese Macht wiederkehren. Aber sie behält nicht das letzte Wort.

IV. „Wie möchten Sie sterben?“ Umgang mit dem Tod heute

Von einer Lebenskunst, die eine Kunst des Sterbens einschließt, scheinen wir weit entfernt zu sein. Immer wieder wird erweist der Tod seinen Würgegriff und greift nach der Freude am Leben. Immer wieder bestätigt sich die Einsicht, dass sich am Leben nur freuen kann, wer zu sterben weiß. Wer sich ans Leben klammert, weil er es unentwegt von der Macht des Todes bedroht sieht, wird sich dieses Lebens nicht freuen können. Wer weiß, dass dem Tod die letzte Macht genommen ist, wird an der Hoffnung für dieses Leben festhalten, so lange es etwas zu hoffen gibt, sich aber an die Hoffnung über dieses Leben hinaus halten, wenn es Zeit ist, dieses Leben aus der Hand zu legen.

Solche einfachen Einsichten neu zu erwägen, ist heute angebracht, in einer Zeit, in der sich neue Möglichkeiten des Umgangs mit menschlichem Leben und Sterben mit neuen Unsicherheiten im Verhältnis zu Leben und Tod verbinden. Dass wir den Tod neu definieren – „Hirntod“ heißt das Stichwort dafür - , bedeutet nicht, dass wir mit ihm besser umzugehen wissen als zuvor. Dass die menschliche Lebenserwartung dank der Einsichten und Erfolge der Medizin wächst, heißt noch nicht, dass wir wissen, wann die Bewahrung des Lebens in eine bloße Verlängerung des Sterbens umschlägt und wie die Würde des Menschen dann auch im Sterben zu bewahren ist. Vieles an diesen Fragen aber entscheidet sich daran, wie wir die Hoffnung für dieses Leben und die Hoffnung über dieses Leben hinaus zueinander ins Verhältnis setzen.

Vor etwa einem Monat bin ich von einer Zeitung mit 14 Fragen konfrontiert worden, die einer entsprechenden Fragensammlung von Max Frisch entnommen sind.  In der achten Frage hieß es: „Was stört Sie an Begräbnissen?“ Ich habe spontan geantwortet: „Der Tod.“ Der Tod, so sagte ich damit ohne weiteres Nachdenken, bleibt fremd und befremdlich, unheimlich und immer wieder von neuem bedrohlich.

In dem anderen Fragebogen, der sich mit dem Namen Marcel Prousts verbindet, weil dieser ihn gleich zweimal ausgefüllt hat, kommt einer Frage eine besondere Bedeutung zu: „Wie möchten Sie sterben?“ Allen anderen Fragen kann man sich, wenn man will, spielerisch entziehen, dieser kaum. „Wie möchten Sie sterben?“ Der Arzt und Kunstsammler Reiner Speck hat einmal auf diese Frage geantwortet: „Ohne es zu merken, in der Bibliothek“. So wie er möchten 95 Prozent der deutschen Bevölkerung mitten aus dem Leben in den Tod übergehen, zu Hause, in vertrauter Umgebung, in der Nähe vertrauter Menschen. Dieser Wunsch geht aber nur für die wenigsten Menschen in Erfüllung.

In Deutschland sterben in jedem Jahr ungefähr 900.000 Menschen; weniger als ein Drittel von ihnen stirbt in der vertrauten Umgebung. 70 Prozent dagegen sterben in Krankenhäusern und Pflegeheimen. In vielen Fällen ist das notwendig. Doch die große Zahl ist auch ein Ausdruck für die Verdrängung des Todes, dafür dass wir mit ihm nur schlecht umgehen können. Wir suchen Zuständige für das Sterben; so wird das Sterben an den Rand gerückt, verdrängt, zum Missgeschick erklärt, das mitten im Leben keinen Platz hat. Woody Allen hat diese Verdrängung aphoristisch so auf die Spitze getrieben: „Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte bloß nicht dabei sein, wenn es passiert.“ Bloß nicht dabei sein – deutlicher kann man Verdrängung nicht ausdrücken.

Dass die Achtung vor der Würde des Menschen das Bemühen um ein menschenwürdiges Sterben einschließt, ist noch viel zu wenig ins Bewusstsein gerückt. Sage mir, wie Du mit dem Sterben umgehst; und ich sage Dir, wie Du es mit dem Leben hältst. Oder anders gesagt: Wie eine Gesellschaft die Würde der Sterbenden achtet, zeigt auch etwas davon, wie sie über die Menschenwürde im Ganzen denkt.

„Der Umgang einer Kultur mit ihren Sterbenden und Toten erlaubt immer auch einen sicheren Rückschluss auf ihre Einstellung zu ihren Lebenden.“ So hat der Arzt Linus S. Geisler gesagt. Heute steht zur Debatte, ob wichtige Einsichten unserer kulturellen und religiösen Tradition als kritische Maßstäbe für den Umgang mit neuen technischen, auch medizintechnischen Möglichkeiten zur Geltung gebracht werden können oder ob sie wegen dieser neuen technischen Möglichkeiten aufgegeben werden müssen. Lebensverlängerung und Sterbehilfe, Sterbebegleitung und Behandlungsverzicht, Organentnahme und Organtransplantation sind viel verhandelte Beispiele für dieses Problemfeld.

Die gegenwärtigen medizintechnischen Entwicklungen gehören zu den großen Herausforderungen unserer Gegenwart, die uns immer wieder dazu nötigen, nach den ethischen Maßstäben zu fragen, die auch unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft nicht aufzugeben, sondern zu bewahren und zu erneuern sind. Zu ihnen zählt auch die Einsicht, dass die Würde des Menschen das Recht einschließt, in Würde zu sterben.

Es gibt eine Reihe von Versuchen, diese Einsicht unter den Bedingungen der modernen medizinischen Möglichkeiten wieder ins Recht zu setzen. Mit der Erweiterung medizinischer Möglichkeiten stellt sich die Frage neu, wie dem Recht eines Patienten, über den Einsatz von lebensverlängernden Maßnahmen am Lebensende selbst zu bestimmen, zur Anerkennung verholfen werden kann. Ein Ausgleich zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens wird, so bin ich überzeugt, nur diesseits der aktiven Sterbehilfe möglich sein. Der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zur Reform des Betreuungsrechtes unternimmt den Versuch, das Selbstbestimmungsrecht der Patienten am Lebensende zu stärken und die Rechtssicherheit des Instrumentes Patientenverfügung zu erhöhen. Doch wichtig ist in meinen Augen, dass auch dabei nur Sterbebeistand, verbesserte palliative Hilfe, gegebenenfalls bis an die Grenze einer passiven Sterbehilfe erlaubt sein kann. Im Blick auf die aktuelle Debatte füge ich hinzu: Bei der Vorstellung, dass man auch einen nur mündlich geäußerten, mutmaßlichen Willen einbeziehen kann, habe ich den Einwand, dass die Einschätzung der aktuellen Situation in Wahrheit an die Stelle der freiwilligen Einwilligung tritt und dann Betreuer, Bevollmächtigte oder Ärzte über das Leben des Patienten verfügen. Die zweite große Sorge ist, dass die Grenze zwischen Sterbebeistand und aktiver Sterbehilfe verwischt wird.

Die christlichen Kirchen sehen angesichts der medizinisch-technischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung auch bei schwersten Krankheiten und im hohen Alter in Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten eine Hilfe, auch am Lebensende gewährleistet zu wissen, dass der eigene und kein fremder Wille ausschlaggebend für die medizinische Behandlung ist. Deswegen haben sie bereits 1999 ein eigenes Formular, die „Christliche Patientenverfügung“, herausgegeben. Dass sie bis heute über 1,5 Millionen Mal abgerufen worden ist, zeigt an, wie hoch das Bedürfnis nach Information und Vorsorge unter Berücksichtigung der christlichen Sichtweise ist.

Ich trete dafür ein, dass bei einer Erkrankung, in der der Patient nicht mehr entscheiden kann, sein in der Patientenverfügung im voraus geäußerter Wille genauso geachtet wird wie der Wille eines einwilligungsfähigen Menschen. Zwar ist richtig, dass man sich in manche Situationen vorab nicht genau hineinversetzen kann. Und es ist zu wünschen, dass man in der Entscheidungssituation nicht auf eine Patientenverfügung angewiesen ist, die vor allzu langer Zeit und unter gänzlich anderen Umständen entstand. Aber daraus folgt nicht, dass eine Patientenverfügung nicht zu respektieren wäre. Vielmehr ist genau zu prüfen, ob der in der Patientenverfügung festgelegte Wille hinreichend präzise formuliert ist und auf die konkrete Situation passt.

Dieses Beispiel zeigt, was die Beschäftigung mit dem Tod uns konkret zumuten kann: Der Betroffene muss sich mit einer Situation auseinandersetzen, die viele lieber verdrängen; er muss Krankheit, Sterben und Tod nicht nur als Geschehen bei anderen, sondern im Blick auf sich selbst ins Auge fassen. Die Vertrauensperson muss eventuell entscheiden, wann eine Behandlung beendet wird und der Patient stirbt. Andererseits befreit sie das Wissen über seine Wünsche davon, auf den schwer zu ermittelnden „mutmaßlichen Willen“ des Betroffenen zurückgreifen zu müssen. Der Arzt muss den Willen eines andern und die eigene  Gewissensüberzeugung  zueinander ins Verhältnis setzen.

Insofern ist eine Patientenverfügung ein Instrument, das nur nach gründlicher Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen und nach intensiver Beratung durch einen Arzt eingesetzt und angewandt werden sollte. Zwar dient sie der eigenen Selbstvergewisserung, der Entlastung der Vertrauensperson und der Entscheidungshilfe für das ärztliche Handeln. Aber Patientenverfügungen sind keine Wundermittel gegen die Schrecknisse, Belastungen und Schmerzen der letzten Lebensphase. Richtig angewandt können sie jedoch dazu beitragen, dass der Mensch sterben darf, wie er es bestimmt hat. Dies dient hoffentlich auch dazu, den Ruf nach aktiver Sterbehilfe zum Verstummen zu bringen.

Ein anderes Beispiel für einen sich verändernden Umgang mit dem menschlichen Sterben ist die Hospizbewegung.  Sie begehrt gegen die Verdrängung des Todes aus unserer Wahrnehmung auf. Sie will dazu helfen, dass Sterben wieder als eine Phase des Lebens und nicht etwa als ein vermeidbares Geschehen mit dem Missgeschick des Todes als Resultat verstanden wird. Die Ausweitung der Hospizarbeit und das Angebot, sich mit der Möglichkeit des Patiententestaments vertraut zu machen, bilden zusammen eine wichtige Antwort auf die Debatte um die aktive Sterbehilfe.

Der gestalteten Sterbebegleitung, für die Pflege und Gebet, leibliche und spirituelle Nahrung eine Einheit sind, entspricht in unserer Tradition eine bestimmte Weise des Umgangs mit dem Tod. Die Aussegnung von Gestorbenen, die Rituale der Bestattung und die Achtung der Grabesruhe zeigen, dass die Würde der menschlichen Person auch mit dem Tode nicht ausgelöscht ist. Die christliche Hoffnung auf die Auferstehung der Toten ist ein sprechender Ausdruck dafür, dass diese Würde nicht mit dem Verfall der körperlichen Funktionen an ein Ende kommt; die Trauer und die bleibende Erinnerung an die Toten ist ein Abglanz dieser Hoffnung. Wenn am Grab der Leichnam eines Menschen Gott überantwortet und die Hoffnung auf die Auferweckung verkündigt wird, dann wird noch einmal jene Instanz angerufen, die nach christlichem Verständnis die Würde der menschlichen Person in ihrem unantastbaren Charakter verbürgt: Gott, nach dessen Bild der Mensch erschaffen wurde. Es wird daran erinnert, dass die Würde des Menschen maßgeblich mit seinem Verständnis als Geschöpf zusammenhängt. Wird er dagegen nicht mehr als Geschöpf, sondern nur noch als Schöpfer, nicht mehr als Empfänger, sondern nur noch als Stifter seiner eigenen Freiheit verstanden, dann verliert auch seine Würde ihren radikalen Charakter. Aus einer reinen Gabe wird sie zu einem eigenen Produkt des Menschen, zum Resultat menschlicher Tätigkeit, herstellbar und abschaffbar wie alle anderen Erzeugnisse menschlicher Produktivität auch. Gerade im Blick auf Sterben und Tod ist es nicht bedeutungslos, ob der Mensch als Gegenüber Gottes, als von Gott angesprochene und ihm antwortende Person, oder als von Gott gelöstes, als „absolutes“ Wesen verstanden wird.

Auch wenn es in diesem Kreise so klingen mag, als wollte ich Eulen nach Athen tragen: Ich halte es für nötig, Grundfragen unseres Menschenbildes wieder mehr Raum zu geben. Heute geht es darum, nicht einer „Ethik der Interessen“ kampflos das Feld zu überlassen, die sich nur an der wirtschaftlichen Nützlichkeit orientiert, sondern uns auch in einer von Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie geprägten Gesellschaft an einer „Ethik der Würde“ auszurichten. Sie tritt dafür ein, dass der Mensch stets – also auch im Sterben – als Zweck in sich selbst und niemals bloß als Mittel zum Zweck betrachtet wird. Das Sterben nicht zu verdrängen ist das eine. Das andere aber ist, auch das Sterben an der Würde des Lebens teilhaben zu lassen und dafür einzutreten, dass der Respekt vor der Würde des Menschen auch seinen Tod umschließt.