Predigt am Ewigkeitssonntag (Offenbarung 21,1-7)

Wolfgang Huber

Gedächtniskirche zu Speyer

Es gilt das gesprochene Wort!

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein. 

(Offenbarung 21,1-7)


Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

I.
„Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen – kehr’s auch um: Mitten in dem Tode sind wir vom Leben umfangen“.

Von Martin Luther stammt dieses Spiel mit den Worten eines berühmten Kirchenliedes.  Ein Motto für den Totensonntag, den wir eben deshalb auch den Ewigkeitssonntag nennen. Ein Motto auch für den heutigen Schritt in einem Jubiläumsjahr, in dessen Mitte Luthers reformatorische Tat und ihre Folgen stehen. An diesem letzten Sonntag des Kirchenjahres verbinden sich für uns ungesucht und ungewollt zwei Protestationen miteinander: die Protestation von Speyer im Jahr 1529, deren Jubiläum Sie in diesem Jahr so vielfältig begehen; und ich begehe es von Herzen gern mit Ihnen – und die Protestation gegen den Tod, mit der das Kirchenjahr seinen Abschluss findet; und es ist besonders wichtig und gut, an diesem Tag miteinander Gottesdienst zu feiern, um die Erfahrung des Todes in das Licht von Gottes Ewigkeit zu rücken. Beides bündelt sich in Luthers Umkehrung: „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen – kehr’s auch um: Mitten in dem Tode sind wir vom Leben umfangen.“

Es sind Worte eines vorreformatorischen Kirchenliedes aus dem 11. Jahrhundert, auf die Luther hier anspielt. Der Tod mitten im Leben war den Menschen nahe – im 11. wie im 16. Jahrhundert, in Jahrhunderten von Hunger und Krankheit, Pest und Krieg. Mitten im Leben vom Tod umfangen - das heißt: Der Tod ist nicht nur etwas, das am Ende des Lebens auf uns wartet. Der Tod greift in das Leben ein. Wenn ein Mensch, der uns nahe stand, stirbt und der Alltag neu gelernt werden will, dann zeigt sich, wie dicht der Tod dem Leben ist. Er rückt uns nahe, wenn mitten im Leben etwas endgültig kommt. Er meldet sich – wenn auch nur in Andeutungen – an den Wendepunkten unseres Lebens, an denen kein Ausweichen mehr möglich ist: Im Ende von Beziehungen. Wenn Lebenspläne zerbrechen. Im Aufmarsch von Krankheiten. In Kammern voller Kummer. Im Scheitern.

Aber: „Kehrs auch um: Mitten in dem Tode sind wir vom Leben umfangen.“ Diese Umkehrung der Verhältnisse ist ein Zeugnis der Freiheit. Einer Freiheit, der selbst das Angesicht des Todes keinen Schrecken einjagt. Einer Freiheit, von der die biblischen Schriften erzählen. Freiheit, die über das Bestehende hinausblickt.

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Johannes, der Visionär, gibt in kraftvollen Bildern jener Gewissheit Form und Klang, die um die Relativität alles Irdischen weiß. Eindrückliche Bilder, hell und warm und so farbenfroh, dass sie eine prächtigen Kontrast bilden zu den eher zarten Farben der Novembertage. „Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen“. Gott nimmt Wohnung mitten unter den Menschen. Darauf verlassen wir uns; denn Gottes Gegenwart in unserer Mitte hat einen Namen: Jesus von Nazareth. „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“ Johannes verkündet Hoffnung über allem Leiden und Grauen der Welt. So sind seine bildstarken Worte zu allen Zeiten ein bergender Zufluchtsort gewesen. Verfolgte und gequälte Christen dachten zu allen Zeiten an diesen Ort ohne Tränen und ohne Geschrei. Fromme Menschen jeden Alters haben diese neue Stadt, diesen neuen Himmel und die neue Erde im Herzen. Und sie sind gewiss, dass sie dort einziehen werden, wenn Gott es will. Denn, so endet die Vision: „Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn, mein Kind sein.“ Das ist die Gewissheit, die für Martin Luther den reformatorischen Durchbruch bedeutete: die Gewissheit, vor Gott zu bestehen, von Gott zu seinem „Kind und Erben“ (EG 200) erwählt zu sein.

II.
Es ist deshalb auch kein Zufall, dass Martin Luther in einer seiner frühen Schriften, dem „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ von 1519, der Bedrohlichkeit des Todes Bilder der Güte und Nähe Gottes entgegensetzt. Den Schreckensbildern des Todes begegnet er mit Hoffnungsbildern des Glaubens, die im Leben und Sterben Jesu Christi verankert sind. „Am Kreuz ... hat er sich uns selbst als ein dreifaches Bild bereitet, das wir unserem Glauben gegen die drei Bilder vorstellen sollen, mit denen der böse Geist und unsere Natur uns anfechten, um uns aus dem Glauben zu reißen. Christus ist das lebendige und unsterbliche Bild gegen den Tod, den er erlitten und doch mit seiner Auferstehung von den Toten in seinem Leben überwunden hat. Er ist das Bild der Gnade Gottes gegen die Sünde, die er auf sich genommen und durch seinen unüberwindlichen Gehorsam überwunden hat. Er ist das himmlische Bild des Gott-Menschen, der am Kreuz von Gott verlassen wie ein Verdammter durch die Allgewalt seiner Liebe die Hölle überwunden hat. Er bezeugt, dass er Gottes geliebter Sohn ist und dasselbe uns allen zu eigen gibt, wenn wir nur glauben.“

„Durch seinen Tod wird der Tod getötet“, sagt Luther wiederholt vom Tod Jesu von Nazareth. Der Tod Christi wird als „Tod des Todes“ verstanden. Das nötigt dazu, theologisch nicht allgemein, sondern in einer unüberbietbaren Bestimmtheit vom Tod zu reden. Unüberbietbar ist diese Bestimmtheit deshalb, weil am Tod eines Menschen abgelesen wird, was vom Tod überhaupt zu sagen ist, und weil am Tod dieses einen Menschen darüber hinaus abgelesen werden soll, wie Gott zum Tod des Menschen steht. An diesem einen Menschen nimmt er dem Tod die Macht; an diesem einen Menschen durchbricht er den Zusammenhang von Sünde und Tod. Und dies geschieht, so bekennt es die Christenheit seitdem, allen Menschen zu Gute. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort; darum kreist das christliche Bekenntnis zur Auferstehung Christi wie die Hoffnung auf eine allgemeine Auferstehung.

III.
Diese Hoffnung des Glaubens zeigt sich am eindrücklichsten dort, wo Menschen mit Tod und Sterben konfrontiert sind. Nicht in Form einer Vertröstung auf ein unbekanntes Jenseits. Sondern als ein wirklicher Trost. Der zeichnet sich dadurch aus, dass ein Mensch im Innersten gestärkt wird, trotz äußerlicher Kraftlosigkeit; dass er sich gehalten weiß, auch entgegen dem äußeren Schein. Darin wird spürbar, wie Gott schon jetzt „Wohnung nimmt“ unter uns Menschen und im Leben wirkt. Die Frucht dieser kraftvollen und kräftigenden Hoffnung ist die Freiheit. Es ist genau die Freiheit, aus der heraus Martin Luther sein „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ gesprochen hat. Jene Freiheit, die vor 475 Jahren hier in Speyer die Fürsten und Reichsstädte dazu trieb, sich nicht der Durchführung des Wormser Edikts zu beugen, sondern dagegen zu protestieren. Deshalb feiern Sie in diesem ganzen Jahr die Speyerer Protestation. Es ist diese in Christus geschenkte Freiheit, die auch zum Protest gegen die lebensfeindlichen Mächte führt. Denn nichts anderes feiern wir an diesem Sonntag: Die Protestation gegen den Tod.

Die Freiheit, aus der heraus diese doppelte Protestation möglich ist, für sich wieder zu entdecken und aus dieser Freiheit das Leben zu gestalten – das ist die entscheidende Herausforderung christlicher Existenz. Sich nicht den Mächten des Todes zu unterwerfen, die um uns lauern und auf uns warten. Sich nicht einschüchtern zu lassen und die eigene Bedeutung nicht klein reden zu lassen.

Herausforderungen dazu zeigen sich Tag für Tag. Die Protestation gegen den Tod brauchen wir heute, um den Tod annehmen zu können und nicht leugnen zu müssen. Mit ihm müssen die leben, die in diesem Jahr einen Nächsten verloren haben. Aber leben müssen mit ihm auch die, die sich einbilden, mit den Mitteln der modernen Medizin werde sich eines Tages der Tod ganz verdrängen lassen. Weit gefehlt: Mit dem Tod kann nur leben, wer ihn gelten lässt – sang- und klanglos gelten lässt, denn er hat nicht mehr das letzte Wort.

Und ebenso nötig ist die Protestation, in der die Freiheit des Glaubens auch öffentlich zur Geltung kommt. Nehmen Sie das Beispiel, das sich in diesen Tagen förmlich aufdrängt. Christliche Feiertage sind in diesem Land nicht eine Kleinigkeit, die eben einmal gestrichen werden könnten. Feiertage sind vielmehr zur Selbstvergewisserung einer Gesellschaft vonnöten. Aber auch allgemein gilt, was die Synode der pfälzischen Landeskirche im Mai dieses Jahres so überzeugend festgestellt hat. „Protestantismus ...“, so hat Ihre Landessynode gesagt – „heißt Freiheit aus Gottes Wort“. Diese Freiheit wollen wir als Protestanten selbstbewusst und klar auch in den ökumenischen und interreligiösen Dialog einbringen. Um dieser Freiheit willen treten wir, hier bei uns wie in anderen Ländern dieser Welt, für die Freiheit der Religionsausübung  ein. Wir meinen damit nicht nur die eigene Freiheit, sondern auch die Freiheit der Andersglaubenden. Aber auch deren Glaube muss sich erkennbar machen und der Kritik stellen. So öffentlich wie unsere christlichen Gottesdienste sollen hierzulande deshalb auch muslimische Gottesdienste sein. Nicht durch gesetzlichen Zwang, sondern aus eigenem Antrieb sollten Imame deshalb Deutsch als Predigtsprache wählen. Das wäre ein großer Beitrag dazu, Misstrauen abzubauen und die Integration zu fördern.

„Protestantismus – so hat Ihre Landessynode hinzugefügt – heißt Verteidigung des Einzelnen“. Ja, im Zentrum des protestantischen Glaubensverständnisses  steht der einzelne Mensch in seinem Verhältnis zu Gott. Protestantisch zu leben heißt, den einzelnen in seiner Situation wahrzunehmen – auch in seiner Arbeits- oder Familiensituation – und sich ihm zuzuwenden, vertrauensvoll wie wachsam, nicht ohne Anspruch, aber mit Zutrauen. Darin macht Protestantismus „Mut zur Zeitgenossenschaft“. Unsere Kirche zieht sich nicht zurück, sondern öffnet sich für die Fragen und Sorgen der Menschen. Sie sucht Gesprächspartner in Kultur, Wirtschaft und Politik, um die Freiheit zu bezeugen, aus welcher der Glaube lebt.

IV.
Dass wir dieses Geschenk der Freiheit annehmen und bekräftigen, ist das Gebot der Stunde. Dass wir die Freiheit des Glaubens öffentlich vertreten, ist unsere wichtigste Aufgabe. Woran ließe sich das stärker verdeutlichen als an der Freiheit, die wir am Ewigkeitssonntag bezeugen, der Freiheit angesichts des Todes?

Kehren wir deshalb noch einmal zurück zu dem Lied „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ Martin Luther hat dem von ihm übernommenen Hymnus zwei Strophen hinzugefügt. In einer dieser Strophen fragt er: „Wo solln wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben?“ „Wo bleiben?“ ist noch existenznäher gefragt als „Was bleibt?“ Hart am Abgrund muss gefragt werden, wenn sich tragender Grund finden soll, auf dem der Macht des Todes Paroli geboten werden kann. Luther beruft sich auf das Grunddatum des Glaubens: auf das Bekenntnis zum Tod des Todes und antwortet so: „Wo solln wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben? – Zu dir, Herr Christ, alleine.“ Denn Gott selbst errichtet seine „Hütte ... bei den Menschen. Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst ... wird ihr Gott sein.“ Gott macht sich auf, Gott spinnt den Lebensfaden hin zu den Menschen. Der Glaube hat nicht mehr in der Hand als diesen Faden der Hoffnung, der den Weg zum Leben weist. Durch den Schmerz hindurch zur Dankbarkeit. Durch die Tränen hindurch zum Lachen. Durch den Tod hindurch zum Leben. Die Protestation gegen den Tod hat ihren Grund in der Freiheit, die das Kommende sieht und um den Kommenden weiß - um Gott, der uns aus der Zukunft entgegenkommt und uns seine Gegenwart heute schenkt.
Amen.