"Reformen - notwendig, aber gerecht!" - Rede in Gladbeck

Wolfgang Huber

I.

In Deutschland haben Bund, Länder und Gemeinden derzeit eine Staatsverschuldung von insgesamt 1,4 Billionen Euro aufgehäuft. Würde der Staat diese Schulden in jährlichen Raten von 100 Milliarden Euro abzahlen – bei einem Steueraufkommen von insgesamt 450 Milliarden Euro ist das freilich eine illusionäre Vorstellung – , so bräuchte er für Zins und Tilgung zusammen dreißig Jahre. In Wahrheit aber versprechen Politiker von Regierung oder Opposition allenfalls, dass die Neuverschuldung verringert werden soll. Von einem Abtragen dieses gigantischen Schuldenbergs ist keine Rede. Reformen sind notwendig – und zwar solche, die über das Maß der gegenwärtigen Vorhaben noch deutlich hinausgehen.

Vier Millionen und zweihundertundfünfzigtausend Menschen sind in unserem Land gegenwärtig als Arbeitslose registriert. Die Pläne von Opel in Bochum wie in Rüsselsheim oder die Karstadt-Krise zeigen anschaulich, wie gefährdet die Arbeitsplätze sein können, auf denen Menschen unter Umständen viele Jahre verlässliche Arbeit geleistet haben. Und die registrierte Arbeitslosigkeit zeigt nur einen Teil des Eisbergs. Insbesondere im Osten Deutschlands ist die Zahl erheblich, die arbeitslos sind, aber nicht unter dieser Kategorie registriert werden; Umschulungsmaßnahmen oder der Vorruhestand sind nur zwei Beispiele für verschleierte Arbeitslosigkeit.  Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, zu denen fünf Prozent der Erwerbsbevölkerung als ein sehr kritisches Maß an Arbeitslosigkeit galt; derzeit sind es jedoch mehr als fünf Prozent der Wohnbevölkerung. Wenn man die Schattenarbeitslosigkeit hinzuzählt und wenn man an die Menschen denkt, die als Familienangehörige von Arbeitslosigkeit unmittelbar betroffen sind, geht man nicht fehl in der Annahme, dass ein Viertel der Bevölkerung von Arbeitslosigkeit auf die eine oder andere Weise unmittelbar betroffen ist. Reformen des Arbeitsmarkts sind dringend erforderlich. Ein wirtschaftlicher Aufschwung, der sich in zusätzliche Arbeitsplätze umsetzt, ist dringend zu wünschen. Eine aktive Ansiedlungspolitik, gezielte Fördermaßnahmen, Kombilohnmodelle eingeschlossen, sind erforderlich. Doch gegenwärtig spüren die Menschen das Fordern deutlicher als das Fördern. Die Überführung der Arbeitslosenhilfe in das Arbeitslosengeld II findet gegenwärtig viel mehr Aufmerksamkeit als die dringend nötigen Maßnahmen der Förderung von Arbeitslosen.

In Deutschland haben gegenwärtig hundert Deutsche zusammen nur 63 Kinder und lediglich 39 Enkel. Nach einer weltweiten Statistik ist Deutschland in der Geburtenrate auf den Platz 182 von 190 Ländern herabgesunken. So kann keine Gesellschaft überleben. Wo immer weniger Kinder geboren werden, scheint die Zuversicht der Menschen erschüttert zu sein. Denn der Wunsch nach einem Leben in Familie mit Kindern ist groß. Doch mit der Verwirklichung dieses Wunsches tun sich viele schwer. Die Begegnung von Ei- und Samenzelle wird verhütet. Das Wagnis des Lebens erscheint als zu groß. Vor allem junge Frauen stehen vor einem Lebensstau, dem sie sich in vielen Fällen nicht gewachsen fühlen. Bei dem Versuch, diesen Stau von Ausbildung, Beruf, Partnerschaft und Kindern in ein Nacheinander aufzulösen, kommen die Kinder häufig an letzter Stelle. Und so erreichen mehr als vierzig Prozent der besser ausgebildeten Frauen das vierzigste Lebensjahr, ohne ein Kind zur Welt gebracht zu haben – oft gegen ihren Wunsch. Reformen sind nötig – übrigens nicht nur in der Familienpolitik und in den Angeboten zur Kinderbetreuung, sondern ebenso in den gesellschaftlichen Mentalitäten, auch in der Haltung von Arbeitgebern zu Elternteilen, die aus der Erziehungszeit wieder in den Beruf zurückkehren.

Die Aufgabe, für die Altersbezüge eines Ruheständlers aufzukommen, teilt sich heute auf ungefähr drei Erwerbstätige auf. Bald werden es nur noch zwei Menschen sein, die mit ihren Beiträgen zur Rentenversicherung die Rente eines Pensionärs zu finanzieren haben. Wie wird es gehen, wenn im Alterswandel unserer Gesellschaft nur noch ein Erwerbstätiger außer dem Lebensunterhalt für sich und seine Familie auch noch den Lebensunterhalt für einen Ruheständler aufbringen soll? Spätestens dann wird sich zeigen, dass die beitragsfinanzierte Rentenversicherung die Lasten nicht mehr zu schultern vermag, die unser System ihr zumutet. Dasselbe Strukturproblem, das uns im Blick auf die Gesundheitsvorsorge beschäftigt, betrifft auch da Rentensystem. Eine Reform ist unumgänglich.

Vier Beispiele sind das für die Einsicht, dass und warum Reformen notwendig sind. Diese Beispiele lassen sich leicht ergänzen; der Reformstau kann einem manchmal den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Die politisch Verantwortlichen verdienen Kritik nicht deswegen, weil sie sich auf diesen Reformbedarf einlassen. Kritik ist eher deshalb nötig, weil diese Reformen so spät kommen, weil sie bisweilen nur halbherzig betrieben werden und weil konsequente Ansätze durch politische Kompromisse zu inkonsequenten Ergebnissen umgebogen werden.

Aber ist Kritik auch nötig unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit? Müssen wir als Kirche Kritik deshalb üben, weil im Zuge der Reformen die sozial Schwächeren unter die Räder geraten? So wird gefragt und so muss gefragt werden. Der angekündigte Armutsbericht der Bundesregierung wird, so kann man heute schon voraussagen, wird zeigen, dass sich die Schere zwischen Reichen und Armen in unserer Gesellschaft während der letzten Jahre weiter geöffnet hat. Der Anteil der von Armut betroffenen Haushalte, so wird man dort lesen können, ist seit 1998 von 12,1 auf 13,5 Prozent gestiegen. Und vor allem: Armut ist erblich. Kindern aus ärmeren Familien sind auch bei gleicher Begabung gegenüber Kindern aus wohlhabenden Familien in ihren Bildungschancen deutlich benachteiligt. Und es ist bisher nicht zu erkennen, dass die jetzt in Gang gekommenen Reformen an all dem sehr schnell etwas ändern werden. An den Effekten von Hartz IV lässt sich das verdeutlichen: Ebenso wie man hoffen kann, dass sie für bestimmte Personengruppen – insbesondere solche, die sich bisher in der Sozialhilfe befinden – eine Verbesserung der Lebensumstände bringen können,  werden sie – unter Umständen sogar in vergleichbaren Größenordnungen – für andere eine erhebliche Absenkung des Lebensstandards zur Folge haben. Den Gerechtigkeitseffekten der gegenwärtigen Reformen – noch einmal betone ich: so notwendig sie sind – muss man deshalb mit erheblichen Sorgen entgegensehen.

II.

Doch was ist Gerechtigkeit? Ob der Begriff der sozialen Gerechtigkeit als Programmformel für das 21. Jahrhundert taugt, wird immer wieder gefragt. In dem gesellschaftlichen Wandel, in dem wir uns befinden, steigern sich die Anforderungen an eine zukunftsfähige Sozialpolitik. Es wird uns eine Reformfähigkeit abverlangt, die wir bisher noch nicht unter Beweis stellen mussten. Das Ziel solcher Reformen besteht aber nicht darin, den Sozialstaat abzubauen und das Ziel sozialer Gerechtigkeit zurücktreten zu lassen, sondern im Gegenteil: den Sozialstaat zu erhalten und unsere Verpflichtung auf soziale Gerechtigkeit zu erneuern. Denn sich an solcher Gerechtigkeit zu orientieren, gehört in den Kernbereich individueller wie institutioneller Verantwortung.

Um der Klarheit willen muss man hinzufügen: Wenn man soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip bewahren will, muss man aufpassen, dass nicht jedes und alles unter diesen Begriff subsumiert wird. Wenn man den Sozialstaat zukunftsfähig erhalten will, muss man sich davor hüten, ihn systematisch zu überfordern. Weder soziale Gerechtigkeit noch Sozialstaat sind Leitbegriffe für ein pures Besitzstandsdenken. Aber in ihnen drückt sich die Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen aus, das einmal auf die kurze Formel gebracht wurde: Die Stärke des Staates bemisst sich am Wohl der Schwachen.

In das Nachdenken über Gerechtigkeit hat die jüdisch-christliche Tradition einen Impuls eingebracht, der dazu nötigt, soziale Verhältnisse mit dem Blick von unten, aus der Perspektive der Schwächeren, mit einer Parteinahme für den Menschen in seiner Verletzlichkeit und Bedürftigkeit anzusehen. Dass niemand ohne Rechte sein soll und dass Menschen in ihrer Not nicht unter das Existenzminimum sinken sollen, ist ein elementares Gebot der sozialen Gerechtigkeit.

Im Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ geht es darum, dass das Soziale, also die Lage des Menschen als eines Gemeinschaftswesens, die Angewiesenheit des Menschen auf Nahrung, Kleidung und Obdach, sein Anspruch auf Respekt für seine Würde unter dem Gesichtspunkt angeschaut wird, dass auch er die Regeln, nach denen er vom Gemeinwesen behandelt wird, als für ihn selbst fair muss anerkennen können. Es ist dieser Gesichtspunkt, unter dem wir in einem Land wie Deutschland in den letzten anderthalb Jahrhunderten Gesichtspunkte der Solidarität rechtlich auf Dauer gestellt und verlässlich gestaltet haben.

Unter solchen Gesichtspunkten muss der Sozialstaat, wo nötig, Umverteilungen vornehmen und zur Umverteilung bereit sein. Doch diesem Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit ist die Erwartung vorgeordnet, dass wo immer möglich Beteiligungsgerechtigkeit verwirklicht wird. Die Chance, am Gemeinwesen Anteil zu nehmen, seine eigenen Begabungen einzubringen, den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen, steht von daher im Zentrum sozialer Gerechtigkeit. Sozialpolitik muss auf Beteiligungsgerechtigkeit aus sein, bevor sie auf Verteilungsgerechtigkeit aus ist. Die Ermöglichung von Arbeit und eigenem Erwerbseinkommen hat in diesem Zusammenhang eine Schlüsselbedeutung. Der Ausschluss einer großen Anzahl von Menschen von der Möglichkeit, durch Erwerbsarbeit für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, erweist sich als Schlüsselproblem.

Die individuellen Chancen zu aktiver Beteiligung zu erhöhen, ist deshalb eine Schlüsselverpflichtung des sozialen Staats. Menschen zur Partizipation zu befähigen, ist seine zentrale Aufgabe. Man kann den Maßstab, an dem sich diese Tätigkeit ausrichtet, als Befähigungsgerechtigkeit bezeichnen. Sozialpolitik, die nicht auf Bildungspolitik als einem zentralen Pfeiler aufruht, greift insofern zu kurz. Dieser befähigungsorientierte Blick muss früh ansetzen. Bildung im Kindesalter gehört durchaus in diesen Zusammenhang; Kindertagesstätten als Betreuungseinrichtungen zu verstehen und für diese Betreuung hohe Elternbeiträge einzufordern, führt insofern in die Irre. Es handelt sich um Bildungseinrichtungen im Elementarbereich. Genau in diesem Bereich sollte Bildung frei sein; Bildungsgebühren mag man für andere Bereiche – zum Beispiel Universitäten – diskutieren, aber für Kindertageseinrichtungen sollte man sie abschaffen.

An diesem Beispiel zeigt sich bereits, dass soziale Gerechtigkeit wesentlich Generationengerechtigkeit ist. Man denkt bei diesem Begriff in der Regel daran, dass die heutigen Weichenstellungen für künftige Generationen nicht zu unvertretbaren Belastungen führen dürfen. Das ist gewiss richtig. Unter diesem Gesichtspunkt sollen heutige Entscheidungen revisionsoffen sein und für eine künftige Generation nicht mehr vorwegnehmen, als unvermeidlich ist. Jedoch stellt sich die Aufgabe der Generationengerechtigkeit schon unter gleichzeitig Lebenden. Und es spricht viel dafür, dass wir uns auch gegenüber den Kommenden dann am fairsten verhalten, wenn wir ihnen möglichst wenig Ungerechtigkeiten vererben. Zu diesen Ungerechtigkeiten kann man eine maßlose Staatsverschuldung genauso rechnen wie eine faktisch ungleiche Belastung zwischen großen, vererbbaren Kapitalvermögen und Einkommen aus Arbeit.

Wie wir es mit der Generationengerechtigkeit unter den jetzt Lebenden halten, zeigt sich aber insbesondere daran, ob und wie wir der Familiengerechtigkeit Raum geben. Generationengerechtigkeit verstehen wir bisher faktisch als den Ausgleich zwischen den jetzt Erwerbstätigen und denen, die aus der Erwerbstätigkeit ausgeschieden sind. Diesen Ausgleich bewirken wir durch eine umlagefinanzierte Form der Alterssicherung. Aber aus dem Blick geraten ist das Verhältnis zur nächsten Generation, zu den Kindern, die wir zur Welt bringen – oder eben auch nicht. Kinder werden sowieso geboren, hieß die tiefe Einsicht des alten Adenauer, mit der er begründete, warum die Verantwortung für Kinder in die Überlegungen zur Alterssicherung nicht einbezogen werden müsse. Weit gefehlt, wie wir inzwischen wissen. Noch immer fehlt es an Vorkehrungen für die Vereinbarkeit zwischen Familien- und Berufsarbeit oder für den verlässlichen Wechsel zwischen diesen beiden Verantwortungsbereichen. Nach wie vor gilt Familienarbeit, noch immer vor allem von Frauen ausgeübt, als Schattenarbeit gilt, unbezahlt und nicht einmal im Bruttoinlandsprodukt gewürdigt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber mit bewundernswerter Klarheit zu einem Familienleistungsausgleich – nicht nur zu einem Familienlastenausgleich – aufgefordert. Dieser Ausgleich kann im Steuerrecht, in der Altersversorgung, in den Beiträgen zu Kranken- und Pflegeversicherung und in vielen anderen Bereichen zum Ausdruck kommen. Aber er muss wenigstens stattfinden. Bisher hat die Öffentlichkeit noch gar nicht wahrgenommen, dass Familienpolitik in den Kernbereich jeder Reformpolitik gehört, die diesen Namen verdient.

III.

Wo stehen wir an diesem Jahreswechsel? Über viele Fragen scheint mir ein Konsens erreicht worden zu sein, anderes hat sich mit größerer Dringlichkeit als zu klären erwiesen. Einige konsensfähige Überlegungen möchte ich in zehn Punkten nennen:

Unsere sozialen Sicherungssysteme sind den erkennbaren Herausforderungen der nächsten Jahre offensichtlich nicht gewachsen.

Gerade um den Sozialstaat in seinen wesentlichen Aspekten zu erhalten, muss er reformiert werden.

Zu den wesentlichen, sich aus dem christlichen Menschenbild ergebenden und unbedingt zu beachtenden Aspekten des Sozialstaates gehört die Verhinderung von Armut, ein sozialer Ausgleich der großen Lebensrisiken und eine gerechte Verteilung der Lasten zwischen Arm und Reich.

Dabei spielt die Frage der Verteilungsgerechtigkeit eine wichtige, aber keineswegs die einzige Rolle.

Ebenso von Bedeutung für soziale Gerechtigkeit sind die Fragen der Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit.

Jede Reform muss in ihrer Konzeption, in ihren Details und in ihrer Vermittlung um der Menschen willen geschehen und an ihnen orientiert sein.

Besonders wichtig ist es daher, die Vererbung von Armut in Deutschland zu bekämpfen, also Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen in besonderer Weise zu fördern.

Besonders wichtig ist es außerdem, die strukturellen Benachteiligungen der Familien abzubauen.

Angesichts der demographischen Entwicklung stehen uns die eigentlichen Herausforderungen, die bei weitem nicht nur in den Sozialversicherungssystemen, sondern vor allem auch in der gesellschaftlichen Atmosphäre unserer Gesellschaft liegen, noch bevor.

Das ökumenische Gespräch und der Blick auf die internationale Situation bringen einen wichtigen zusätzlichen Aspekt in unsere Diskussionen, der diese keineswegs überflüssig macht, sondern uns vielmehr die Augen für andere Facetten der Frage nach sozialer Gerechtigkeit öffnet.

Soweit der Versuch, ein Zwischenergebnis der Diskussion des vergangenen Jahres zu beschreiben. Dazu zählen nun aber auch die offen Fragen. Viele betreffen scheinbare Details, die für die unmittelbar Betroffenen aber existenzielle Bedeutung erlangen können. Denken Sie nur an die Regelungen zum Arbeitslosengeld II und die Herausforderungen, die hier auf die Kommunen, die Job-Center, aber auch die gesellschaftlichen Akteure und gerade in ihrer Region auch auf Sie als Kirchenkreis und als Gemeinden zukommen. Dazu will und kann ich Ihnen aber keinen Rat geben, im Gegenteil bin ich sehr auf Ihre Erfahrungen gespannt und will Ihnen Mut machen, diese Veränderungen aktiv mitzugestalten und zum Beispiel die Frage, ob Sie Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslose (immer noch fälschlich "Ein Euro - Jobs" genannt anbieten können, sehr wohlwollend zu prüfen. Zu diesen Fragen zählen neben diesen Einzelproblemen aber auch grundsätzliche Themen, die wir im kommenden Jahr im Blick zu halten haben. Ich nenne zwei, die nach meiner Überzeugung der dringenden Diskussion bedürfen, nämlich die Frage nach dem Bild vom Menschen, von dem wir uns bei all diesen Bemühungen leiten lassen, und die Frage nach dem Umgang mit den Schwachen in unserer Gesellschaft.

Zum einen ist zu fragen, ob sich die gegenwärtige Reformdiskussion im Wesentlichen innerhalb der Bandbreite bewegt, die in den vergangenen Jahrzehnten den gesellschaftlichen Konsens über Sinn und Ziel des Sozialstaats beschrieben hat, oder ob wir uns auf ein grundsätzlich neues Verständnis zu bewegen. Die Fragen, die sich für mich damit verbinden, lauten: Wo ist der Punkt, an dem die Sorge um die für das Funktionieren des Sozialstaats gerade notwendige wirtschaftliche Stärke kippt in eine aus ethischer Sicht unakzeptable Überordnung der Wirtschaft über die Menschen? Sind wir gegenwärtig Zeugen eines solchen Prozesses? Das klassische Sozialstaatsmodell hat wichtige Züge der Angleichung der Lebensverhältnisse, der Beteiligungs- und Befähigungschancen, etwa in den Bereichen der Mitbestimmung oder der Kapitalbildung in Arbeitnehmerhand. Wenn wir uns heute zunehmend an einer ausschließlichen Absicherung auf der Höhe der als Armutsgrenze definierten Sozialhilfe orientieren, folgen wir dann noch den wichtigen Einsichten der Begründer der sozialen Marktwirtschaft?

Man kann, ja man muss auch weiterfragen: Unterwerfen wir uns gegenwärtig nicht zu weitgehend dem Diktat ökonomischer Anforderungen? Als Kirche bejahen wir wirtschaftlichen  Erfolg, doch wir fügen in Abwandlung eines Wortes Jesu hinzu: Die Wirtschaft ist um der Menschen willen da, nicht die Menschen um der Wirtschaft  willen.  Deshalb sagen wir Ja zu dem Bemühen um wirtschaftlichen Erfolg, aber nicht zu einer vollständigen Ökonomisierung unseres Lebens und Denkens. Die Bildung gehört zu den Bereichen, an denen sich das Gewicht dieser Weichenstellung besonders deutlich ablesen lässt. Zwar kann man nicht sagen, dass unsere Schulen ökonomisch durchweg sinnvoll organisiert sind; da könnte man sich sogar gelegentlich höhere Effizienz vorstellen – zum Beispiel dadurch, dass Lehrer über Arbeitsplätze verfügen, die es ihnen ermöglicht, ihre Zeit in der Schule auch außerhalb des Unterrichts sinnvoll zu nutzen. Aber in der Ökonomisierung der Bildungsinhalte schreiten wir noch immer kräftig und in sehr einseitiger Weise voran. Dass Orientierungswissen – das Glaubenswissen  eingeschlossen – mindestens so wichtig ist wie Verfügungswissen, gehört noch immer nicht zum Allgemeingut der bildungspolitischen Diskussion. Der Umgang mit Feiertagen ließe sich als anderes Beispiel nennen. Die Art und Weise, in der während der letzten Wochen das Kulturgut eines Feiertags gegen 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum aufgerechnet wurde, muss zu denken geben. Mein Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines solches Vorgehens bezieht sich übrigens auf den Tag der Deutschen Einheit ebenso wie auf einen christlichen Feiertag. Wir müssen aufpassen, dass das Auto, das wir wieder fahrtüchtig machen wollen, bei unseren Reparaturbemühungen nicht ganz auseinanderfällt.

Auch zur zweiten Frage will ich mich nur knapp und pointiert äußern: Wer sind die Schwachen in unserer Gesellschaft? Wer heute im Stande ist, einen Antrag auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II korrekt auszufüllen und seine darauf beruhenden Rechte in Anspruch zu nehmen, gehört schon nicht mehr zu den Ärmsten der Armen. Besonders beunruhigend ist vielmehr, dass heute die Zahl derjenigen wächst, die zu keiner derartigen Hilfe Zugang haben, aus welchen Gründen auch immer. In 380 Städten Deutschlands gibt es inzwischen Suppenküchen und andere Einrichtungen, in denen die Ärmsten der Armen etwas zu essen finden. Erschreckend groß ist die Zahl der Kinder, die von dieser Art äußerster Armut betroffen sind. Ich möchte festhalten, dass diejenigen, die in einem solchen Sinn zu den Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft zählen, die besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge der Kirche finden müssen. Wer sind aber darüber hinaus die Schwächeren?

Doch neben dieser Form äußerster Armut gibt es auch eine Form der relativen Armut, mit der wir uns nicht abfinden dürfen. Noch immer gilt von diesem reichen Land, dass Kinder in ihm ein Armutsrisiko darstellen. Alleinerziehende Mütter sind davon besonders betroffen. Wo Familiengründung und Arbeitslosigkeit zusammentreffen, entstehen besondere Notstände, trotz der Berücksichtigung der „Bedarfsgemeinschaft“ Familie in Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II. Aber auch in den Fällen, in denen beide Eltern Arbeitsmöglichkeiten gefunden haben, wird das Leben mit Kindern nicht leichter. Nach wie vor – und mit guten Gründen – entscheiden Paare sich dazu, dass in der Kinderphase nur ein Elternteil arbeitet. Aus zwei Gehältern für zwei Personen wird plötzlich ein Gehalt für drei oder vier Personen.

Solche Beispiele nötigen zu der Frage: Sind die Lasten in unserer Gesellschaft richtig verteilt? Nicht nur wenn wir auf die Empfänger von Sozialleistungen schauen, sondern auch wenn wir die strukturelle Schwäche von Familien in unserer Gesellschaft betrachten, müssen wir den Blick auch auf den gewachsenen Reichtum auf der anderen Seite des Spektrums richten und fragen, ob nicht auch auf diesem Arm des gesellschaftlichen Mobiles Gewichte verschoben werden können und müssen.

Lassen Sie mich schließen mit einem Verweis auf das nach meiner Überzeugung zentrale Thema in der Reformdiskussion und für das vor uns liegende Jahr: Kinder und Familien. Bildung und Ausbildung, Familienpolitik, vor allem aber Familienethik sind entscheidende Faktoren für das Gelingen einer zukunftsfähigen Gesellschaft, für die notwendige und zugleich gerechte Reform.