Predigt in der St. Georgskirche, London (1. Petr. 1,3), im Gedenken an Dietrich Bonhoeffer
Antje Heider-Rottwilm
"Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten" (Wochenspruch zu Quasimodogeniti 1. Petr. 1,3)
Liebe Gemeinde,
Christus ist auferstanden - er ist wahrhaftig auferstanden. So begrüßen sich in der orthodoxen Tradition die Menschen in den Wochen nach Ostern.
Er ist wahrhaftig auferstanden - und deshalb sind wir wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung.
Aus dieser Hoffnung heraus hat Dietrich Bonhoeffer gelebt.
In dieser Hoffnung ist er gestorben, am 09. April vor 60 Jahren.
Am Sonntag nach Ostern, dem 08. April, an Quasimodogeniti im Jahre 1945, hatte Bonhoeffer noch auf Bitten derer, die mit ihm von Buchenwald in Richtung Süden transportiert wurden, bei einem Halt in einer Schule für seine Mitgefangenen eine Andacht gehalten. Den Halt interpretierten sie als Hoffnungszeichen. Bonhoeffer sprach über den Wochenspruch, von den Erfahrungen des Leidens, der Barmherzigkeit Gottes und der lebendigen Hoffnung im Glauben an Jesus Christus.
Dass es bei der Rede von der Barmherzigkeit Gottes nicht um "billige Gnade" ging, hat Bonhoeffer immer wieder betont. In einer Londoner Predigt zum Bußtag 1933 heißt es: "Das Gute ist ja nichts anderes, als dass wir nach seiner Gnade fragen und sie ergreifen, das Böse ist nichts als die Angst und das selbst-vor-gott-stehen-wollen, selbstgerecht-sein-wollen. Buße tun - das heißt ja eben nichts anderes als in dieser Wendung, in dieser Umkehr mitten drin stehen vom eigenen Werk zu Gottes Barmherzigkeit; Umkehr, Umkehr! ruft und jubelt uns die ganze Bibel zu - Umkehr wohin? Zur ewigen Gnade Gottes, der uns nicht lässt, dem das Herz über uns bricht, weil er uns, seine Geschöpfe über alle Maßen liebt. Er wird barmherzig sein - so komm also Jüngster Tag. Herr Jesus mach uns bereit. Wir freuen uns. Amen."
Bevor Bonhoeffer auch den Mitgefangenen in einem zweiten Klassenzimmer eine Andacht halten konnte, wurde er abgeholt - auf den Weg in den Tod nach Flossenbürg. Er verabschiedetet sich mit einem Gruß an den Bischof von Chichester, George Bell: „Dies ist für mich das Ende, aber auch der Anfang. Mit ihm glaube ich an das Prinzip der universalen christlichen Gemeinschaft (brotherhood), welche größer ist als alle nationalen Interessen!“
Später sagte ein Mitgefangener, Prof. Latmeral, über ihn:
"Er hatte eine so feste Hoffnung, dass Gott durch Christus alles wiederbringen wird, alles vollbringen wird, dass nichts verloren gehen wird."
Am 09. April 1945 wurden am frühen Morgen Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Canaris, Ludwig Gehre, Hans Oster, Karl Sack und Theodor Strünck im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet, kurz bevor die amerikanischen Truppen Flossenbürg erreichten, wenige Wochen vor dem 08. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Ihr Leben wurde ausgelöscht, ihr Lebensweg abgebrochen, blieb Fragment. Ihr Zeugnis beschäftigt uns heute immer wieder. Insbesondere an dem, wie Menschen Dietrich Bonhoeffer erlebten - als Gemeindepfarrer, Freund, Lehrer, Ökumeniker, Widerstandskämpfer - und an dem, was uns in Büchern, Predigten, Briefen, Gedichten von ihm geblieben ist, entzündet sich immer wieder die Frage:
Wer war Bonhoeffer? Was bedeutet er für uns? Wer war er für uns?
Und auf diese Fragen gibt es viele Antworten - je nach Beziehung zu ihm, je nach Alter, je nach Kontext, aus dem heraus wir fragen.
Was bedeutet Ihnen Dietrich Bonhoeffer? Ihnen persönlich? Ihnen als Mitglieder von Gemeinden, in denen Bonhoeffer entscheidende eineinhalb Jahre seines Lebens verbracht hat? Ihnen als Menschen aus einem Synodalverband, dessen Vorgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus durch Bonhoeffer stark geprägt wurde?
Vielleicht geht es manchen von Ihnen auch so wie mir, dass Sie in verschiedenen Phasen Ihres Lebens darauf eine unterschiedliche Antwort geben?
Einige dieser verschiedenen Perspektiven und Fragen möchte ich heute mit Ihnen teilen und dabei vor allem Bonhoeffer selber zur Sprache bringen.
Ich gehöre zu der Generation, die als Jugendliche in den 60er Jahren vom Ausmaß des Grauens, das unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland ausgeübt wurde und von Deutschland ausging, in der Schule erfuhr.
Ich bin sicher: hätte mein Religionslehrer mir nicht die Begegnung mit dem Zeugnis von dem Christen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer ermöglicht, hätte er mir nicht die Biographie über ihn in die Hand gedrückt, ich wäre wohl in dem Entsetzen, den Vorwürfen gegenüber der Elterngeneration und der Enttäuschung über die Kirche einschließlich der über meinen eigenen Gemeindepfarrer gefangen geblieben. Aber auch die intellektuelle Neugier auf eine Theologie, die sich den entscheidenden Lebensfragen mit der Schärfe des Denkens stellt, wurde durch die Begegnung mit der Person Bonhoeffers geweckt.
Vor allem aber: Da war einer, der schon 1933 offen ausgesprochen hatte, welche Verbrechen von der Herrschaft der Nationalsozialisten ausgingen. In seinem Vortrag "Die Kirche vor der Judenfrage" hatte Bonhoeffer deutlich gemacht, dass, wenn der Staat eine Gruppe von Menschen ihrer Rechte beraubt, - und gar die Kirchen dazu zwingt, getaufte Juden aus den Gemeinden auszuschließen -, er die Kirche vor die Bekenntnisfrage stellt. Die Kirche dürfe nicht nur die Opfer unter dem Rad verbinden, sondern müsse dem Rad selbst in die Speichen fallen, so wird Bonhoeffer später oft zitiert.
In einem Brief aus London an einen Schweizer Freund schrieb er im September 1934: „Es muss auch endlich mit der theologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Tun des Staates gebrochen werden - es ist ja doch alles nur Angst. `Tu den Mund auf für die Stummen! (Sprüche 31.8)´- wer weiß denn das heute noch in der Kirche, dass diese die mindeste Forderung der Bibel in solchen Zeiten ist?"
In den 70er Jahren entdeckten wir miteinander den Bonhoeffer, der die spirituelle Tiefe des gemeinsamen, des kommunitären Lebens gelebt hatte. Als eine Vision dessen, wie Kirche sein kann und wie er sie im Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde lebte, bis die Gestapo das Seminar 1937 schloss. Der Ruf in die 'Nachfolge' wurde zur zentralen Herausforderung des christlichen Lebens in all seinen alltäglichen Vollzügen, im Teilen des Alltags wie der spirituellen Praxis.
In den 80er Jahren war für mich wie für viele Menschen in den Gemeinden und Gruppen Bonhoeffer wichtig als derjenige, der während der ökumenischen Konferenz in Fanö im August 1934 einen Vortrag hielt, in dem er die Kirchen zum entschiedenen Widerstand gegen den Krieg aufrief. "Wie wird Friede? Wer ruft zum Frieden, dass die Welt es hört, zu hören gezwungen ist? Dass alle Völker darüber froh werden müssen? Der einzelne Christ kann das nicht - er kann wohl, wo alle schweigen, die Stimme erheben und Zeugnis ablegen, aber die Mächte der Welt können wortlos über ihn hinwegschreiten. Die einzelne Kirche kann auch wohl zeugen und leiden - ach, wenn sie es nur täte - aber auch sie wird erdrückt von der Gewalt des Hasses. Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähnknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt". Die Vergegenwärtigung und Aktualität dieser Hoffnung war der Anstoß zum Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Er begann an vielen Orten weltweit, wurde für uns im geteilten Deutschland zu einem die Grenzen überwindenden Impuls, brachte die europäischen Kirchen aller Konfessionen zu den großen Versammlungen in Basel 1989 und Graz 1997 zusammen und soll sie im Herbst 2007 nach Sibiu in Rumänien führen.
„Global denken - lokal handeln „- das Bewusstsein , dass wir uns als Gemeinden und Gruppen weltweit in der Kirche für Gerechtigkeit engagieren und nachhaltig leben müssen, hat uns auch in den 90er Jahren in der Ökumene aneinander gewiesen.
Besonders seit seiner Londoner Zeit hat Dietrich Bonhoeffer die Entstehung und Schärfung des Profils der ökumenischen Bewegung der Kirchen über die Grenzen der Konfessionen hinweg wesentlich mitgestaltet.
Er war der festen Überzeugung, dass die Christen in Deutschland lernen müssten, dass sie in der Ökumene auf Geschwister im Glauben, auf Glieder der einen Kirche Jesu Christi treffen. Und dass Fragen der Nationalität und der Ethnie dahinter zurückzustehen hätten. Ökumene war für ihn kein Zweckverband, sondern Kirche. Das hieß für ihn, dass die Spannungen und die Zerrissenheit einer Kirche zugleich die ganze Kirche zu zerreißen drohen. Und so hat er alles in seinen Kräften Stehende getan, um deutlich zu machen, dass mit dem Ausschluss von Menschen jüdischer Herkunft aus den Gemeinden und aus dem Pfarramt und mit der Einführung des Führerprinzips in der Kirche die weltweite Kirche in Frage gestellt und herausgefordert sei - und es nicht etwa um einen unsachgemäßen Eingriff in nationale Fragen ginge, wenn sich die ökumenische Bewegung auf die Seite der Bekennenden Kirche stellt.
Diese verpflichtende, theologisch begründete Hoffnung in die Ökumene hat der Präsident des Weltrates für praktisches Christentum, einer der Vorläufer des ÖRK, mit Bonhoeffer geteilt. Der Bischof von Chichester, George Bell, hat an Himmelfahrt 1934 einen entsprechenden Brief an die ökumenischen Leitungsgremien geschrieben - und trotz des Widerspruchs der Reichskirche wurden D. Bonhoeffer und Präses Koch von der Bekennenden Kirche in das Präsidium des ökumenischen Rates kooptiert.
Die Sprecher der Reichskirche diffamierten beides als Grenzüberschreitung - die ökumenische Bewegung störte die eigene Politik. Eine Einstellung, die später zur Zeit des Kalten Krieges gleichermaßen aktuell war - und auch heute nicht überall überwunden ist.
Bonhoeffer war weniger in den direkten Widerstand, d.h. in die Planung von Attentaten verwickelt, als darin, nach seiner zwangsweisen Entfernung aus dem kirchlichen Dienst seine Kontakte zu nutzen, um die Zeit danach vorzubereiten - die Zeit nach dem Ende des faschistischen Terrors. So reiste er , um die ökumenischen Partner über die andere Seite in Deutschland zu informieren, über die Frauen und Männer des Widerstandes, um auf Unterstützung zu drängen und das Seine zu tun, um eine gerechte Ordnung für Deutschland in einem dem Frieden verpflichteten Europa vorzubereiten.
Als die seit einigen Jahren für die Europaarbeit der EKD Verantwortliche habe ich mit neuem Interesse gelesen, was Bonhoeffer und sein ökumenischer Kollege Dr. Schönfeld aus Genf bei einer konspirativen Begegnung mit Bischof Bell in Stockholm und Sigtuna besprachen - und was Bell danach Churchill vortrug. Dazu gehörten als politische Ziele:
1. ein weitgehend dezentralisiertes Deutschland, regiert nach den Geboten von "Gesetz und Gerechtigkeit"
2. ein wirtschaftlicher Wiederaufbau nach "wahrhaft sozialistischen Grundsätzen"
3. die enge Zusammenarbeit zwischen den freien Völkern, deren wechselseitige Abhängigkeit "die stärkstmögliche Gewähr gegen den Rückfall in einen reaktionären europäischen Militarismus" biete
4. eine europäische Föderation freier Staaten, einschließlich einer freien polnischen und tschechischen Nation und
5. eine "Europäische Armee für die dauernde Aufrechterhaltung europäischer Sicherheit"
Diese wie auch andere Versuche hatten keinen Erfolg bei den politisch Verantwortlichen. Sie bereiteten aber den Boden für das versöhnende Aufeinander-Zugehen der Kirchen und ihre Impulse für Versöhnung in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Und noch eine Perspektive, ein Blick auf Bonhoeffers Leben und Tun: Sie und mich verbindet, dass Sie als Gemeinde von Menschen deutscher Sprache und Herkunft - oder als Gäste dieser Gemeinde - in diesem Land leben - und ich seit vielen Jahren für die EKD zusammen mit den Kollegen im Referat für Nord- und Westeuropa dafür verantwortlich bin, Sie in Ihrem Dienst von Seiten der EKD zu begleiten und zu unterstützen. Da lese ich mit geschärfter Aufmerksamkeit, was in den Dokumenten über die Zeit Bonhoeffers als Vikar in Barcelona, aber besonders in den eineinhalb Jahren in London zu finden ist.
Bonhoeffer ging 1933 nach London, weil er die Gemeindearbeit ins Zentrum seines Tuns rücken wollte - und weil er bewusst die Kontakte in die Ökumene intensivieren wollte. Die Zeit in London wurde für ihn eine gefüllte, eine wegweisende Zeit.
Zunächst ein Blick auf die Gemeinde:
In seinem ersten Jahresbericht fordert er energisch die Gemeindeglieder heraus:
"Wir aber wollen nicht Publikum, sondern Gemeinde sein. Und wer es einmal begriffen hat, was es heißt, irgendwo nicht Publikum, sondern Glied einer glaubenden Gemeinde zu sein - der weiß, welche Erlösung das für ihn bedeutet. Wer sich nur so allgemein anregen lassen will, der suche das nicht in der Kirche. Wer nichts in die Kirche mit hineinbringt, wird auch nichts herausbringen. Aber wem daran gelegen ist, zu wissen, dass es einen Ort gibt, an dem nicht von Gesellschaft, nicht von dem täglichen Allerlei, nicht von Wirtschaft und Politik, sondern allein und ausschließlich von Christus und seinem Willen und seinem Trost geredet wird - und ob es nur zwei oder drei wären, die sich da versammelten - der komme zur Kirche. Und er möge dann nicht einmal im Jahr kommen - es liegt kein Segen und keine Verheißung auf solchem Kirchgang - sondern er komme wieder und wieder und helfe dazu, dass wir eine Gemeinde werden - "dass nur Christus verkündigt werde". Es kommt zwar sachlich wenig darauf an, ob ein Gottesdienst zahlreich oder wenig besucht ist. Der sogenannte Erfolg eines Pfarrers liegt wahrhaftig zuletzt in der Zahl. Nur fragen möchte ich darum: entspricht die durchschnittliche Zahl von Kirchenbesuchern, von Kindern, die den Kindergottesdienst besuchen, von Kindern, die den Konfirmandenunterricht besuchen, Gemeindemitgliedern, die ihren Mitgliedsbeitrag zahlen wirklich den Gemeindeverhältnissen?(Zusammenfassung) Oder sind da irgendwelche andere Hemmungen und Hindernisse im Weg, die mit einigem guten Willen beseitigt werden könnten? Wollen wir es wirklich verantworten, unsern heranwachsenden Kindern das vorzuenthalten, was einem Menschen im Leben mehr bedeuten kann, als wir vielleicht selbst ahnen? Sind wir unserer Sache und unserer Situation so sicher, dass wir darauf verzichten zu können glauben? Ich glaube als Pfarrer die Pflicht zu haben, diese Frage noch einmal mit vollem Ernst zu stellen. Es wird bei uns keiner gezwungen, aber darum trägt auch jeder die Verantwortung für sich allein vor Gott."
Bonhoeffer fordert die Gemeinde auch heraus, als es um die Verwendung des Charity Funds für jüdische Flüchtlinge geht - und um konkrete Gastfreundschaft gegenüber denen, die ihre Heimat verloren haben.
Bonhoeffer fordert die Gemeinde und die Kollegen heraus, als es darum geht, sich mit dem kirchlichen Außenamt auseinanderzusetzen - bis hin zu dem Beschluss am 10.11.1934, in dem Baron von Schröder als Vorsitzender des Gemeindeverbandes der Deutschen Ev. Gemeinden in Großbritannien und Irland dem Außenamt mitteilt, dass man sich von der Reichskirche lösen und der Bekennenden Kirche zuwenden wird.
Im Zentrum für die Gemeinden, für die Kirchenvorstände, für die Pfarrer steht - und das wird aus den Dokumenten, die aus der damaligen Zeit erhalten sind, deutlich - die Zusammengehörigkeit mit den Christinnen und Christen in Deutschland im Glauben an den Sohn Gottes, Jesus Christus, wie er im Alten Testament prophezeit und im Neuen Testament bezeugt ist. Da die so genannte Reichskirche dieses Bekenntnis zu Jesus Christus verrät, müssen die Auslandsgemeinden sich von ihr lösen und die Einbindung in die Bekennende Kirche als der theologisch legitimen Kirche in Deutschland anstreben. In Besuchen und Verhandlungen werden Wege gesucht, wie dies gestaltet werden kann, stellvertretend auch für die anderen Auslandgemeinden - und auch um des glaubwürdigen Zeugnisses in der Ökumene willen.
Ich habe die Dokumente über diese Ereignisse mit besonderer Spannung gelesen. Die Zeiten sind nicht vergleichbar - und nach Bonhoeffers Rückkehr nach Deutschland wurde die Stimme der Gemeinden in Großbritannien auch wieder weniger eindeutig - aber den Fragen, die Bonhoeffer gestellt hat, müssen wir uns auch heute immer wieder stellen und uns fragen :
Bezeugen wir in den Umbrüchen unserer Zeit glaubwürdig und öffentlich die lebendige Hoffnung aus dem Glauben an den auferstandenen Jesus Christus miteinander - in der Verbundenheit der evangelischen Kirche und als glaubwürdiges Zeugnis in der Ökumene?
Wer war Bonhoeffer? Was bedeutet er für Sie? Für uns? Für mich - heute, 60 Jahre nach seinem Tod?
Ich möchte ihn selber noch einmal zur Sprache kommen lassen:
Am 21. Juli 1944, am Tag nach dem Scheitern des Putsches gegen Hitler, schrieb Bonhoeffer aus dem Gefängnis an Eberhard Bethge:
"Ich erinnere mich eines Gesprächs, das ich vor 13 Jahren mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: Ich möchte ein Heiliger werden - und ich halte für möglich, dass er es geworden ist - ; das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: Ich möchte glauben lernen. Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte...Später erfuhr ich und erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden - und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metanoia; und so wird man Mensch, ein Christ (vgl. Jeremia 45Nach Artikel 21 der Confessia Augustana, dem evangelischen Bekenntnis, ist ein Heiliger nicht jemand, den wir anrufen um Beistand, sondern ein Mensch, dessen wir gedenken, um von seinem Beispiel für den eigenen Glauben und das eigene Handeln zu lernen.“
Von Dietrich Bonhoeffer für den eigenen Glauben und das eigene Handeln lernen, heißt für mich - um mit Bonhoeffer zu sprechen - , dass wir uns heute angesichts der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten, vor denen wir stehen, Gott ganz in die Arme werfen.
Und dass wir glaubwürdig und öffentlich Rechenschaft ablegen über die lebendige Hoffnung, zu der wir durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten wiedergeboren sind.
Amen