Predigt im Festgottesdienst zum 150-jährigen Jubiläum der Großen Kirche in Bremerhaven (2. Korinther 3,17 )

Robert Leicht

Vereinigte Protestantische Gemeinde zur Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche

Uns ist Befreiung widerfahren

Liebe festlich gestimmte Gemeinde!

Der letzte Satz unseres Predigttextes steht im 2. Korintherbrief, im 17. Vers des 3. Kapitels. Ihr lieben Christen zu Bremerhaven habt ihn schon oft gehört, als sei er – wenn schon nicht Eure National-, so doch – Eure Gemeindehymne:

„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“

Diesen Satz haben Sie schon so oft gesprochen, und ich habe ihn bei der Vorbereitung auf diesen schönen Tag schon so oft gelesen (allein in der Festschrift zu diesem Tage gleich fünf Mal) , dass man – und diese leise ironische Anmerkung werden Sie mir in Ihrer Festtagsstimmung durchgehen lassen: dass man fast meinen könnte, es stehe da geschrieben: In der Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche – da ist Freiheit.

Das mag ja so sein. Aber zumindest wäre dann zu fragen, von welcher Freiheit da die Rede ist. Welche Freiheit zum Beispiel hatte Bürgermeister Smidt vor 150 Jahren vor Augen – in einer Zeit, in der es doch in deutschen Landen noch keine politische Freiheit gab? Selbst auf das wahrlich unterdrückerische Sozialistengesetz mussten Smidts Zeitgenossen noch 23 Jahre warten. Aber sieben Jahre zuvor war die Paulskirchenverfassung – und mit ihr die demokratische Revolution – gescheitert. Sieben Jahre zuvor war das „Kommunistische Manifest“ erschienen. Sieben Jahre zuvor hatte Wichern seine berühmte Wittenberger Rede gehalten, in der es hieß, dass die soziale Verelendung viele Menschen unempfänglich mache für das Evangelium.

„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“

Welche Freiheit konnte also gemeint sein, als diese Kirche vor 150 eingeweiht wurde – oder als 1846 der Grundstein gelegt wurde, zwei Jahre vor der 48er-Revolution?

Etwa die Freiheit, die wir heute genießen – ohne sie immer schätzen zu können? Die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will, im Rahmen der Gesetze? Oder gar – wozu unsere Liberalität ja mitunter verkommen ist – die Freiheit, selber zu bestimmen, wann man sich an Gesetze hält oder nicht? Bei der Steuererklärung, bei der Parteienfinanzierung…
Ist das gemeint? Oder die kirchliche Liberalität, um die es in der Bremischen Evangelischen Kirche und folglich auch in der Großen Kirche zu Bremerhaven in einer Weise bestellt ist, dass der ferne Beobachter sich müht, das System zu verstehen? Es scheint aber auch nicht viel bedenklicher zu funktionieren als anderswo…

In der Tat: Freuen wir uns unserer Freiheit – solange wir uns nur nicht einbilden, dies sei die Freiheit, von der in dem Wort des Apostels Paulus die Rede ist. Richard von Weizsäcker hat in seinem jüngsten Buch, gerade ist es erschienen, gesagt: „Als Menschen wollen wir im Zeichen der Freiheit leben. Es ist schwer, sie zu erringen, sie zu bewahren, in ihr zu bestehen.“

Darin hat der Altbundespräsident politisch gewiss vollkommen Recht. Doch wenn der Apostel Paulus an seine Gemeinde in Korinth (und an uns!) von Freiheit schreibt, dann gilt das blanke Gegenteil: Diese Freiheit können wir nicht erringen. Wir können sie nicht bewahren – und schon gar nicht können wir in ihr bestehen, etwa aus eigenen Kräften. Man kann sich sogar sehr wohl fragen, ob wir als Menschen wirklich im Zeichen jener paulinischen Freiheit leben wollen. Der Apostel hatte da zumindest gegenüber seiner Gemeinde in Korinth allergrößte Zweifel. Und wie sieht es bei uns aus?


„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ So zitiert die große Gemeinde von Bremerhaven den Apostel Paulus alle Tage und an vielen Orten – selbst an ihrem Altar.
  
Freilich lasst Ihr lieben Bremerhavener, und zwar vom ersten Tage an, merkwürdigerweise ein wichtiges Wörtlein unter den Tisch fallen.

Martin Luther übersetzt nämlich so:
„…wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Und selbst in lateinischen Version an Ihrem Altar fehlt das lateinische Pendant – übrigens: Weshalb überhaupt eine lateinische Übersetzung in einer protestantischen Kirche? Wie dem auch sei – in der Vulgata steht an dieser Stelle auch dieses „demgegenüber“:

« …ubi autem Spiritus Domini ibi libertas. »

Und erst recht findet sich im griechischen Urtext dieses: aber, dieses: andererseits…

Was: Aber…? Wozu aber…? Wogegen?
Dieses kleine, große Wort „aber“ setzt unseren feiertäglichen Satz vom Geist des Herrn und der Freiheit offenbar in einen schroffen Gegensatz zu etwas ganz anderem, das wir bisher noch nicht wahrgenommen haben: Dort ist es so und so bestellt – hier aber, wo der Geist des Herrn weht, da ist es ganz anders.

Diesen Gegensatz wollen wir nun etwas ausleuchten, damit wir nicht in eine Falle tappen – und uns etwa einbilden, dieser große Satz sei der angenehmste Predigttext für eine große Jubiläumsfeier einer großen Gemeinde

Der Apostel stellt, bevor er in die Anrufung des heiligen Geistes ausbricht, zwei Frömmigkeitstypen einander gegenüber – die Frömmigkeit des alten Bundes jener des neuen Bundes, die Frömmigkeit des abgestorbenen Buchstabens jener des lebendigen Geistes, die Frömmigkeit des Gesetzes jener des Evangeliums. Er übt, indem er den Korinthern – und uns! – die Leviten liest, Religionskritik – Religionskritik genauerhin an der religiösen Praxis, man muss es so sagen, des auf eine bestimmte Weise gesetzesfrommen Judentums zu seiner Zeit. Wir werden peinlich genau darauf achten, dass wir das nicht anti-judaistisch lesen, und das nicht nur (aber erst recht!) wegen unserer deutschen Geschichte, sondern weil Paulus, der Jude, nicht gegen die Juden schreibt, sondern gegen eine auf Abwege geratene Frömmigkeit, die man auf die eine oder andere Weise auch bei uns Christen finden kann, übrigens auch dann, wenn man den Wahlspruches dieser Kirche falsch verstünde.

Hören wir also – ausreichend gegen Missverständnisse vorgewarnt – etwas ausführlicher in den ganzen Predigttext hinein:

5 Nicht daß wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott, 6 der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. … 12 Weil wir nun solche Hoffnung haben, sind wir voll großer Zuversicht 13 und tun nicht wie Mose, der eine Decke vor sein Angesicht hängte, damit die Israeliten nicht sehen konnten das Ende der Herrlichkeit, die aufhört. 14 Aber ihre Sinne wurden verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke unaufgedeckt über dem alten Testament, wenn sie es lesen, weil sie nur in Christus abgetan wird. 15 Aber bis auf den heutigen Tag, wenn Mose gelesen wird, hängt die Decke vor ihrem Herzen. 16 Wenn Israel aber sich bekehrt zu dem Herrn, so wird die Decke abgetan. 17 Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Worum geht es also? Mose hat den Juden vom Berge Sinai die Thora gebracht – den Willen Gottes als gnädiges Geschenk: „So hätte es der Herr gerne, dass ihr lebt…“ – denn leben dürfen in seiner Gerechtigkeit, das ist eine große Gnade! Dass daraus Gesetze wurden, Weisungen, das ist noch nicht der Punkt der paulinischen Kritik.
Kritik aber, scharfe Religionskritik verdient die Vorstellung, es liege in der Macht des Menschen, sich durch eigene Frömmigkeit und fleißige Gesetzeserfüllung in den Zustand eines Gerechten vor Gott, eines Sedek zu versetzen.
Kritik verdient der Anspruch, sich durch religiöse Leistung (die sich ja auch lohnen soll, wie Leistung überhaupt, nicht wahr?) –  sich also durch religiöse Leistung das Himmelreich zu verdienen.

Paulus argumentiert überhaupt nicht gegen die Thora und den darin offenbarten Willen Gottes – er sagt nur (und dies allerdings schroff), dass eine Decke über der Thora liegt, dass die Thora verdeckt und verdunkelt wird in einer Frömmigkeitspraxis, die aus dem herrlichen Gnadengeschenk Gottes einen selbstgerechten Leistungsnachweis des Menschen, einen dicken Packen religiöser Fleißkärtchen macht, auf den sich der Fromme hinterher berufen möchte. Wenn aber dieser Irrtum ausgeräumt wird…
16 Wenn Israel aber sich bekehrt zu dem Herrn, so wird die Decke abgetan…

Nochmals: Wir werden uns sorgfältig hüten, diese Religionskritik des Paulus anti-judaistisch zu lesen… Denn in dieser Gefahr der Selbstüberhöhung steht jeder Fromme, steht erst recht jeder Fundamentalist. In dieser Gefahr steht jede Religion, steht jede Kirche. Dieser Gefahr erlag die christliche Kirche seit dem Kaiser Konstantin nur zu oft – bis hin zum Kaiser Wilhelm; und zu oft, zu lange noch darüber hinaus, bis ins nächste, hoffentlich letzte deutsche Reich. Und sind wir, liebe Gemeinde, wirklich schon außer jeder Gefahr? Welche Decke liegt dann da und dort über unserem Evangelium?


Nein, nicht die Freiheit ruft den Geist des Herrn herbei. Sondern der Geist des Herrn schafft Freiheit. Aber eben eine bestimmte Freiheit. Keine Freiheit, die wir selber erringen, die wir selber bewahren und in der wir bestehen können aus eigener Kraft.
Der Geist des Herrn stiftet keine Freiheit, die man nachhause tragen und von der man sich dann und wann ein Stückchen abschneiden kann. Diese Freiheit ist überhaupt kein Gut und gar kein objektiver und dauerhafter Zustand. Sondern es handelt sich dabei um einen permanenten Prozess. Der Geist des Herrn, wann immer, wo immer er weht, stiftet nicht einfach und ein für alle Male Freiheit, sondern er wirkt immerzu Befreiung, immerzu neu. Er bewirkt Befreiung zuallererst von jedem eigensinnigen, selbstherrlichen, rechthaberischen religiösen Leistungszwang. Frei sind die Kinder Gottes nicht aus eigener Kraft, sondern erst dann, wenn sie sich endlich befreien lassen vom Vertrauen auf die eigene Kraft. Wenn sie sich endlich befreien lassen von dem permanenten Druck der religiösen oder sonstigen Selbstverwirklichung.

Wenn wir uns aber im Spiegel der Predigt des Apostels anschauen – stolze Selbstverwirklicher, die wir immer wieder sind! …Leute, die unter dem Leistungsdruck immer wieder stöhnen, aber dann doch denken, dass sich Leistung lohnen muss, ohne Druck also keine Belohnung! – wenn wir uns also im Spiegel anschauen, dann kann man sich wirklich fragen, ob wir als Menschen und als evangelische Christen tatsächlich im Zeichen dieser paulinischen Freiheit leben wollen.
Aber so steht es – etwas zugespitzt - geschrieben:

Der Herr ist der Geist; aber nur dort, wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

An Jubiläumstagen lässt man sich gerne etwas schenken. Als Christ darf und muss man sich jeden Tag etwas schenken lassen, jeden Tag neu: diese Befreiung.
Das also ist die große Alternative hinter dem kleinen Wörtchen „aber“, das Ihr lieben Bremerhavener so gerne unter den Tisch fallen lasst: Die fromme „Knechtschaft des selbstgewählten Weges“ – oder die Befreiung durch Gottes Geist.

Da Sie im  Religionsunterricht alle gut aufgepasst haben, erinnern Sie sich auch an das reformatorische Urerlebnis Martin Luthers. Der plagte sich mit der Frage herum: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, und er quälte sich mit der nahe liegenden Überlegung, dass schlechterdings alles, was ein Mensch dafür an Werken und heiligenmäßigen Übungen tun könnte, immerzeit zu wenig sein müsste, um sich beim Herrn einzuschmeicheln – bis er durch den Apostel Paulus erkannte, dass es allein Gott ist der uns seine Gnade frei zuwendet, auf dass wir glauben, ohne Verdienst unserer Taten (und Untaten). Und wer noch den Vortrag von Professor Eberhard Jüngel von vorgestern im Ohr hat, weiß davon noch viel mehr.


Was ist das nun: Nur ein Dogma – wie man es offenbar in der Bremischen Kirche nicht eben schätzt? In der Tat: Weg mit allen falschen Dogmen! Aber wer die falsche Lehre verwerfen will, braucht – das hat die deutsche Kirchengeschichte gerade in Barmen 1934 so klar gezeigt – eine richtige Lehre, das rechte, das rechtfertigende Dogma von der freien Gnade Gottes und vom freien Wehen des Geistes.

Ein rechtes Dogma erstickt nicht etwa das Leben und die Freiheit – sondern es befreit uns zum richtigen Leben. Und das hat durchaus praktische Konsequenzen:

Dann verlieren eben – und zwar nicht trotz der, sondern aus der Treue zur Heiligen Schrift – jene Konfessionalismen ihr Recht, die verfehlt sind, so wie es die Vereinigten Protestantische Gemeinde in Bremerhaven seit Anbeginn, vielleicht mit wechselndem Erfolg, gehalten hat.  Hoffentlich werden wir diese Befreiung auch einmal in den ökumenischen Gesprächen deutlicher erfahren – von denen wir uns seit dem vergangenen Dienstag mit Blick nach Rom fragen, ob sie nun voranschreiten oder stocken werden.

Und natürlich hat diese Befreiung von dem teuflischen religiösen Selbstherstellungszwang schließlich auch ganz praktische Konsequenzen im politischen und sozialen Leben. Das Evangelium von der be-geisterten, von der geist-gestifteten Freiheit wirkt natürlich auch politisch – solange wir da nur nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Es reicht  nicht aus, einigermaßen vernünftige Politik zu betreiben – als käme deswegen schon der Heilige Geist über und aus uns…

Wer aber von der Angst um seine Existenz zwischen Leben und Tod – und zwischen Tod und Leben – befreit wurde und immer wieder neu sich befreien lässt (man fällt ja ständig in Anfechtung zurück!) – wer solchermaßen Befreiung erfahren hat, wird ja kaum darauf sitzen bleiben können: „Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert;…Nun weiß ich das und bin erfreut und rühme die Barmherzigkeit.“ (EG 355, 1) So heißt es uns Philipp Friedrich Hiller singen.

Liebe Gemeinde,
lassen Sie uns deshalb doch lieber öfter von Befreiung reden – als von einem schöpferischen Akt, uns zugewandt – anstatt ständig unbestimmt von Freiheit als einem Zustand von und in uns zu sprechen, der nur zu schnell auszutrocknen droht. Dann nämlich wächst aus Befreiung, die wir erfahren, Befreiung, auf die andere warten – geistlich, politisch, sozial.

Die bewusste Rede von der Befreiung durch Gottes Geist  könnte uns dann auch immer wieder befreien zu einer Arbeit in unserem Gemeinwesen, die den berühmten vier Freiheiten folgt, den vier Dimensionen der Befreiung, die Franklin D. Roosevelt einmal so umrissen hat:

„Wir freuen uns auf eine Welt, die auf vier wesentliche menschliche Freiheiten gegründet ist: Die erste ist die Meinungs- und Redefreiheit. Die zweite ist die Freiheit für jeden, Gott auf seine Weise anzubeten. (Von mir aus auch mit Kopftuch…) Die dritte ist die Freiheit von Not. (Davon versteht man in Bremerhaven wohl mehr als anderswo…) Die vierte ist die Freiheit von Angst.“

Freiheit von Angst! Eben damit fängt die ganze Freiheit erst richtig an – mit der Befreiung von der Angst, von der verfluchten Angst und verdammten Einbildung, wir müssten und könnten uns aus eigener Kraft und aus eigenem religiösen Fleiß vor Gott schön und gerecht machen. Das war es, was der Apostel Paulus seiner Gemeinde in Korinth schreiben wollte – und was seine Gemeinde in Bremerhaven seit nunmehr 150 Jahren in dieser Kirche lesen und hören möchte – und wonach sie immer wieder zu leben bereit war und ist:

„…wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

 Dass dies immer so bleiben möge, das wünsche ich Ihnen heute von Herzen. Und Gottes Segen dazu! Doch, bitte, vergesst mir dabei nie das Wörtlein „aber.“

Amen.