"Junge Generation und Arbeit: Chancen erkennen - Potenziale nutzen" - Festrede zur Verleihung des Carl-Bertelsmann-Preises 2005 in Gütersloh

Wolfgang Huber

I.

In diesen Tagen ist viel von "Potenzialen" die Rede. Erst in der vergangenen Woche ist der 5. Altenbericht der Bundesregierung unter dem Titel „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft“ veröffentlicht worden; heute wird mit der Verleihung des Carl-Bertelsmann-Preis 2005 aller Nachdruck auf die Potenziale der jungen Generation gelegt.

Man kann dies als gute Nachricht hören oder als schlechte. Eine schlechte Nachricht ist es, soweit mit diesem Beharren auf den Potenzialen der Jungen wie der Alten auf ein Defizit aufmerksam gemacht wird, nämlich darauf, dass unsere Gesellschaft nicht genügend Möglichkeiten dafür bereitstellt, dass Menschen ihre Potenziale nutzen und entfalten können.

Es stimmt: Wir bleiben als Gesellschaft hinter unseren Möglichkeiten zurück; die unerträglich hohe Massenarbeitslosigkeit bringt nicht nur Kummer über die unmittelbar Betroffenen, sondern wirkt sich in hohem Maß negativ auf die Volkswirtschaft, auf die sozialen Sicherungssysteme und auf die gesellschaftliche Atmosphäre aus. Ebenso stimmt: Die Potenziale sowohl junger als auch älterer Menschen werden in unserer Gesellschaft in einem Ausmaß verschüttet, das nicht hinnehmbar ist. Die Arbeitsfähigkeit älterer Menschen bleibt ungenutzt, wie allein schon das faktische Rentenalter zeigt, das im Durchschnitt fünf Jahre niedriger liegt als das gesetzliche Rentenalter. Im Blick auf die individuelle Berufsbiographie ist das mehr als ein Zehntel. Ungenutzt sind die Potenziale der großen Zahl von Menschen, die auf Zeit oder auf Dauer vom Arbeitsprozess ausgeschlossen sind. Ungenutzt sind die Potenziale vieler junger Menschen. Das zeigt sich insbesondere daran, wie sehr die soziale Herkunft nach wie vor die Bildungschancen und damit auch die Berufschancen junger Menschen bestimmt und das heißt sehr oft: beschränkt. Die Bildungsferne der Herkunftsfamilie setzt sich in einer überwältigenden Zahl der Fälle in mangelnden Bildungschancen für Kinder und Jugendliche fort.

Man kann die Aufmerksamkeit für nicht genutzte menschliche Potenziale aber auch als gute Nachricht hören. Eine gute Nachricht ist es, wenn damit in den Vordergrund tritt, dass jeder Mensch in jeder Lebensphase Potenziale hat, die zu respektieren sind. Keine und keinen einzelnen sollen wir im Vorhinein verloren geben oder einfach sich selbst überlassen; vielmehr können wir von jeder und jedem Einzelnen immer noch mehr erwarten. Dafür sprechen nicht nur Gründe der wirtschaftlichen Vernunft. Es ist nicht nur ein ökonomisches Motiv, angesichts des Alterswandels unserer Gesellschaft die Potenziale jedes jungen Menschen zu nutzen. Es hängt auch mit der Würde zusammen, die wir jedem Menschen zuerkennen. Zuallererst um dieser Würde willen soll jeder seine Gaben entfalten und einen Platz für seine Fähigkeiten finden.

II.

Was neuerdings als „Potenzial“ bezeichnet wird, pflegte man bis vor kurzem als „Talent“ zu bezeichnen. Wo man jetzt Potenziale nutzen will, wollte man früher Talente entwickeln. Ich gebe zu, dass ich für die ältere Sprechweise durchaus eine Schwäche habe. Das Wort Potenzial, ursprünglich in der Physik beheimatet, bezeichnet die Fähigkeit, eine Arbeit zu verrichten. In einem weiteren Sinn bezeichnet „Potenzial“ die Gesamtstärke der für einen bestimmten Zweck einsetzbaren Mittel. Das Industriepotenzial, aber auch das Kriegspotenzial nennen die Lexika als Beispiele dafür. Die Leistungsfähigkeit eines Wirtschaftszweigs hat man als „Potenzial“ bezeichnet, bevor man auf den Gedanken kam, die Leistungsfähigkeit eines Menschen so zu nennen.

Wenn man einen Menschen daraufhin anschaut, welche „Potenziale“ in ihm stecken, fragt man zugleich: Potenziale wofür? Wendet man den Begriff des Potenzials auf den Menschen an, so steckt darin die Gefahr, ihn ganz vorwiegend unter dem Gesichtspunkt seiner Brauchbarkeit und seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit anzusehen. Wenn man fragt, über welche Talente jemand verfügt, blickt man stärker auf die Gaben und Begabungen, die in ihm stecken, die seine Persönlichkeit ausmachen und die sich in seiner Lebensgeschichte entfalten sollen.

Dass das Wort „Talent“ in unserer Sprache heimisch geworden ist, verdanken wir einer biblischen Geschichte; Sie werden verstehen, dass mir das gefällt. Talent war in biblischer Zeit eine Maßeinheit für das Gewicht von Edelmetall, mit dem man gewichtsmäßig bezahlte, bevor man auf die Idee kam, Münzen zu prägen. Jesus erzählt nun von einem Fürsten, der eine große Reise unternahm und zuvor seinen Mitarbeitern sein Vermögen zur Verwaltung anvertraute: dem einen fünf, dem andern zwei, dem dritten ein Talent. Die Reaktion der Mitarbeiter war höchst unterschiedlich. Der eine legte die Talente an und ließ sie arbeiten. So konnte er seinem Dienstherrn nach dessen Rückkehr statt fünf zehn Talente vorweisen. Auch derjenige, der mit zwei Talenten angefangen hatte, brachte es bis zum Tag der Abrechnung auf vier. Der dritte jedoch, ängstlich wie er war, vergrub das eine Talent, das er erhalten hatte, bis zur Rückkehr seines Fürsten. So konnte er auch am Ende nicht mehr vorweisen als dieses eine Talent. Während die beiden Mitarbeiter, die ihre Talente hatten arbeiten lassen, dafür belohnt wurden, traf den dritten das scharfe Urteil seines Herrn. Während die einen mit den ihnen anvertrauten Talenten weiter wirtschaften durften, verlor der andere auch noch das eine Talent, das er hatte. Das Ganze mündet in die erstaunliche Aussage: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“

Aus dieser Geschichte ist die Rede von den „anvertrauten Pfunden“, mit denen man wuchern soll, und von den Talenten, die einem Menschen gegeben sind, damit er aus ihnen etwas macht, in unsere Sprache gewandert. Talente müssen gefördert werden, wie unsere Rede von der „Talentförderung“ sagt. Potenziale nutzt man, Talente fördert man. Deshalb wäre es mir lieb, wenn das gute Wort „Talent“ in der heute verbreiteten Rede von den „Potenzialen“ nicht verloren ginge.

Allerdings ist dabei folgendes zu bedenken: So weit heute von Talenten die Rede ist, denkt man in der Regel nur an überdurchschnittliche Begabungen, die in einem „Talentschuppen“ oder wo auch immer gesammelt werden. Die Tradition, die ich in Erinnerung rufen möchte, ist dagegen von der Überzeugung bestimmt, dass jeder Mensch ein Talent hat; jedem Menschen sind Gaben anvertraut, die er entfalten kann. Ihn zu fördern, bedeutet, ihm dabei zu helfen, dass diese Gaben ans Licht kommen. Niemand ist von solcher Förderung ausgeschlossen. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit, die deshalb vor allem anderen als Befähigungsgerechtigkeit zu verstehen ist. Bildung rückt dann in den Kern jeder Reformpolitik, die diesen Namen verdient. Sie soll Menschen dazu befähigen, Subjekt ihrer eigenen Lebensgeschichte zu werden, indem sie ihre Begabungen zum Zuge bringen.

III.

Youth at risk: Jugend in einer riskanten Lebenslage. So bezeichnet man heute die Situation junger Menschen im Übergang von der Schule zum Beruf. In diesem Übergang entscheidet sich häufig ein ganzes Leben. Wer keinen Zugang zum Erwerbsleben findet und auch sonst für sich keine Perspektive sehen kann, gerät an dieser Weichenstellung seines Lebens in eine existentielle Sackgasse. Natürlich steckt auch der langzeitarbeitslose Jugendliche noch voller Potenziale, natürlich verfügen auch Menschen ohne Berufsausbildung über Talente Aber einem guten Start kommt doch eine besondere, eine Potenziale freisetzende und insofern auch befreiende Rolle zu.

Dabei ist natürlich eine vollständige Engführung auf die klassischen Berufsfelder und -wege zu vermeiden. Selbstverständlich gibt es Künstlerinnen und Weltenbummler unter uns, Menschen, die ein oder zwei Jahre eines vagabundierenden Lebens brauchen, um sich über ihren Weg klar zu werden. Es gibt Menschen, die den Ruf zu einem Weg verspüren, der nicht an Karriere oder Erfolg orientiert ist. Die eine wird Malerin und nimmt lange Durststrecken auf sich, ohne je zu wissen, ob auf diesem Weg das Brot zu erwerben ist, nach dem auch die Kunst schauen muss. Der andere folgt einer religiösen Berufung und widmet seine Zeit der Stille, die so vielen anderen fehlt. Solche Wege, in freier Entscheidung gewählt, sind zu respektieren. Auf ihnen halten Menschen künstlerische, kulturelle und auch religiöse Räume offen, auf die wir alle angewiesen sind.

Eine besondere Konstellation ist die Entscheidung für Kinder und für eine Familie. Die bewusste Entscheidung einer jungen Frau oder eines jungen Mannes, sich in einer Lebensphase ganz auf die eigene Familie und die eigenen Kinder zu konzentrieren, gilt heute nicht mehr als zeitgemäß. Der Rückfall in ein Familienmodell des 19. Jahrhunderts wird gewittert. Ist das zu Ende gedacht? Wenn heute von einer größeren Pluralität der Lebens- und Familienformen die Rede ist, dann gehört auch das bewusste Ja zu Kindern mitsamt der Entscheidung, diesem Ja in der eigenen Lebensplanung Raum zu geben, dazu. Diejenigen Frauen und Männer, die sich bewusst für eine Familienzeit entscheiden und dafür Einkommenseinbußen in Kauf nehmen, verdienen nicht Spott, sondern Respekt.

Zu wünschen ist allerdings, dass eine solche Zeit nicht länger als Verlust an beruflicher Kompetenz gilt. Auch die Erfahrungen, die bei der Erziehung von Kindern zu sammeln sind, kommen der Sozialkompetenz zu Gute, ohne die kein Beruf adäquat ausgeübt werden kann. Insbesondere Hochschulen, Unternehmen und Verwaltungen sind dazu aufgerufen, Bedingungen zu schaffen, die Studierende und junge Berufstätige dazu ermutigen, Eltern zu werden. Denn die Bereitschaft dazu ist der Schlüssel für unser menschliches Leben; für die meisten von uns liegt darin eine entscheidende Quelle des persönlichen Glücks und der Erfahrung von Gottes Segen in unserem Leben. Es ist deshalb eine zentrale politische und gesellschaftliche Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine Entscheidung für Kinder ermöglichen und erleichtern.

Die heutige junge Generation steht unter dem Druck eines Lebensstaus, wie Paul Baltes das genannt hat. Jeder soll alles zugleich leisten; in der Spanne weniger Jahre nach der Schulausbildung sehen sich junge Menschen vielfältigen Ansprüchen ausgesetzt. Eine qualifizierte Berufsausbildung, der Einstieg in eine Berufslaufbahn, die Suche nach einer Lebenspartnerin oder einem Lebenspartner, die Gründung einer Familie gehören dazu. Frauen sind von diesem Lebensstau in aller Regel weit stärker betroffen als Männer; denn sie tragen zumeist immer noch die Hauptlast bei der Koordination dieser verschiedenen Anforderungen. Die Emanzipation der Männer ist noch nicht weit genug, als dass dies anders wäre. Junge Frauen geraten dadurch häufig in eine Situation, in welcher der Wunsch nach Kindern an die letzte Stelle rückt. So entsteht eine Spannung, die mich jedenfalls immer stärker beunruhigt. Auf der einen Seite stehen die gut ausgebildeten Frauen, die sich die Erfüllung ihres Kinderwunsches erst zutrauen, wenn es dazu zu spät ist; und auf der anderen Seite stehen die immer jüngeren Mädchen, die schwanger werden und keinen anderen Weg als den Schwangerschaftsabbruch sehen. Oder die Mutter der Vierzehnjährigen wird zugleich zur Großmutter eines neugeborenen Kindes.

IV.

„Die Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen“ heißt eine Aussage, die sich sowohl bei Martin Luther als auch bei Papst Johannes Paul II. findet. Der Satz ist nicht nur von poetischer Schönheit; er beschreibt auch, dass das Ja des Menschen zu seinem Leben sich elementar auch in seiner Arbeit Ausdruck verschafft. Diese Arbeit hat der Reformator Martin Luther mit dem Ehrentitel des Berufs ausgezeichnet: Jeder Mensch ist zu der besonderen Arbeit, in der er steht, von Gott berufen. Indem er den darin liegenden Auftrag erfüllt, stellt er sich in den Dienst des Nächsten. Darin liegt der tiefere Grund dafür, warum niemand seine Begabungen brach liegen lassen oder verschütten soll.

Aber gerade wenn die Arbeit eine so hohe Wertschätzung erfährt, muss sie auch so organisiert werden, dass alle an ihr Anteil haben, auch die Leistungsschwächeren. Wirtschaft soll mit allen betrieben werden. Die Ungleichheit, die mit der Gestaltung der Wirtschaft einhergeht und die notwendigerweise den Leistungsfähigeren mehr zukommen lässt als den Leistungsschwächeren, darf nur so groß sein, dass die dadurch gesteigerte Produktivität auch den Schwächeren ein würdiges Leben, das vollen Anteil an der Gesellschaft eröffnet, möglich macht. Gerechtigkeit ist zuallererst als Befähigungsgerechtigkeit, dann aber auch als Beteiligungsgerechtigkeit zu verstehen.

Die Bedeutung staatlichen Handelns in diesem Bereich darf nicht unterschätzt werden. Aber das staatliche Handeln bleibt Fragment, wenn es nicht begleitet wird vom Handeln anderer Akteure. Schulen und Wirtschaft, Familien und Betriebe sind ebenso gefordert, den Einstieg der jungen Generation in die Arbeit zu ermöglichen und die Entwicklung zu einer möglichst qualifizierten beruflichen Tätigkeit zu unterstützen. „Junge Generation und Arbeit“ ist deshalb der Focus des Carl-Bertelsmann-Preises 2005. Aber es ist noch mehr: Es ist ein Schlüsselproblem für die Zukunft unserer Gesellschaft.