Festrede anlässlich der Verleihung des Hanna-Jursch-Preises in Jena

Christoph Kähler

In meinem Jenenser Studienbuch versammeln sich die Unterschriften der Alttestamentlerinnen Waltraut Bernhardt, Jutta Körner, Eva Oßwald und der Kirchenhistorikerin Hanna Jursch. Sie beglaubigten den ordnungsgemäßen Besuch ihrer Veranstaltungen. Das alles geschah wohlgemerkt, bevor die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen 1969 die Ordination von Frauen ins allgemeine Pfarramt beschloss. Diese Diskrepanz aber zwischen Forschung und Lehre an der Fakultät einerseits und der kirchlichen Praxis in Thüringen andererseits war in allen Aufregungen des Jahres `68, muss ich rückblickend feststellen, für uns Theologiestudenten noch kein herausragendes Thema. Das hat sich nun doch gründlich gewandelt.

So freut es mich auch persönlich, im Namen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland in diesem Jahr zum dritten Mal den Hanna-Jursch-Preis für wissenschaftlich-theologische Arbeiten aus dem Bereich der theologischen Frauenforschung und der feministischen Theologie überreichen zu dürfen. Der Preis dient der Auszeichnung herausragender Arbeiten, die in diesem noch relativ jungen Forschungsfeld Maßstäbe für die wissenschaftliche Bearbeitung setzen. Bereits zum zweiten Mal können wir diesen Festakt hier in der Theologischen Fakultät der Universität Jena begehen. Damit etablieren wir die Übung, regelmäßig an den Wirkungsort der ersten Theologieprofessorin Deutschlands und Namengeberin des Preises zurück zu kommen.

Die dritte Ausschreibung des Preises, die unter dem Motto „Menschenbilder – Menschenwürde – Menschenrechte“ stand, hat erneut gezeigt, dass es auf dem Forschungsfeld Feministische Theologie mittlerweile eine Vielzahl äußerst anspruchsvoller Arbeiten gibt. Wir konnten als Jury aus einer großen Zahl bemerkenswert guter Arbeiten auswählen. Diese schöne Aufgabe hatte zumindest eine erhebliche Schwierigkeit, ist mit der Auszeichnung einer Arbeit doch gleichzeitig die Hintansetzung anderer aufschlussreicher und in verschiedener Hinsicht interessanter Arbeiten verbunden. Darin unterscheidet sich die Aufgabe eines akademischen Prüfers, der mehrere gleiche Prädikate vergeben darf, von einer Jury, die Ja und Nein zu sagen hat.

Sie, liebe Frau Dr. Konz, erhalten heute den Hanna-Jursch-Preis für Ihre Dissertation „Berta Pappenheim: Ein weiblich-jüdisches Projekt der Moderne“. Ihr Buch ist dabei viel mehr als eine akribische und kluge Recherche einer durch den Holocaust verschütteten jüdischen Biographie. Sie verstehen es, die damalige Zeit und ganz besonders die vielfältigen Beschränkungen, die bürgerliche Frauen – christliche wie jüdische – unterlagen, für die heutigen Leserinnen und Leser lebendig zu machen. Zugleich ermöglichen Sie uns den Blick über die Grenzen der eigenen Konfession in das jüdische Milieu des 19. und 20. Jahrhunderts und zeigen, dass die vielfältige wechselseitige kulturelle Beeinflussung von Juden- und Christentum neben spannungsvollen auch viele bereichernde Momente beinhaltet.

Bereits zum zweiten Mal zeichnet der Rat der EKD eine historische Arbeit mit dem Hanna-Jursch-Preis aus. Angesichts der Zahl der Fächer in der evangelischen Theologie, aus denen die Arbeiten stammen könnten, sind historische Arbeiten bisher relativ stark vertreten und ausgezeichnet worden, andere Disziplinen mussten dahinter zurücktreten. Das hat die Jury immerhin veranlasst, eine der nächsten Ausschreibungen auf bibelwissenschaftliche Arbeiten zu beschränken.

Die Anziehungskraft historischer Themen aber hat gute Gründe. Denn auch in unserer Kirche ist eine alte Regel Juvenals in der Darstellung der Geschichte immer noch nicht wirklich beherzigt worden. Wir zitieren sie heute allgemein in der Formulierung des älteren Dumas: Cherchez la femme! Wenn ich diesen Imperativ ein wenig umformulieren darf, dann wird daraus: Cherchez les femmes! Macht die Frauen ausfindig (die diese Geschichte verursacht haben)! Und diese Aufforderung soll und darf sich nicht nur auf Kriminalgeschichte beschränken.

Ihre Arbeit, liebe Frau Konz, legt am Leben der Jüdin Berta Pappenheim eindrucksvoll dar, welcher Monotonie und Begrenztheit Frauen des Bürgertums aufgrund des damals gültigen Frauenideals zu Zeiten der vorletzten Jahrhundertwende ausgesetzt waren und wie sie sich aus dieser Enge zu befreien versuchten. Die eindringliche gesellschaftliche Situationsbeschreibung lässt fast zwangsläufig die Frage aufkommen, wie es denn um die Frauen unserer Kirche in dieser Zeit bestellt war.

Der vergleichende Blick offenbart überraschend viele Parallelen. Christliche wie jüdische Frauen des Bürgertums waren vom öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen. Ihr Leben war auf den privaten Bereich beschränkt. Auch dort hatten sie kaum eigene Gestaltungsräume, sondern waren abhängig von den Ehemännern, wie ein Blick etwa in das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 lehren kann. Enge Grenzen und Beschränkungen kennzeichnen ebenso ihre Situation in den jeweiligen Religionsgemeinschaften. Für ihren Wunsch nach Engagement und Anerkennung ihrer Potentiale war zunächst weder in den Synagogen noch in den Kirchen Platz.

Auch die Frauenverbandsarbeit entwickelt sich parallel zu dem von ihnen dargestellten Prozess: 1899 wird zum Gründungsjahr der evangelischen Frauenbewegung, in dem der Deutsche Evangelische Frauenbund und die Evangelische Frauenhilfe entstehen. 1903 wird der jüdische Frauenbund gegründet. Jüdischer wie evangelischer Frauenbund verstehen sich als Teil der bürgerlichen Frauenbewegung und werden Mitglied im Bund Deutscher Frauenvereine, dem Dachverband der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland. Beide Verbände zählten dort zum eher konservativen Flügel. Beide definierten sich über die von ihnen geleistete Wohlfahrtsarbeit und lehnten manch radikale Forderung nach weitergehender Frauenemanzipation ab.

Das Entstehen beider Frauenverbände ist eng verknüpft mit der sozialen Frage der damaligen Zeit. Armut und Entwurzelung der unteren sozialen Schichten hatten infolge der Industrialisierung bedrohliche Ausmaße angenommen. Beide Gruppen – die jüdischen wie die christlichen Bürgerinnen – sahen sich aufgrund ihres Glaubens dazu berufen, den überlasteten Familien der unteren Schichten durch karitative Arbeit zur Hilfe zu kommen. Neben ihren sozialdiakonischen Engagement machten sie sich stark für die religiös-sittliche Erneuerung des Volkslebens. Wie ihre jüdischen Schwestern wandten sie sich dabei aber auch gegen die sexuelle Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft. Statt mit der Sittlichkeitsbewegung gegen die Prostituierten zu Felde zu ziehen, entlarvten sie die Art und Weise wie dies geschah als verlogen und frauenfeindlich und kümmerten sich um die sogenannten „gefallenen Mädchen“. Sie schöpften die Kraft dazu aus ihrem Glauben. Indem sie für andere tätig wurden und eine für die Gesellschaft wertvolle und wichtige Arbeit leisteten, eröffneten sie zugleich auch neue Handlungsfelder, Berufe und Lebensziele für sich selbst. Die sozialdiakonische Arbeit half ihnen, sich aus der auf den Ehemann festgelegten Frauenrolle zu befreien und eine sinnvolle Tätigkeit zu finden.

In ihren Synagogen oder Kirchen galten ihre Ideale und Ziele als nahezu revolutionär und trafen zum Teil auf erheblichen Widerstand. Auch in unserer Kirche befürchteten viele Männer, die evangelische Frauenbewegung werde die – nach ihrer Auffassung – bewährte Ordnung der Geschlechter zerstören. Was sollte aus der Familie als Zuflucht und Erholungsstätte für den Mann werden, wenn auch noch bürgerliche Frauen ihre Kräfte auf Aktivitäten außerhalb des Hauses richteten? Kaum jemand, der heute Diakonissen mit ihren Trachten sieht, ahnt, welche emanzipatorische Leistung es bedeutete, diese jungen unverheirateten Frauen in der Kleidung und damit in den Rechten den Verheirateten gleich zu stellen.

Auf ein anderes Beispiel weitsichtigeren und insgesamt dialogfähigeren Verhaltens gegenüber den emanzipatorischen Bewegungen der Moderne möchte ich noch verweisen: auf den Evangelisch-Sozialen Kongress. Er widmete sich nicht nur immer wieder der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Frauen, sondern auch den Anliegen der Frauenbewegung, ja hier kamen Frauen auch selbst zu Wort. Es war auf der Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses 1895 in Erfurt, als erstmalig eine Frau in einem bürgerlichen Forum zu einem öffentlichen Vortrag eingeladen wurde. Elisabeth Gnauck-Kühne sprach über die soziale Lage der Frauen. Als elf Jahre später der Evangelisch-soziale Kongress zum zweiten Mal in Thüringen tagte und zwar hier in Jena, sprachen Gertrud Bäumer und Friedrich Naumann über „Die sozialen Forderungen der Frauenbewegung im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage der Frau.“

Mit diesem kurzen Blick auf die Anfänge einer evangelischen Frauenbewegung in Deutschland sind wir nun (und nicht von ungefähr) wieder in Jena gelandet.

Wir sind heute hier, weil Hanna Jursch an der hiesigen Theologischen Fakultät als erste Theologin eine Professur erhalten hatte. Dass sie dabei keine Laufbahn im üblichen Sinne des Wortes durchschritt, sondern gerade auch als Frau und als Nicht-DC (und Nicht-Pg) von den Nationalsozialisten der Friedrich-Schiller-Universität vielfach behindert und gehindert wurde, bevor sie nach 1945 ihren Platz an der Fakultät fand, hat Eberhard Pältz in seiner Akademischen Gedenkvorlesung am 21. September 1972 ausführlich dargestellt.

Ich möchte aber gerade auch als Thüringer zugleich an andere Jenenser und Thüringer Frauen erinnern, die als evangelische Christinnen in die „Männerwelt“ eingewandert sind – mit allen Schwierigkeiten, die regelmäßig Einwanderinnen begegnen. Zu ihnen gehören die Ehefrauen zweier Hochschullehrer der Theologischen Fakultät, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als promovierte bzw. diplomierte Pädagoginnen auf dem Feld der Religionspädagogik bzw. der Sozialpolitik hervorgetreten sind: Ada Weinel, die Frau von Heinrich Weinel, dem Ordinarius für Neues Testament, und Helene Glaue, die Frau von Paul Glaue, der als Pfarrer und Privatdozent in Jena wirkte. Letztere kämpfte auch, so nachzulesen 1927 in der Zeitschrift „Die Frau“, für den Beruf der „Pfarrerin“. In der thüringischen evangelischen Kirche wurden zwar ab 1928 auch Frauen ordiniert, zunächst jedoch nur für den Dienst in der Sonderseelsorge. Gertrud Schäfer, die zu dem ersten Ordinationsjahrgang gehörte und die zunächst hier in Jena als Krankenhaus- und Gefängnisseelsorgerin sowie als Religionslehrerin arbeitete, bekam erst 1965 die Dienstbezeichnung „Pastorin“ zuerkannt.

Da ich vorhin von den Evangelischen Frauenverbänden sprach, sollen zumindest auch die Namen der beiden Frauen erwähnt werden, die in der Thüringer Landeskirche nicht nur eine evangelische Frauenarbeit aufgebaut, sondern auch in der NS-Zeit tapfer für sie gekämpft und sie nach 1945 wieder neu aufgebaut haben: Adelheit Eitner und Hedwig Pfeiffer (beide sind 1949 bei einem Zugunglück ums Leben gekommen).

Der Rückblick auf die Geschichte der evangelischen Frauenbewegung und insbesondere auf Vertreterinnen aus Jena und aus Thüringen ist nicht nur aufgrund der Kürze der Zeit so lückenhaft ausgefallen. Es ist nach wie vor noch ein Feld mit vielen Desideraten. Daher freue ich mich, dass die Fakultät hier sich auch dieser Aufgabe stellt. Vielleicht ist, wenn wir in einigen Jahren wieder eine historische Arbeit auszeichnen, eine thüringische darunter.