Predigt über Jesus Sirach 40,18-28

Hermann Barth

Gottesdienst im Anschluß an den Geburtstagsempfang von Präsidentin Sigrid Maier-Knapp-Herbst im Kloster Wülfinghausen

Liebe Geburtstagsfestgemeinde!

I
Bestenlisten sind "in". Man spricht heute auch gern von Charts. Es gibt sie für die meistverkauften Buchtitel, für die Fernsehsendungen mit den höchsten Einschaltquoten, für die beliebtesten Songs und und und ... Das ZDF hat aus der Frage nach "Unseren Besten" eine ganze Serie gemacht: Erst wurden die 100 größten Deutschen ermittelt, dann sollten die 50 Lieblingsbücher der deutschsprachigen Leser herausgefunden werden, zuletzt ging's um die populärsten deutschen Fußballer. Es werden auch ganz skurrile Listen publiziert; gerade in der letzten Woche las ich in der Zeitung eine Meldung über die Top Ten der größten Spritfresser - keine Sorge, die gängigen Dienstwagen sind nicht dabei. Wer wissen will, zu welchen verrückten Themen sonst noch Listen aufgestellt worden sind, für den gibt es unter dem Titel "Das Beste von allem" jetzt sogar ein "Buch der Listen" (hg. v. Christine Brinck, Hamburg 2005).

Bestenlisten aufzustellen ist eine Mischung aus Spiel, Wettstreit und Betätigung des Ordnungssinns. Die Suche nach den 50 Lieblingsbüchern war ein hübsches Gesellschaftsspiel: Es mobilisierte eigene Erinnerungen und Leseerfahrungen, und es brachte Menschen miteinander ins Gespräch. Aber das spielerische Element wurde gewürzt durch eine Prise Wettstreit: Wer ist Spitze? Wer gewinnt? Schließlich bringt die Frage danach, wer besser ist als andere, auch ein bißchen Ordnung in die Welt. Die unüberschaubare Fülle der Erfahrungen wird sortiert. Es ist nicht alles gleich wichtig, es ist nicht alles gleich gut, es gibt eine Rangfolge.

Das Interesse, ja der Spaß an der Aufstellung von Bestenlisten ist keine moderne Erscheinung. Denn Spiel und Wettstreit und Ordnungssinn - diese drei Triebkräfte des Interesses an Bestenlisten - beschäftigen nicht erst den Menschen des 20. und des 21. Jahrhunderts.

In einem weithin vergessenen und verkannten Teil der Bibel, nämlich dem Buch Jesus Sirach, findet sich eine Liste der 30 besten Dinge des Lebens. Das ist eine Fragestellung, die zur Feier eines 60. Geburtstages nicht schlecht paßt. Runde Geburtstage sind Anlaß zur Bilanz, zum Rückblick und zum Ausblick: Was war besonders schön? Was hat Bestand? Was zählt im Leben wirklich? In der Liste des Jesus Sirach werden genau 30 Dinge genannt, immer drei zusammen, und zwar nach dem Muster: A und B sind prima, aber noch besser ist C. Eine Reihenfolge von 1 bis 30 wird nicht aufgestellt. Es gibt allerdings eine unbestrittene Nummer Eins: die Furcht Gottes. Sie steht darum auch am Schluß, und ihr werden einige Extrazeilen gewidmet. Hören Sie aus dem 40. Kapitel des Buches Jesus Sirach die biblischen Top 30 unter den Gütern des Menschenlebens:

 

18 Wer von seiner Arbeit lebt und wer bescheiden ist,
der hat ein gutes Leben;
 aber besser als beide hat es der, der einen Schatz findet.
19 Kinder zeugen und Städte gründen
machen einen bleibenden Namen,
 aber besser als beides  ist es, Weisheit zu finden.
Viehzucht und Ackerbau
lassen den Leib gedeihen,
 aber mehr als beide eine untadelige Frau.
20 Wein und Saitenspiel
erfreuen das Herz,
 aber mehr als beide die Freundesliebe.
21 Flöte und Harfe
klingen schön,
 aber besser als beide ist eine freundliche Rede.
22 Anmut und Schönheit
sieht das Auge gern,
 aber mehr als beide die Blumen des Feldes.
23 Einem Freund und einem Gefährten
begegnet man gern,
 aber mehr als beiden der Frau, mit der man lebt.
24 Brüder und Helfer
sind gut in der Not,
 aber mehr als beide rettet Almosengeben.
25 Gold und Silber
lassen einen Mann sicher stehen,
 aber mehr als beide ein guter Rat.
26 Reichtum und Macht
erhöhen den Mut,
 aber mehr als beide die Furcht des Herrn.
27 In der Furcht des Herrn
fehlt einem nichts,
 und man braucht keine Hilfe.
 
28 Die Furcht des Herrn
ist wie ein Eden des Segens,
 über seine ganze Pracht breitet sich ihr schirmendes Dach.

II
Täusche ich mich sehr, wenn ich annehme, daß diese Liste in überraschender Weise abweicht von dem, was wir von einer biblischen Liste der 30 besten Dinge des Lebens erwarten würden? Man stellt sich ein auf eine Sammlung frommer Themen und geistlicher Güter, und stattdessen bekommt man es weit überwiegend mit ganz weltlichen, sozusagen ganz normalen Dingen zu tun. Flöte und Harfe und Saitenspiel stehen für die Musik als Quelle der Lebensfreude. Freunde, Helfer in der Not, Geschwister, Ehepartner werden genannt, weil jeder weiß: Keiner lebt für sich allein, wir sind angewiesen auf ein Netzwerk von menschlichen Beziehungen. Sich mit seiner Arbeit selbst zu ernähren, sich in Dörfern und Städten gemeinschaftlich anzusiedeln, in den Kindern das Leben an eine nächste Generation weiterzugeben - diese Dinge geben in der Abfolge der Generationen dem Leben der Menschen Dauer. Aber das Leben gewinnt seinen Glanz erst durch die Dinge, die über den puren Lebensunterhalt hinausgehen: Anmut, Schönheit, die Blumen des Feldes. An einem Tag wie dem heutigen würde man sicher gern hinzufügen: Kloster Wülfinghausen.

Diese Liste ist eine Liste des gesunden Menschenverstandes. Daß sie in der Bibel steht, ist auf ihre Weise eine Bestätigung für den schönen Satz, den Karl Barth, mein berühmter theologischer Namensvetter, einmal formuliert hat: "Der heilige Geist ist ein Freund des gesunden Menschenverstandes." Die Bibel geht nicht im gesunden Menschenverstand auf - Gott sei Dank. Der Glaube ist im Kern ein kindliches Vertrauen: daß ich mich, wenn es um den Trost im Leben und im Sterben geht, ganz auf Gott und seine Güte verlasse und nicht auf meine eigenen Kräfte und Leistungen, auch nicht auf den gesunden Menschenverstand. Aber das bringt den Glauben und die Glaubenden noch lange nicht in Distanz oder gar in Gegnerschaft zum gesunden Menschenverstand. Was er uns lehrt über die besten Dinge des Lebens - darauf dürfen wir uns getrost einlassen, gerade auch dort, wo er fromme Vorurteile und frömmlerische Verklemmtheiten in Frage stellt und korrigiert.

Die Bestenliste des Jesus Sirach enthält nämlich auch Einträge, die manche Christen nur mit sehr spitzen Fingern anfassen: Wein, Gold und Silber und Reichtum, Macht. Die Freude an diesen Dingen wird gelegentlich nur verstohlen bekundet und mit einem permanenten schlechten Gewissen erkauft. Aber auch sie sind Gaben Gottes, also keineswegs gottesfern oder gar gottlos. Wahr ist: Sie können mißbraucht werden, und der Mißbrauch hat in ihrem Fall besonders schwerwiegende Folgen. Aber der gesunde Menschenverstand sagt uns auch: Der Mißbrauch schließt den vernünftigen Gebrauch nicht aus.

III
In der Bestenliste des Buches Jesus Sirach kommt der Name Gottes nur bei einem der 30 besten Dinge des Lebens vor, dies allerdings in hervorgehobener Weise am Schluß der Liste:

Reichtum und Macht erhöhen den Mut,
aber mehr als beide die Furcht des Herrn.

In der Furcht des Herrn fehlt einem nichts,
und man braucht keine Hilfe.


In einem wunderbaren Bild wird entfaltet, was wir von der Furcht Gottes erwarten dürfen:

Die Furcht des Herrn ist wie ein Eden des Segens,
über seine ganze Pracht breitet sich ihr schirmendes Dach.
 
Wer diese Schlußwendung verstehen will, muß freilich erst den Schutt der Mißverständnisse beiseiteräumen, der sich über dem Gedanken von der Furcht Gottes angesammelt hat. Furcht Gottes hat heutzutage keinen guten Leumund. Die meisten hören heraus Furcht vor Gott und stellen sich dabei einen Big Brother-Gott vor, und zwar den Big Brother im Geiste George Orwells, nicht den harmlosen Big Brother von RTL 2, also einen einschüchternden, auf Schritt und Tritt kontrollierenden, rigoros bestrafenden Gott, der Angst einflößt und einflößen will. Es wird sehr viel Mühe kosten, aber es ist auch der Mühe wert, die Vorstellung von der Furcht Gottes von solchen Entstellungen zu reinigen.

Am ehesten gelingt das, wenn wir den Begriff "Furcht" durch den Begriff "Ehrfurcht" ersetzen oder von ihm her neu füllen. In Ehrfurcht gegenüber Gott leben heißt doch dreierlei:

Zum ersten geht es schlicht darum, um Gott zu wissen und mit ihm zu rechnen, sich nicht vom verbreiteten Bazillus der Gottvergessenheit anstecken zu lassen. Das ist mitnichten eine theoretische, vielmehr eine eminent praktische Angelegenheit, wie ich aus einer Anekdote gelernt habe:

Hellmut Keusen, ehemals Leiter des Evangelischen Studienwerks Villigst, reiste einmal mit einem Nachtzug zur Universität in Wien. Im gleichen Abteil saß auch ein Türke mit viel Bagage. Plötzlich fragte er Keusen: "Glaubst du an Gott?" Als Keusen verlegen erklären wollte, daß er zwar an Gott glaube, aber ganz sicher doch an einen anderen, als jener unter Allah verstehe, setzte der Türke nach: Nein, er wolle wissen, ob er es bei dem im Abteil Mitreisenden mit jemandem zu tun habe, der an Gott glaubt; denn wenn er das tue, könne er, während er sich in den Speisewagen begebe, sein Gepäck unbesorgt im Abteil zurücklassen. Keusen später dazu: "So praktisch kann Gottesglaube sein!"

Zum zweiten geht es darum, Gott nicht zu verharmlosen, ihn nicht auf menschliches Maß zurückzustutzen. Es gibt keine wirklich religiösen Empfindungen ohne das Bewußtsein eines unendlichen Abstandes zwischen Gott und Mensch, also ohne Erschaudern vor der Größe Gottes, darum auch ohne das Erschrecken angesichts der Frage, die sich nicht wenige aus dem Widerstand des 20. Juli gestellt haben: Wie soll ich im Gericht Gottes bestehen, wenn ich jetzt nicht widerstehe und etwas Tapferes tue? Verantwortung vor Gott gibt meinem Tun noch einmal einen ganz anderen Ernst, als wenn ich mich vor mir selbst oder vor anderen oder vor einem menschlichen Gericht verantworte.

Zum dritten geht es darum, sich das Staunen über die wunderbare und lebensförderliche Einrichtung des Lebensraums Erde zu bewahren oder es wieder neu zu lernen. "Je genauer wir verstehen, um so größer soll das Staunen sein", hat der Pianist Alfred Brendel einmal über die Werke der musikalischen Literatur gesagt. Aber das gilt genauso für die Werke der Schöpfung. Je genauer wir verstehen, um so größer ist die Ehrfurcht und die Dankbarkeit und die Wahrnehmung der menschlichen Verantwortung, dieses Wunderwerk zu pflegen und nicht unwiederbringlich zu schädigen.

Martin Luther hat in seinem Kleinen Katechismus die Gottesfurcht eng mit der Liebe zu Gott und dem Vertrauen zu Gott verklammert. Beim 1. Gebot ("Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine anderen Götter haben neben mir") heißt seine Antwort auf die Frage "Was ist das?": "Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen." Und die Erklärung aller weiteren Gebote wird stereotyp eingeleitet mit der Formel: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir ...", und dann erst folgt die spezielle Aussage zu dem jeweiligen Gebot.

Wenn wir von der Furcht Gottes in diesem Sinn selbst wieder zu denken lernen und andere zu diesem Denken hinführen, dann bleiben die Worte Jesus Sirachs nicht bloß schöne Sprache - das sind sie auf jeden Fall -, dann werden sie uns zur schönen Erfahrung:

In der Furcht des Herrn fehlt einem nichts,
und man braucht keine Hilfe.

Die Furcht des Herrn ist wie ein Eden des Segens,
über seine ganze Pracht breitet sich ihr schirmendes Dach.

Amen.