Nach oben buckeln, nach unten treten? (Jak 2, 1- 13)
Robert Leicht
Predigt in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg zum 18. Sonntag nach Trinitatis
LUT James 2:1 Liebe Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person. 2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung 3 und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!, 4 ist's recht, daß ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken? 5 Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben? 6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? 7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist? 8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; 9 wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter. 10 Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig. 11 Denn der gesagt hat: »Du sollst nicht ehebrechen«, der hat auch gesagt: »Du sollst nicht töten.« Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes. 12 Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. 13 Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.
Eine Szene, wie aus dem wirklichen Leben gegriffen: Was würden denn Sie, was würden denn wir machen, wenn zwei Leute zu uns zu Besuch kämen - der eine adrett gekleidet und säuberlich gekämmt, der andere recht schmuddelig, also wie es in unserem Predigttext heißt: „in unsauberer Kleidung“? Einfach so tun, als ob wir den Unterschied gar nicht wahrnähmen?
Oder in der Kirchenbank, vor dem Gottesdienst, für den wir uns ordentlich herausgeputzt haben, wenn auch nicht mehr so formell wie vor 30, 40 Jahren, als es mindestens der Konfirmandenanzug oder das Nachfolgestück mit weißem Hemd und Krawatte sein musste - und nun schlurft kurz vor dem Ende des Geläutes noch eine Person herein, die wir - aber nur, sofern wir uns ohne Aufsicht wähnen - vielleicht einen Penner nennen würden, mit einer leichten Fahne, die unser dezentes Rasierwasser deutlich übertrifft? Würden wir dann, wenn es irgend geht, nicht doch zwei, drei Plätze weiter rutschen - oder gar noch die Bank wechseln? Was wäre uns dann wichtiger - die Gemeinschaft im Heiligen Geiste oder eine Gleichheit im bürgerlichen Habitus? Hand aufs Herz!
Damit wir uns aber nicht falsch verstehen: Der Brief des Jakobus möchte uns nicht zu Anhängern einer ungepflegten Lebensweise umerziehen. Von ihm - und von mir aus - dürfen wir ruhig ein wenig die Nase rümpfen, wenn es unnötiger Weise streng riecht. Es geht vielmehr, umgekehrt darum: Wieso neigen wir zur Liebedienerei, wenn jemand den Raum betritt - prominent, vermögend, einflussreich, mit Statussymbolen an Handgelenk und Fingern, inzwischen auch immer häufiger am Ohr? Weshalb ziehen wir immer wieder, vielleicht sogar bei kirchlichen Festakten, Personen vor, denen es eh schon besser geht - und die die Erwartung einer solchen Vorzugsbehandlung längst verinnerlicht haben.
Das kann bisweilen zu komischen Szenen führen. Beim ökumenischen Gottesdienst zur Eröffnung er neuen Legislaturperiode kam einer der Ministerpräsidenten recht spät und lief in letzter Minute schnell zur ersten Reihe, nur um dort festzustellen, dass für ihn ein namentlich reservierten Sitz gar nicht vorgesehen war - es galt nämlich in Berlin ein anderes Protokoll als bei ihm zuhause; und so musste er sich eben auf einen der letzten namenlosen Plätze in der dritten Reihe bequemen. Selbst die Privilegien des Protokolls sind noch ungleich verteilt - bei uns.
Und wie war das in der Gemeinde, in den Gemeinden, an die sich der Jakobus-Brief wandte? Wir müssen nicht gleich unterstellen, dass dort das selbe Prominenz- und Privilegiengetue die Regel war wie in unserer Gesellschaft - oder vielleicht auch in den damaligen Gesellschaften um die christliche Gemeinde herum, denn so wesentlich dürften die Menschen sich über die Jahrtausende kaum geändert haben. Aber der Jakobus kannte seine Zeitgenossen und auch die Pappenheimer in den Gemeinden so gut, dass er sich beides vorstellen konnte: Dass es einerseits selbst in der Kirche da und dort zur Privilegienreiterei und Promi-Verehrung kommen könnte - und dass andererseits seine Hörer und Leser es durchaus verstehen würden, wenn er an einem solchen gedachten Beispiel etwas Besonderes verdeutlichen möchte:
2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung 3 und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!, 4 ist's recht, daß ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?
Es geht also um Unterschiede und Unterscheidungen! Doch wiederum nicht gegen die Unterscheidungen als solche - denn auch Christen haben zu unterscheiden, bisweilen sogar streng: zum Beispiel zwischen Gott und Götzen, zwischen Gut und Böse. Aber es gibt eben auch Fälle, in denen sind gerade die Unterscheidungen - böse. Zum Beispiel, wie wir beim flüchtigen Hinhören schon vermuten könnten: die Unterscheidung zwischen arm und reich.
Doch würden wir bei einer so flüchtigen Betrachtung wieder einen falschen Unterschied machen, denn die Unterscheidung zwischen arm und reich, rein als solche, ist an dieser Stelle nicht das Thema - so wichtig es in einem andern Zusammenhang sein mag. Denn im Gegensatz zum Alten Testament, in dem Reichtum eine positive Größe sein kann, ja eine deutliche Auszeichnung durch Gott (die Urväter waren durchaus reich, Hiob - der zugewanderte Ausländer - war am Ende seiner Prüfungen sogar doppelt so reich wie anfangs) - im Gegensatz zum Alten Testament überwiegt im Neuen Testament durchaus die Reichtumskritik. Was allerdings auch damit zu tun haben kann, dass die ursprünglichen Anhänger Jesu ja nicht gerade aus den etablierten Kreisen kamen: Weshalb sollten sie zu einem ihnen nie erreichbaren Reichtum ein positives Verhältnis haben.
Aber nun kommt es zum Erstaunlichen in der Ausbreitungsgeschichte der Botschaft des Jesus von Nazareth: Mit einem Mal tauchen, wohl unerwartet, auch reiche Leute in den Gemeindeversammlungen auf. Was mag sie an diesem auf den ersten Blick doch nur reichtumskritischen Evangelium angezogen haben?
Obwohl bei Matthäus 19,24 steht:
„Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme,“
heißt es in unserem Predigttext nicht: „Wenn Reiche zu Euren Versammlungen kommen wollen - schickt sie wieder hinaus. Sie haben dort nichts verloren.“ Diese reichen Leute sind ja, im Gegenteil, der Gemeinde durchaus willkommen - vielleicht hofft man sogar auf Sponsoren und deren Gelder. Aber in die Gemeinden kommen Spaltungen hinein - nicht schon wegen des Unterschiedes zwischen arm und reich selber, sondern wegen der unterschiedlichen Behandlungen, welche die Gemeinde den verschiedenen Leuten zukommen lässt:
Setze du dich hierher auf den guten Platz! - Setze dich unten zu meinen Füßen!
Die Leute sind also geneigt, Unterschiede zu machen, wo Gott keine macht. Sie urteilen mithin - mitten in der Gemeinde - unter Ansehung der Person, obwohl doch schon der einfachste staatliche Amtsrichter ausdrücklich ohne Ansehen der Person urteilen soll. Und das machen sie absurderweise auch noch, obwohl diese neuen Reichen ihnen Gewalt antun (oder doch antaten), sie vor Gericht zogen und obwohl sie den Namen Christi zumindest früher verlästert hatten. Wie weit müssen also die vernünftigen, geschweige denn die christlichen Maßstäbe verdreht worden sein, wenn man solchen vermögenden Privilegienträgern auch noch den Hof macht.
Die Armen tauchen hier auf als die eigentlich Privilegierten Gottes:
Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?
Man könnte sich ja immerhin fragen, ob die Armen sozusagen von Natur aus die besseren Menschen sind, von Sünde und Versuchungen, gar von Verbrechen völlig frei. Das wird aber gar nicht behauptet. Gott wendet sich Ihnen, so verstehe ich diesen Text, indessen bevorzugt zu, weil sie es einfach schwerer haben in ihrem Leben, weil sie Trost und Unterstützung nötiger haben - und weil sie, schon mangels aller äußeren Mittel, gar nicht in Versuchung kommen können, an dem eitlen Getue der Privilegiengesellschaft mit all seinen falschen Maßstäben mitzuspielen, mit jenen falschen Maßstäben, die von den wirklichen Fragen des harten und begrenzten Lebens doch nur ablenken. (Übrigens: Viel später, nämlich vor nunmehr 108 Jahren sollte Johann Hinrich Wichern etwas anderes sagen, als dass die Armen näher bei Gott stünden - nämlich: Gerade ihre Armut, Not und Bedrängung hindere sie darin, Gottes Wort überhaupt zu hören, erst recht von einer Kirche der bürgerlich und staatlich, wirtschaftlich und militärisch Etablierten. Aber auch hier müssen wir sorgfältig unterscheiden: Nicht dass die Armen Gott näher stünden, ist der Punkt - sondern dass Gott den Armen näher steht.)
Die Ermahnung des Jakobusbriefes bündelt sich in dem Begriff „Ansehen der Person“:
Liebe Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.
Aber auch hierin sollten wir wieder sauber unterscheiden: Genau genommen sieht nämlich selbst Gott nur, ausschließlich - ja, geradezu pointiert - auf die Person. Ohne „Ansehen der Person“ hat also zu heißen: ohne jeden Blick auf die äußerlichen Merkmale, ohne Schielen auf die Attribute, auf die Privilegien und die Macht, den Einfluss und auf das Geld der Person. Wohl, sehr wohl aber allein mit Blick auf die sozusagen nackte, aller äußeren Attribute und Verdienste entkleideten Person selber. Denn davon, dass Gott uns so sieht, als nackte Person, ohne unser Versagen, ohne unsere (oft nur vermeintlichen) Verdienste, einfach als sein armes Gegenüber, reich nur in seinem Gegenlicht - davon leben wir doch, darauf dürfen wir hoffen. Wollen wir nicht einfach versuchen, gegenüber unseren Mitmenschen es ihm ein klein wenig gleichzutun? Was meinen Sie - wenn wir das einmal versuchten, eine Woche lang, zu Anfang - wie viel wir an uns entdeckten, was diesem gnädigen Blick allein auf die Person entgegensteht. Um so mehr!
Amen.
Fürbittengebet:
Herr Gott, himmlischer Vater:
Du allein siehst uns, wie wir wirklich sind - nicht so, wie wir gerne gesehen werden wollen.
Wir bitten Dich: Wende Deinen Blick nicht von uns ab - über allem was Du an uns erkennst, über allem, was wir verbergen wollen, vor Dir und anderen.
Wir leben davon, dass Du in uns allein die Person siehst, Dein von Dir gewähltes Gegenüber. - nichts das, was wir uns überstreifen, das, womit wir uns behängen und zieren.
Herr Gott, gnädiger Vater:
Lenke so auch unseren Blick auf unseren Nächsten, auf dass wir ihn nicht weniger schätzen als uns selbst. Lass uns durch alle äußeren Privilegien hindurch und über alle glänzenden oder schäbigen Attribute hindurch, allein jene Person erkennen, die Deiner bedarf - wie auch wir selbst.
Herr Gott, allmächtiger Vater:
Setze doch alle, die in Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und auch in der Kirche Verantwortung tragen, in den Stand, dass sie die wahren Bedürfnisse derer erkennen, denen sie dienen sollen und wollen. Nimm ihnen die Angst um Ihre eigenen Privilegien und ihre oft nur kleine Macht - und mache Sie frei vom Blick auf die Prominenz und vermeintliche Wichtigkeit derer, die sie liebedienerisch umschmeicheln oder eifersüchtig mit ihnen rivalisieren; auf dass sie mit klarem Blick urteilen können - ohne Ansehen der Person und gerade darin den Menschen zugute.