"Die Religionen und der säkulare Staat" - Vortrag beim Reformationsempfang in Wien

Wolfgang Huber

I.

Das Verhältnis von Religion und Staat, von Religion und Politik ist in unseren Tagen neu zum Thema geworden. Denn die Religion selbst hat sich auf der öffentlichen Bühne zurückgemeldet. Heute geschieht das allerdings so, dass wir die Pluralität von Religion wahrzunehmen haben. Nicht mehr „Religion und Staat“ oder „Kirche und Staat“, sondern eben „die Religionen und der Staat“ drängen sich heute als Thema auf. In Ihrem Land ist dieses Thema beispielsweise im Wahlkampf zu den Nationalratswahlen am 1. Oktober deutlich zutage getreten, insbesondere im Blick auf die Rolle des Islam. Vergleichbares kann ich auch aus Deutschland berichten. Aber auch weltpolitische Entwicklungen nötigen uns dieses Thema auf.

Auf der weltpolitischen Bühne treten Verbindungen zwischen Religion und politischer Machtausübung auf, die man aus einer europäischen Perspektive als längst überholt angesehen hatte. Die islamistische Verbindung von Religion und Macht ist dafür ebenso ein Beispiel wie der wieder erstarkte Hindu-Nationalismus in Indien. Die neue Nähe zwischen Religion und Politik, die sich in den USA unbeschadet des von der Verfassung vorgesehenen „wall of separation“ zwischen Staat und Kirche entwickelt hat, weist ebenso in diese Richtung wie eine neue Nähe zwischen Kirche und Staat in manchen orthodox geprägten Ländern. „Der Staat und die Religionen“ ist nicht nur ein europäisches Thema; und die Frage danach, wie dieses Verhältnis bestimmt und geordnet werden kann, stellt sich keineswegs nur im Horizont des christlichen Glaubens. Wir sind dazu herausgefordert, kritisch zu prüfen, inwieweit die europäische Entwicklung zu einem auf Dauer tragfähigen Modell geführt hat, und ob wir dieses Modell auch für andere als verbindlich ansehen können. Lässt sich der Verzicht der Religion darauf, sich mit den Mitteln staatlichen Zwangs Anerkennung zu verschaffen, mitsamt der dazu gehörigen Vorstellung vom säkularen Charakter der staatlichen Ordnung auch für andere Traditionen als verpflichtend zur Geltung bringen? Taugt die Zusammengehörigkeit von Demokratie, Religionsfreiheit und säkularem Staat als Modell? Ist sie womöglich sogar eine unentbehrliche Voraussetzung für den Frieden zwischen den Religionen wie auch für den Frieden zwischen den Staaten?

II.

Mit jeder Religion verbindet sich ein umfassender Anspruch. Es gibt keine Religion, die ohne Konsequenzen für die Lebensführung bleibt. Insofern hat jede Religion auch eine politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben. Der moderne Staat erwartet, dass dies in einer Form geschieht, die mit der Pluralität in der Gesellschaft vereinbar ist. Die offene Gesellschaft westlicher Prägung lebt besonders deutlich von einer Vielfalt von Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen, deren Beziehungen zueinander in einem zivilgesellschaftlichen Prozess öffentlicher Verständigung auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden müssen. In einem langen und durchaus schmerzhaften geschichtlichen Lernprozess, zu dem die Konfessionskriege der frühen Neuzeit genauso gehören wie der Übergang zu innerstaatlicher religiöser Pluralität im 18. Jahrhundert, haben die europäischen Gesellschaften gelernt, Toleranz als das Komplementärprinzip zur Religionsfreiheit zu begreifen. Toleranz meint dabei nicht: alles für richtig zu halten und jedem Recht zu geben. Wenn alles gleich gültig ist, wird alles gleichgültig. Oder noch etwas drastischer: Wer nach allen Seiten hin offen ist, ist nicht mehr ganz dicht.

Religiöse Toleranz in einem ernsthaften Sinn meint das Aushalten und Austragen von Differenzen in Anerkennung der Verbindlichkeit von religiösen Überzeugungen. Eine freiheitliche Gesellschaft, in der religiöse Überzeugungen ernst genommen werden, braucht eine wache, selbstbewusste Toleranz, die den Dialog einfordert, um gemeinsam Antworten auf die für alle wichtigen Fragen zu suchen. So tut der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich einen einleuchtenden Schritt, wenn er - wie bei den Nationalratswahlen geschehen - den Christinnen und Christen sowie allen Menschen guten Willens in Österreich mit „Fragen zur politischen Verantwortung“ ins Gewissen redet und klar markiert, wann es darum geht, Widerstand zu leisten, wenn „Schwache an den Rand gedrängt werden, über sie abschätzig geredet und damit der Gewalt Vorschub geleistet wird. ... Gegenüber Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus ist Toleranz nicht möglich.“

Spätestens die Terrorakte der jüngsten Vergangenheit haben deutlich gemacht, wie unausweichlich beides zusammengehört: der Dialog, der die Überzeugungen des anderen ernst nimmt, und eine klare Haltung im Blick auf die Bedingungen dieses Dialogs. Seit dem Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh im November 2004 hat diese Thematik in der öffentlichen Debatte besonderen Nachdruck erhalten. Wechselseitiger Respekt und das Bekenntnis zur klaren Scheidung zwischen Religion und Gewalt bilden entscheidende Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft und für den Frieden zwischen Völkern, Kulturen und Religionen. Diese Voraussetzungen zu erhalten ist Aufgabe aller Religionen. Nur wenn diese Voraussetzungen im Zentrum stehen, hat die Rede von einem „Projekt Weltethos“ einen guten und überzeugenden Sinn.

Die Entwicklung religiös begründeter Parallelgesellschaften – wie dies auch in unserem Lande in Bezug auf den Islam mancherorts zu beobachten ist – bildet einen Nährboden des Fundamentalismus auch bei uns. Niemand kann das Recht haben, unter Berufung auf religiöse Regeln oder auf kulturelle Traditionen aus seinem jeweiligen Herkunftsland andere Menschen gewaltsam zu bedrängen, zu verletzen, ja zu töten oder öffentlich und mit dem Anspruch auf Resonanz die These vom „Traditionsmord“ zu vertreten. Gesellschaft, Staat und Religionsgemeinschaften sind heute in besonderem Maße gehalten, ihr Verhältnis zu einander im Bewusstsein solcher gemeinsamer Grundüberzeugungen zu bestimmen und die Rahmenbedingungen der Religionsfreiheit in der freiheitlich demokratischen Grundordnung unseres Gemeinwesens so zu entwickeln, dass religiöser Fanatismus darin keinen Platz hat und haben kann.

III.

Die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland wie in Österreich ist die freiheitliche und demokratische Verfassung des Gemeinwesens. Das Zusammenleben in ihm verlangt von allen Gliedern der Gesellschaft, dass die elementaren Grundlagen, auf denen das Ganze beruht, von jedermann akzeptiert werden. Im demokratischen Rechtsstaat gibt es das Recht auf Unterschiede, aber kein unterschiedliches Recht. Die damit verbundene Problematik ist durch das Entstehen der religiös pluralen Gesellschaft deutlich hervorgetreten. Der freiheitliche Staat ist darauf angewiesen, dass er von Bürgerinnen und Bürgern getragen wird, die sich ihrer Freiheit bewusst sind und diese Freiheit verantwortlich wahrnehmen. Die Bereitschaft dazu ist den Menschen nicht angeboren, sondern muss erlernt werden. Die Einstellung zum Gemeinwesen wird bei aller Pluralität maßgeblich von Elternhaus, Kindergarten, Schule und den Religionsgemeinschaften geprägt, denen Eltern und Kindern angehören. All diese Sozialisationsinstanzen haben es heute weit schwerer als früher; sie konkurrieren zugleich mit „heimlichen Erziehern“, unter denen die Massenmedien eine beherrschende Rolle wahrnehmen. Es hat keinen Sinn, vor dieser Situation zu kapitulieren, sie muss vielmehr aktiv angenommen werden. Die Kirchen stellen sich deshalb gerade heute ihrem Bildungsauftrag auf neue Weise. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Kirchen in unserem Land zu den größten Trägern von Kindergärten gehören. Die Hälfte aller Kindergärten in Deutschland steht in kirchlicher Trägerschaft. Es ist kein Zufall, dass sich evangelische wie katholische Schulen einer größeren Nachfrage gegenüber sehen, als sie an Schülerinnen und Schülern aufnehmen können. Die von ihrem christlichen Gewissen geleiteten Bürger und Bürgerinnen sind es, die in freier Entscheidung christliche Werte in Staat und Gesellschaft vertreten. Die Kirchen selbst stehen zu ihrer öffentlichen Verantwortung. Sie sehen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches an, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich 1985 in der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ eingehend mit dem Verhältnis der Evangelischen Kirche zum demokratischen Verfassungsstaat befasst. Sie kommt zu der zutreffenden Feststellung, dass eine demokratische Verfassung auf der Grundlage einer klaren Unterscheidung von Staat und Religion am ehesten im Stande ist, der Menschenwürde zu entsprechen. Die Kirchen träumen also nicht von einem christlichen Gottesstaat. Sie stehen auf dem Boden einer Unterscheidung von Kirche und Staat, zu der die säkulare Rechtsordnung hinzugehört.

Auch nach kirchlicher Auffassung kann also nur der religiös neutrale Staat die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich sichern. Ein religiös gebundener Staat, der sich einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet weiß, läuft dagegen Gefahr, diese gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet zu privilegieren. Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung gehört auch heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Es sind in unserer heutigen Welt vor allem Christen, die von Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit betroffen sind. Und es sind vor allem islamisch geprägte Staaten, von denen solche Beeinträchtigungen ausgehen. Die Anlässe nehmen leider nicht ab, sondern zu, deretwegen an die Religionsneutralität des Staates erinnert werden muss.

Der Staat, der anerkennt, dass der Mensch frei und mit unantastbaren Rechten ausgestattet ist, kann ihn nicht von Staats wegen einer vorgegebenen Religion zuweisen. Er kann die Religion aber auch nicht ins Private abdrängen.

Der moderne, freiheitliche und demokratische Staat legitimiert sich nicht von Gott her, sondern von den Menschen her, die in diesem Gemeinwesen miteinander verbunden sind. Damit verträgt sich durchaus der Hinweis auf diejenigen Grundlagen, die dieses Gemeinwesen nicht selbst hervorbringen kann, von denen es aber gleichwohl abhängig ist. Die Präambel des deutschen Grundgesetzes hat diesen Hinweis in der Formel von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben. Das ist eine Formulierung, die auch in der Präambel des Europäischen Verfassungsvertrags gut hätte Platz finden können. Denn eine solche Formel enthält keineswegs den Anspruch oder gar eine Rechtfertigung dafür in sich, dass der Staat von sich aus eine bestimmte Religion zur verbindlichen Grundlage des Zusammenlebens seiner Bürger erklärt. Religiöse Neutralität setzt eine klare institutionelle Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften voraus. Aber es wäre ein Missverständnis von staatlicher Religionsneutralität, daraus eine Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Wirken der Religionsgemeinschaften abzuleiten. Vielmehr gibt es eine Pflicht des Staates, die Religion als Bestimmungskraft für das Leben vieler seiner Bürgerinnen und Bürger wahrzunehmen und sie ohne falsche Parteinahme zu fördern. Mit dem Begriff der „fördernden Neutralität“ hat in Deutschland das Bundesverfassungsgericht dies – wie ich meine – sehr zutreffend zum Ausdruck gebracht Diese fördernde Neutralität richtet sich darauf, dass die Kirchen oder auch andere Religionsgemeinschaften ihren Beitrag zum Zusammenleben in der Gesellschaft leisten können. Sie bringen ihre spezifischen Glaubensüberzeugungen in den Prozess gesellschaftlicher Orientierung und Wertbildung ein. Dadurch tragen sie zur Erneuerung und Fortbildung von Grundhaltungen bei, ohne die keine politische Gemeinschaft, aber insbesondere kein demokratisches Gemeinwesen existieren kann.

Die Trennung von Staat und Kirche hat keineswegs zwangsläufig zur Folge, dass das Religiöse aus dem öffentlichen Bereich verbannt wird. Vielmehr erkennt der freiheitliche demokratische Staat die große Bedeutung der Religion im Prozess der Wert- und Überzeugungsbildung an. Er braucht bei aller Säkularität und religiösen Neutralität ein sozialethisches Fundament. Er lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Jede Gesellschaft verfügt nur dann über eine innere Stabilität, wenn sie eine Wertordnung hat, der gegenüber sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger verpflichtet wissen. Die Verfassungsordnung erwartet von den Religionsgemeinschaften, dass sie sich in den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist auf den offenen Meinungsaustausch angewiesen. Dazu gehört auch die Stimme der Kirchen. Die Aufgabe der Kirchen ist es dabei nicht, wie Richard von Weizsäcker einmal formuliert hat, Politik zu machen, aber sie sollen Politik möglich machen. Daher ist das Verhältnis des Staates zu den Kirchen nicht durch Laizismus oder eine Verbannung der Religionen aus dem öffentlichen Leben angemessen zu gestalten. Die These von der Religion als Privatsache gehört in die Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts; das sollte man nie vergessen, wenn sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts unversehens wieder auftaucht.

IV.

Das Eintreten für die Religionsfreiheit als Menschenrecht gründet in der christlichen Glaubensgewissheit, um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Der christliche Glaube stützt sich – insbesondere in seiner reformatorischen Deutung, aber nicht allein in ihr – auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Daher entspricht es dem Kern christlichen Glaubens, diese Menschenwürde, die Menschenrechte und damit die Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzuerkennen. Deshalb respektieren die christlichen Kirchen das Existenzrecht anderer Religionen, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dies war nicht immer so. Die Kirchen waren keineswegs Avantgardisten politischer Freiheit und erst recht nicht der individuellen Religionsfreiheit. Die uns heute so selbstverständlich erscheinende Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist in den christlichen Kirchen das Ergebnis eines langen historischen und theologischen, teilweise sehr schmerzhaften Entwicklungs- und Lernprozesses.

Die Verwirklichung der Religionsfreiheit als Menschenrecht weltweit ist heute eine unaufgebbare Forderung und ein Anliegen der beiden großen Kirchen in Deutschland. Die Bejahung der individuellen wie der kollektiven, der negativen wie der positiven Religionsfreiheit ist ein Ergebnis eines geistesgeschichtlichen Prozesses insbesondere seit der Reformation. Die Menschenrechte bilden inzwischen einen Schwerpunkt der christlichen Ethik. Heute wird mehr denn je von den Religionsgemeinschaften erwartet, dass sie aktiv mithelfen, Grundstrukturen zur Sicherung der Prinzipien der Zivilgesellschaft in den Ländern zu schaffen, in denen die Menschenrechte noch nicht verwirklicht sind. Hier setzen die Kirchen auf die Zusammenarbeit mit anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere dem Islam. Dabei erwarten sie, dass andere Religionen in den Ländern, in denen die Christen in der Minderheit sind, sich ebenso für die freie Religionsausübung der christlichen Kirchen und gegen staatliche Behinderungen einsetzen, wie sie in den Staaten der Europäischen Union die Religionsfreiheit in Anspruch nehmen. Für die Kirchen wird dies auch ein Prüfstein für die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei sein.

V.

Die Religionsfreiheit als individuelles Menschenrecht im soeben dargestellten Sinne ist durch den Islam im Ganzen bisher nicht anerkannt worden. Zwar gibt es durchaus differenzierte Zugänge des Islam zur Religionsfreiheit. Doch Grundlage ihrer Gewährleistung ist, wie bereits erläutert wurde, die Trennung von Religion und staatlicher Rechtsordnung, zu deren Bestandteilen die Menschenrechte gehören. Diese Trennung vollzieht der Islam aufs Ganze gesehen nicht. Das ist auch in der Türkei trotz der Anlehnung an das Konzept des Laizismus de facto nicht der Fall. Dies macht schon die Einrichtung einer staatlichen Religionsbehörde deutlich. Hinzu kommt die Abstufung religiöser Freiheitsrechte zwischen dem Islam einerseits und den anderen Religionen, das Christentum eingeschlossen, andererseits.

Für den Islam gilt vielmehr, aufs Ganze gesehen: Der Staat ist organisierte Religion.  Diese Grundposition hat seit der islamistischen Revolution im Iran stark an Boden gewonnen. Vom islamischen Staat wird verlangt, dass sein Recht religiöses Recht ist. Aber auch für Muslime, die in nicht-islamischen Ländern leben, gilt, dass das Recht seine Quellen in der Religion hat. Das in der göttlichen Offenbarung gegebene Gesetz ist für Muslime abschließend und verbindlich. Es gilt als Ideal, das alle Aspekte der Lebenspraxis umgreift: das Bekenntnis des Glaubens, die gottesdienstliche Ordnung und rituelle Gebote ebenso wie Grundsätze für das Familien- und Strafrecht, schließlich für das Leben in der Gemeinschaft schlechthin. Zwar haben manche islamisch geprägten Länder in ihre Verfassungsordnungen traditionelle Elemente des europäischen Rechtsdenkens aufgenommen; die Türkei hat die Scharia sogar ausdrücklich als Rechtsgrundlage der staatlichen Ordnung außer Geltung gesetzt. Dennoch lebt in der Vorstellung vieler Muslime das Bewusstsein, dass ihr gesamtes Leben und das der staatlichen Gemeinschaft nach Gottes „Rechtleitung“ und damit nach den Vorschriften der Scharia geordnet sein müsse, wie es in der islamischen Urgemeinde, der Umma, der Fall gewesen sei. Die Einheit der Gesellschaft in der islamischen Umma umfasst die politische und religiöse Gemeinschaft.

Der dadurch entstehende Konflikt mit einer modernen europäischen Auffassung ist deutlich. Denn für europäisches Bewusstsein seit der Aufklärung ist das Recht von seiner religiösen Begründung gelöst. Das ist nicht zuletzt der Religionsfreiheit selbst zu Gute gekommen – ein Aspekt, der heute von manchen christlichen Kritikern der Aufklärung, auch in allerhöchsten Rängen, sehr vernachlässigt wird. Mit dem Erringen der freiheitlichen Demokratie ist die staatliche Bevormundung des Menschen aufgehoben worden. Seine Freiheit wird ihm nicht durch den Herrscher verliehen. Vielmehr wird der Mensch mit einer Freiheit geboren, die gerade nicht vom Staat abhängig ist. Die darin liegende Begrenzung staatlicher Macht verbindet ein von der Aufklärung bestimmtes Staatsverständnis mit der christlichen Staatsvorstellung, die sich an das Wort Jesu knüpft: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22,21). Darin, dass seine Freiheit nicht von staatlicher Gewährung abhängig ist,  zeigt sich die Würde des Menschen. Darin, dass er diese Freiheit achtet, entspricht der Staat seinem Auftrag, die Menschenwürde zu schützen. Im Islam fehlt der geistesgeschichtliche Umbruch der Aufklärung; damit fehlt auch die Erkenntnis von der Freiheit des Menschen als einer für ihn unverlierbaren Eigenschaft. Daraus ergibt sich ein prinzipieller Unterschied in der Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Religion. Denn im Blick auf ein freiheitliches demokratisches Gemeinwesen bleibt festzuhalten: Für das Zusammenleben in der offenen Gesellschaft kann es keinen religiösen Vorbehalt geben, dem alle unterworfen werden. Das friedliche Zusammenleben fordert Anerkennung durch jede Religion und kann um der Freiheit für alle willen nicht zur Disposition gestellt werden.

Zwar hat sich der Islam seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmend auf die Diskussion über die Menschenrechte eingelassen. Doch insbesondere die Religionsfreiheit wird in den einschlägigen Dokumenten zumeist nur in einem negativen Sinne berührt, insofern ein Verbot ausgesprochen wird, zu einer anderen Religion als dem Islam zu bekehren oder sich dem Atheismus zuzuwenden. Muslime und Christen können also etwas sehr Unterschiedliches meinen, wenn sie von Religionsfreiheit reden. Die Religionsfreiheit bildet deshalb einen wichtigen Gegenstand der Gespräche zwischen den Religionsgemeinschaften, die in unseren Ländern an Dringlichkeit und Gewicht gewonnen haben.

VI.

Heute besteht mehr denn je auch eine Furcht vor Religion. Sekten jedweder Couleur, Spiritismus, Psychojugendreligionen und gewaltsamer religiöser Fundamentalismus haben die Menschen verunsichert. Dies ist eine Herausforderung an den Staat wie auch an die  Religionsgemeinschaften. Diese müssen nach ihrem Selbstverständnis als Kommunikations- und Zeugnisgemeinschaften in ihrem öffentlichen Auftreten dafür sorgen, dass Grundfragen des menschlichen Lebens und Handelns auf der Tagesordnung bleiben und dass ihre Stimme im Konzert der Meinungen und Anschauungen Gehör findet. Anstelle von Scheinlösungen ist in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft ein öffentlicher Diskurs nötig, der die Relevanz unterschiedlicher Positionen deutlich werden lässt und nach konsensfähigen Regelungen und Rechtsnormen Ausschau hält. Alle Religionsgemeinschaften – und nicht nur die Kirchen – sind aufgefordert, an dieser Willensbildung teilzunehmen und ihre Verantwortung für das Gemeinwesen insgesamt und nicht nur für ihre Mitglieder wahrzunehmen.

Den Religionsgemeinschaften kommt die Aufgabe eines öffentlichen Gewissens zu, indem sie in Lehre, Predigt und öffentlichen Erklärungen die persönliche Verantwortung zu wecken und zu fördern versuchen, also „das Beste der Stadt suchen“, wie es der Prophet Jeremia formuliert (Jeremia 29, 7). Deswegen besteht ein elementares Interesse an Kenntnissen über andere Religionsgemeinschaften und deren Inhalte und ein elementares Interesse an Transparenz.

Um den inneren Zusammenhalt und Frieden zu erhalten, kommt der Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine große Bedeutung zu. Die auf Dauer in Europa lebenden Muslime müssen einen Weg der Integration und der positiven Mitgestaltung der deutschen Gesellschaft finden. Denn die Abgrenzung von Teilen der muslimischen Bevölkerung in Parallelgesellschaften und Ghettos gefährdet den sozialen Frieden. Wer dagegen seinen Lebensmittelpunkt in der neuen Heimat bejaht, deren Sprache erlernt, die Rechts- und Gesellschaftsordnung anerkennt und sich in ihr mit seiner muslimischen Identität einbringt, leistet Wichtiges, um Abgrenzungstendenzen entgegen zu wirken. Jedoch wird sich muslimische Identität, gerade wenn sie sich einem offenen Dialog stellt und gesellschaftliche Integration anstrebt, auch selbst weiterentwickeln.

In diesem Zusammenhang spielt neben der unverzichtbaren Spracherziehung der Religionsunterricht eine Schlüsselrolle.  Bemerkenswert ist nicht nur die Diskussion in verschiedenen europäischen Ländern, sondern ebenso auch die globale Diskussionslage zu diesem Thema. In zunehmendem Maße erkennen die Vereinten Nationen die Bedeutung von Bildung und Erziehung für ein religiös tolerantes, verständnisvolles und friedliches Zusammenleben an. Eine UN-Konferenz hat 2001 daher die Empfehlung ausgesprochen, im Schulunterricht das Verständnis für Religionsfreiheit zu stärken. Das ist eine wichtige Bestätigung für die Überzeugung, dass religiöse Erziehung auch in der Schule für eine ganzheitliche Bildung unverzichtbar ist. Die Schule braucht Antworten auf die Frage, wie die Pluralität der Herkünfte, Positionen und Anschauungen in das gemeinsame Lernen integriert werden kann. Die Schule ist dabei auf die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften angewiesen, da der Religionsunterricht inhaltlich nach den Grundsätzen der Glaubensgemeinschaften zu erteilen ist. Sich an dieser Aufgabe zu beteiligen, ist für den Islam auf Grund seiner Organisationsstruktur schwierig, aber wie ein Blick in Ihr Land zeigt, nicht unmöglich. Daher halten auch wir in Deutschland trotz aller Schwierigkeiten die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen nicht nur für erforderlich, sondern auch für realisierbar. Eindeutig bestehen wir darauf, dass er in deutscher Sprache und in Verpflichtung auf die Wahrung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu erteilen ist.

Die Erinnerung an die Geschichte des Christentums wie an die Geschichte Europas gebietet es zwar, Geduld für die Lernprozesse zu haben, die andere brauchen, wie wir sie selbst gebraucht haben. Doch ohne Wenn und Aber ist es notwendig, dass die individuelle wie die korporative Religionsfreiheit mitsamt der religiösen Neutralität des Staates und der gemeinsamen Verantwortung von Staat und Religion für das Gemeinwesen geachtet werden. Ebenso notwendig ist, dass wir alle Formen einer religiösen Legitimation von Gewaltanwendung hinter uns lassen. Darin liegen unaufgebbare Voraussetzungen einer gemeinsamen Zukunft.