Predigt am Sonntag Oculi, im Berliner Dom (Jeremia 20,7-13)

Hermann Barth

Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen.
Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen;
aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich.
Sooft ich rede, muß ich schreien. "Frevel und Gewalt" muß ich rufen.
Ja, des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich.
Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken
und nicht mehr in seinem Namen predigen.
Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer,
in meinen Gebeinen verschlossen, daß ich's nicht ertragen konnte;
ich wäre schier vergangen.
Ich höre, wie viele heimlich reden: "Schrecken ist um und um."
"Verklagt ihn!" Wir wollen ihn verklagen!"
Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle:
"Vielleicht läßt er sich überlisten, daß wir ihm beikommen können
und uns an ihm rächen."
Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held,
darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen.
Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt.
Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.
Und nun, Herr Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz durchschaust:
Laß mich deine Vergeltung an ihnen sehen; denn ich habe dir meine Sache befohlen.
Singet dem Herrn, rühmet den Herrn,
der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!

 


Liebe Gemeinde!

Was für ein Auftakt:

Du hast mich überredet, Herr, und ich habe mich überreden lassen.
Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen.

Etwas freier übersetzt:

Du hast mich überrumpelt, du hast mir keine Wahl gelassen,
du hast mich bequatscht, du hast mich hereingelegt,
du hast mich verführt und mich bedrängt.

Darf man so über Gott reden? Darf man so zu Gott beten? Umgekehrt! Die Fragerichtung muß gerade anders herum sein: Wo gibt es noch eine Heilige Schrift, in der Menschen es wagen dürfen, so mit Gott und über Gott zu reden? Wo gibt es das in der Welt der Religionen und Glaubensgemeinschaften noch einmal, daß - wie bei den Juden und den Christen - Gott als einer erfahren und gedacht wird, der sich die bitteren, fast blasphemischen Vorwürfe von Menschen gefallen läßt? Gott sei Dank, daß er uns nicht über den Mund fährt, wenn der Groll aus uns herausbricht! Gott sei Dank, daß wir uns nicht verstellen müssen, wenn wir mit ihm Zwiesprache halten, daß wir die Worte nicht wägen müssen wie im diplomatischen Verkehr, sondern ihm - wie einem Freund - ungefiltert zumuten können, was uns auf der Seele liegt!


I

Die Stimme, die im Predigttext zu Wort kommt, gehört Jeremia, dem Sohn Hilkijas, aus dem Priestergeschlecht zu Anatot im Lande Benjamin (1,1). Das, was ihm auf der Seele liegt, ist die Berufung, auf die er sich eingelassen hat, die prophetische Existenz, in die er sich - wie er es im nachhinein empfindet - von Gott hat hineinlocken lassen. Er hat die Konfrontation gesucht mit dem Volk und seiner Führung, auch mit anderen Propheten, die seiner festen Überzeugung nach falsche Propheten sind, Lügenpropheten, die den Menschen die Wahrheit schuldig bleiben. Und was hat ihm die prophetische Existenz eingebracht? Nicht Ehre, sondern Ehrabschneidung, nicht Beifall, sondern Gespött, keine Unterstützung, sondern Anfeindung, ja sogar seine Freunde sind ihm in den Rücken gefallen:

Ich bin zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich ...
Ich höre, wie viele heimlich reden: ... 'Wir wollen ihn verklagen!'
Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle.

Kein Wunder, daß der Frieden seiner Seele gestört ist und stattdessen Bitterkeit und Groll eingekehrt sind. Der innere Druck sucht ein Ventil, der Groll verwandelt sich in Aggression, Aggression nicht nur gegen Gott, sondern auch gegen seine Bedränger und gegen sich selbst. Das ist - wer wollte etwas anderes erwarten? - ein ziemlich wirres Gemisch von Gefühlen. Jeremia verbündet sich mit eben dem Gott, den er gerade attackiert hat, gegen die, die ihm zusetzen:

Der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen ...
Herr Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz durchschaust:
Laß mich deine Vergeltung an ihnen sehen; denn ich habe dir meine Sache befohlen.

Schon der Gedanke der "Vergeltung" als solcher, noch mehr aber der Wunsch, Gott selbst möge sich um die Vergeltung kümmern, löst bei vielen ein Unbehagen aus - um das Mindeste zu sagen. Besteht dieser Gedanke - zumal im Lichte des Neuen Testaments und der Bergpredigt Jesu - die Prüfung auf theologische Korrektheit? Damit man nicht voreilige Schlußfolgerungen zieht, sei wenigstens so viel gesagt: Der alttestamentliche Gedanke der "Vergeltung" bejaht und rechtfertigt nicht, daß jemand - und noch dazu in unverhältnismäßiger Weise - Rache übt, also die Vergeltung in die eigenen Hände nimmt. Jeremia überläßt es Gott, die "Vergeltung" in Kraft zu setzen, nämlich: die Feindseligkeit und Bosheit auf den Täter zurückfallen zu lassen. Können und wollen wir uns eine Welt vorstellen, in der die böse Tat obsiegt und für den Täter folgenlos bleibt? Erfüllt uns nicht vielmehr ein tiefes Gefühl der Befriedigung, wenn der, der andern eine Grube gräbt, selbst hineinfällt? Der Wunsch nach "Vergeltung", den Jeremia ausspricht, meint nichts anderes als dies: Gott möge dafür sorgen, daß es bei der Regel bleibt: Die Folgen böser Taten fallen auf den Täter zurück.

Der Groll, der Jeremias Seele verfinstert, ist so stark, daß er auch in Aggression gegen ihn selbst umschlägt. Das sind die Stellen des Jeremiabuches, an denen dem Leser - oder Hörer - bis heute der Atem stockt. Ich kann, ja, ich darf sie Ihnen nicht ersparen. Im 20. Kapitel folgt direkt auf den Predigttext ein erschütterndes Dokument des Selbsthasses und des Lebensüberdrusses:

Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin;
der Tag soll ungesegnet sein, an dem mich meine Mutter geboren hat ...
Warum bin ich doch aus dem Mutterleib hervorgekommen,
wenn ich nur Jammer und Herzeleid sehen muß und meine Tage in Schmach zubringe?

Bibelstellen wie diese ermutigen zwar nicht noch trösten sie. Aber sie vergewissern uns in den Zeiten, in denen auch wir von solch finsteren Gefühlen heimgesucht werden, daß wir im Volk Gottes keineswegs unrühmliche Ausnahmen sind.


II

Die Welt der Propheten Israels ist uns fremd geworden. Doch nicht ganz. Denn die Sehnsucht nach Prophetie ist auch in der Gegenwart spürbar. Vor allem die Sehnsucht, daß angesichts der Mißstände in Kirche und Gesellschaft eine prophetische Stimme laut werde und den Mut habe, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, die Dinge beim Namen zu nennen und durchgreifende Schritte der Umkehr vom Schein des politischen Handelns zu unterscheiden. Aber auch jene Sehnsucht, womöglich selbst diese prophetische Stimme zu sein und wie die Propheten Israels zum Sprachrohr Gottes zu werden.

Bei den Propheten Israels entstand das prophetische Wort aus einer Intuition der Zukunft. Konkret führten sie ihr Wirken auf eine Vision oder innere Stimme zurück, die ihnen von Gott her widerfuhr. Ihr Wort konnte von einer Zeichenhandlung begleitet sein: So geht im Jeremiabuch dem Predigttext unmittelbar voraus die Erzählung, wie Jeremia vor den Toren Jerusalems einen irdenen Krug zerschmetterte und darin den Untergang der Stadt wirkmächtig abbildete.

Wie auch immer die Gewißheit über die Zukunft bei den Propheten zustandekam - die Ahnung des Kommenden stellt sich ungefragt ein, sie überkommt den Propheten, überfällt ihn. Sie kann nicht gewollt und künstlich herbeigeführt werden. Nichts ist lächerlicher als der leere Gestus der Prophetie. Niemand kann Prophet sein wollen. Prophetische Rede ist eine Frage der Vollmacht. Die Vollmacht aber muß gegeben werden, und wo sie gegeben wird, da ist sie für den zum Propheten berufenen Menschen - jedenfalls häufig - eine Zumutung und eine Last.

Nirgends in der Bibel wird das so deutlich wie bei Jeremia, speziell bei seinen sogenannten Konfessionen: Bekenntnissen, in denen sein Innerstes zu äußerst gekehrt wird. Der als Predigttext ausgewählte Abschnitt steht im Jeremiabuch in einer Reihe mit weiteren Abschnitten, die in Ton und Inhalt eng verwandt sind:

Ach Herr, ... dein Wort ward meine Speise, sooft ich's empfing ...
Ich habe mich nicht zu den Fröhlichen gesellt noch mich mit ihnen gefreut,
sondern saß einsam, gebeugt von deiner Hand ...
Du bist mir geworden wie ein trügerischer Born, der nicht mehr quellen will. (15,15ff)

So sieht prophetische Existenz im Ernstfall aus. Darum dränge sich niemand danach, Prophet zu sein. Aber - und dafür steht neben Jeremia insbesondere Jona - niemand kann sich der Berufung entziehen: weder der Übernahme des prophetischen Auftrags noch der Bindung an ihn. Propheten "brennen", in ihnen brennt ein Feuer, das sie nicht mehr ersticken können:

Ich dachte: Ich will nicht mehr an den Herrn denken
und nicht mehr in seinem Namen predigen.
Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer.


III

Die prophetische Existenz eines Jeremia wird vielen, mich eingeschlossen, "mehrere Nummern zu groß" erscheinen. "Das ist nicht unser Ding" - sagt man heute. Das trauen wir uns nicht zu. Dazu reichen unsere Kräfte nicht. Aber man übersehe nicht: Nicht anders ist es Jeremia selbst ergangen. Als Gott ihn zum Propheten berief, wehrte sich Jeremia:

Ach Herr, ich tauge nicht zu predigen, denn ich bin zu jung. (1,6)

Was für Kräfte uns zuwachsen, wird sich erst im Ernstfall zeigen. Niemand ist die prophetische Begabung sozusagen als natürliche Ausstattung in die Wiege gelegt. Bei seiner Berufung hört Jeremia eine innere Stimme, die er als Anrede Gottes an ihn identifiziert:

Der Herr sprach zu mir: Sage nicht: "Ich bin zu jung" ...
Fürchte dich nicht ..., denn ich bin bei dir und will dich erretten. (1,7).

Vor ein paar Wochen ist Günter Brakelmanns neue Biographie von Helmuth James Graf Moltke erschienen. Heute auf den Tag genau wäre Moltke 100 Jahre alt geworden. Auch ihm war es weder von Natur noch von Familie aus mitgegeben, sich am Widerstand gegen Hitler und den Nazismus zu beteiligen. Daß er in der Verhandlung des Volksgerichtshofs dem tobenden Roland Freisler ins Angesicht widerstehen würde - er hätte sich das ein Jahrzehnt zuvor vermutlich nicht vorstellen können. Im Ton des Staunens schreibt er über die Szene an seine Frau: "Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! ... Er hat mich die zwei Tage so fest und klar geführt: Der ganze Saal hätte brüllen können wie der Herr Freisler ... Es war wahrlich so, wie es in Jesaja 43,2 heißt: Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen".

Er hätte sich auch auf die Paul-Gerhardt-Verse beziehen können, die wir vor der Predigt gesungen haben: "Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen ... Kann uns doch kein Tod nicht töten ..." (EG  370,7-8).

Wir sind es nicht gewohnt, Moltke und seinesgleichen in eine Reihe mit den prophetischen Gestalten Israels zu stellen. Dabei haben sie so vieles mit ihnen gemeinsam: den Ruf Gottes, der sie einsam macht, das Wort Gottes als ihr Lebensmittel, das feste Herz, das ihnen die Kraft zum Widerstehen und den kühnen Heldenmut gibt, die sich zur Gewißheit verdichtende Ahnung von dem, was passiert, wenn nichts passiert. Ohne die Unterschiede zu verwischen - die Propheten Israels haben Nachfahren bis zu diesem Tag.

Auch wir können - und sei es auf eine bescheidene und unscheinbare Weise - dazugehören. Denn Gott beruft einen jeden von uns in seinen Dienst. In Luthers Übersetzung der prophetischen Schriften und so auch des Jeremiabuches fällt auf, daß er das öffentliche Reden der Propheten gern mit "Predigen" wiedergibt und damit das Predigtamt, also den Dienst der Verkündigung, besonders heraushebt. Aber wir sind alle gewürdigt und befähigt, Zeugen der Wahrheit Jesu Christi zu sein.

Dabei verlangt Gott uns nicht ab, sozusagen wie Jeremia oder Moltke zu werden. Eine der chassidischen Geschichten, die ich besonders liebe, trägt den Titel: "Die Frage der Fragen" und geht so:

Vor dem Ende sprach Rabbi Sussja: "In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: 'Warum bist du nicht Mose gewesen?' Man wird mich fragen: 'Warum bist du nicht Sussja gewesen?'"

Auf unsere Berufung in den Dienst Gottes gewendet heißt das doch: Wir brauchen uns nicht kümmerlich vorzukommen, wenn wir hinter Jeremia und Moltke zurückbleiben. Jeder und jede nach dem Maß der Gnade, das Gott ihnen zugeteilt hat. Dies aber ist gewiß: An Gottes Gnade wird es uns nicht fehlen, seine Gnade umfängt und trägt uns. Und darauf können wir es wagen, in seinen Dienst zu treten und darin zu bleiben:

"Von Gott will ich nicht lassen, denn er läßt nicht von mir ..." (EG 365).

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Weiter: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat ... - darauf seid bedacht!

Amen.