Aus dem Frieden Leben - 34. ai-Bußtagsgottesdienst in der Hauptkirche St. Katharinen

Prälat Dr. Stephan Reimers

Liebe Gemeinde,

„Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten“ - so lautet eine der zentralen Thesen der neuen Friedensdenkschrift unserer Kirche.

Gerechter Friede entsteht nicht durch Krieg und Gewalt, das zeigen uns Bilder der Zerstörung aus dem Irak täglich neu. Er entsteht nur durch Recht und geduldige Arbeit an den Ursachen der Konflikte. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass manchmal schon ein Wort oder eine Geste genügt, um eine Freundschaft zu zerstören, verlorenes Vertrauen dagegen aber viel Zeit und Mühe braucht, um es wieder zu gewinnen – Friede ist nicht einfach ein Zustand, der sich unmittelbar und von jetzt auf nachher einstellt, sondern ein Weg, für den wir alle gemeinsam Verantwortung tragen. Ein Weg, für den wir – Gott sei Dank – in der Bibel Wegweisungen finden. Als eine solche verstehe ich folgenden Aufruf Jesu in der Bergpredigt:

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!“ Was für eine ungeheure Zumutung!

Kein Wunder, dass sich bereits im frühen Christentum die Überzeugung durchsetzte, dieses Gebot sei nicht für die Mehrheit der Christen bestimmt, sondern nur für die „Vollkommenen“, also die Mönche, gedacht.

Und auch die Reformation betonte die Unerfüllbarkeit, indem sie das Gebot als Mittel zur Sündenerkenntnis und Angewiesenheit auf Gottes Gnade verstand.
Und ich behaupte, auch bei uns heute Abend, stößt es auf Widerspruch, sorgt zumindest für Irritation.

Typisch Jesus, werden manche von Ihnen vielleicht denken. So weltfremd und idealisierend können nur Christen sein, die meinen, mit der Liebe alles erreichen zu können.

Andere werden sich womöglich über Jesus ärgern, weil sie seine Worte als Aufruf zu falscher Opferbereitschaft und einer Haltung, alles still zu erdulden, verstehen.

Den meisten wird es vermutlich ähnlich ergehen wie mir. Wir sehen Kinder, Frauen und Männer vor uns – sie alle Opfer von Unrecht und Gewalt und stellen uns vor, wie sie diesen Aufruf wohl hören: „Liebt eure Feinde“.

Oder wir denken an unsere eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen: Wie sollen wir diejenigen lieben können, die uns verletzt haben und von denen wir Narben davontragen?

„Kann man diejenigen lieben, die uns hassen und die uns Böses antun? Ist das nicht eine Illusion?“, fragt auch der jüdische Religionsphilosoph Pinchas Lapide und fährt fort: „Die Antwort auf diese berechtigten Fragen, die erst bei der Rückübersetzung ins Hebräische hervortritt, lautet klipp und klar: Hier wird weder Sympathie noch Sentimentalismus gefordert, und schon gar nicht eine Selbstverleugnung, denn weder Gefühle noch das Martyrium können befohlen werden. Wohl aber das Tun, eine der häufigsten Vokabeln im jesuanischen Sprachschatz. Und in der Tat steht im Gebot der Nächstenliebe…nicht ‚liebe deinen Nächsten’ im Akkusativ, sondern im Dativus ethicus, der kaum auf Deutsch übersetzt werden, nur hinkend umschrieben werden kann:  etwa wie…“tu ihm Liebe an“, so Lapide.

Mit dem Gebot der Feindesliebe verlangt Jesus also von uns keine unnatürliche Zuneigung, kein romantisches Gefühl, sondern ein bestimmtes Handeln, das auf die  Überwindung der Feindschaft, auf Entfeindung, zielt. So wie er in der Bergpredigt auch sagt: Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Überrasche ihn durch deine Großzügigkeit. Sieh deinen Gegner im Geist der Liebe, damit sich eure Beziehung verwandeln – entfeinden kann.

Die sprachkundige Deutung von Pinchas Lapide erinnert uns auch daran, dass das Liebesgebot aus dem Geist der jüdischen Ethik stammt. Noch nicht alle Zeitgenossen wis-sen das. Denn das Vorurteil von der lieblosen jüdischen Gesetzesreligion ist im christlichen Denken sehr festgezurrt worden. So berichtet Marcel Reich-Ranicki von einer Rundfunkdiskussion, in der er den Satz: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ als ein Wort des Alten Testaments zitierte. Die Redakteure wollten diesen Satz darauf hin sofort aus der Bandaufnahme entfernen, weil sie alle davon überzeugt waren, er stamme aus dem Neuen Testament.

Und auch Jesu Gebot der Feindesliebe ist im jüdischen Denken vorbereitet. So heißt es in den Sprüchen Salomos: „Wenn dein Feind zu Fall kommt, freue dich nicht, und wenn er stürzt, frohlocke nicht dein Herz.“ Und: „Wenn dein Feind hungert, so speise ihn mit Brot.“

Jesus führt diesen Weg weiter bis zur Liebe gerade dem Feind und dem Sünder gegenüber.

Feindesliebe beinhaltet dabei auch, dass begangenes Unrecht nicht verschwiegen, sondern aufgedeckt, nicht verharmlost, sondern angeprangert wird, aber doch so, dass unser Richten seine Grenze an der Würde, selbst der des Feindes, findet. Die Verurteilung der Taten, darf nicht zu einer Verurteilung des Menschen werden. Daran hat Johannes Rau in einer Rede, nur wenige Tage nach dem Amoklauf Robert Steinhäusers am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt auf eindrückliche Weise erinnert.

Als eine der schwersten Stunden seines Lebens hat er die Augenblicke auf dem Domplatz in Erfurt später beschrieben: „Ich habe selten in einer Situation so ratlos dagestan-den wie vor diesen 100 000 Menschen.“ Nicht nur die Angehörigen der Opfer saßen vor ihm, sondern auch die Familie des jungen Täters hörte vom Fenster einer nahe gelegenen Wohnung zu. Zu ihnen gewandt, sagte er damals: „Niemand kann ihren Schmerz, ihre Trauer und wohl auch ihre Scham ermessen. Ich möchte Ihnen sagen: Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch.“

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ so sagt es unser Grundgesetz – wir Theologen sprechen von der Unterscheidung zwischen Person und Werk und bringen damit zum Ausdruck: Jeder von uns ist mehr als die Summe seiner Taten, egal ob Leistungen oder Fehlleistungen das Leben bestimmen. Jeder von uns Ebenbild Gottes, von ihm geliebt und bejaht. Und jeder von uns angewiesen auf die Vergebung anderer.

Pinchas Lapide, der uns gemeinsam mit seiner Frau Ruth oft in der Evangelischen Akademie an der Esplanade besuchte – und wir haben dort auch seinen 70. Geburtstag gefeiert – hat im Blick auf die Feindesliebe eine anschauliche Geschichte aus dem Talmud erzählt.

„Der Rabbi Meir wurde von Feinden bedrängt – zügellosen Gesellen, die in seiner Nachbarschaft wohnten. In seiner Not betete er einmal, dass diese Feinde doch sterben möchten. Als das seine Frau hörte, rief sie: „Was kommt dir in den Sinn? Etwa weil geschrieben steht: Es mögen die Sünder verschwinden? Steht denn geschrieben: Sünder? Nein, Sünden steht geschrieben! Außerdem verfolge doch den Vers bis zum Ende. Dort steht ausdrücklich: Dann wird der Frevler keiner mehr sein. Sobald also die Sünden verschwinden, wird es auch keine Frevler mehr geben. Bete also für sie, damit sie in Reue umkehren, dann wird der Übeltäter ein Wohltäter werden.“ Da betete der Rabbi für seine Verfolger um Erbarmen, und in der Tat, sie kehrten in Reue um.“ So weit die Lebensweisheit des Talmud, der das Böse bekämpft, aber den, der es tut, zu gewinnen bemüht ist.

Liebe Gemeinde,
Nur, wenn wir den Anderen nicht auf seine Vergangenheit festlegen, geben wir ihm die Möglichkeit zur Veränderung.

Vor kurzem kamen zwei Besucher in unsere Dienststelle in Berlin: Yael, eine israelische Jüdin und Wael, ein christlicher Palästinenser. Beide waren lange davon überzeugt, sie als Soldatin und er als Mitglied der Fatah, dass ausschließlich militärische Mittel die Zukunft ihres Landes sichern könnten. Doch irgendwann bekam ihr Weltbild Risse. Yael hat die Mauer und das Schicksal der Menschen dahinter die Augen geöffnet, Wael die Angst vor der tödlichen Spirale der Gewalt, die Leben, Hoffnung, Zukunft verschlingen würde.

Aus der Einsicht, dass keine Feindschaft der Welt mit Gewalt überwunden werden kann und Friede nie gegen, sondern immer nur gemeinsam mit dem Feind geschlossen werden kann, haben beide die Waffen niedergelegt und engagieren sich heute für den Frieden. Friedenserziehung, interkulturelles Lernen, öffentliche Meinungsbildung sind nur ein kleiner Ausschnitt aus ihrer Arbeit.

Daran wird etwas deutlich, das mir sehr wichtig ist: Das Konzept der Entfeindung hat nichts damit zu tun, sich dem Gegner passiv auszuliefern - im Gegenteil: Ich verstehe es als Chance, sich als Handelnder neu zu entdecken. Dem Konflikt aktiv entgegenzutreten, aber eben mit anderen Mitteln als gewaltvollen.

Mit ihrem Singen und ihrer Ansprache hat die Sängerin Ortrud Kuteifa in diesem Gottesdienst an en syrischen Freund Kamal al Labwani ernnert. Er wurde im Mai zu zwölf  Jahren Haft verurteilt, nur weil er sich mit friedlichen politischen Mitteln für die Einführung von Demokratie in seinem Land einsetzte. Sein Leiden erinnert mich an eine Reise nach Moskau in der Zeit des Kalten Krieges.Lech Kopelew hatte mich gebeten, die Frau eines Dissidenten zu besuchen, der im Straflager verstorben war. Ich überbrachte ihr Medikamente und wir sprachen miteinander. Auf dem Weg zur Busstation sagte sie ganz unvermittelt: " Meinem Mann hat sehr geholfen, dass in freien Länern über sein Schicksal berichtet wurde. Das hat ihm in all dem Negativen ein Gefühl von Sinn gegeben.

In diesem Sinn liegt ja der Grund für die Arbeit von amnesty international. Dass die Opfer wissen, dass sie nicht vergessen sind. und die Machthaber, dass sie genau beobachtet werden und ihre Taten nicht verborgen bleiben.

Der Weg friedlicher Veränderung ist schmerzvoll und mühsam. Denn der Friede ist in dieser Welt nie die Endstation, sondern immer der Weg. Ein Weg, der vielen kleinen Schritte und leider auch der Rückschritte. Ein Weg, für den wir Wegweisungen, wie das Gebot der Feindesliebe haben und nicht nur das: Ein Weg, der vor allem unter der Zusage steht:

„Geht hin im Frieden des Herrn!