Predigt über Jesus Sirach 4, 34 in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin am Sonntag Invokavit im Rahmen der Fastenpredigtreihe 2008
Robert Leicht
„Sei nicht wie die, die große Worte machen, aber träge und lässig sind in ihren Taten.“ (Jesus Sirach 4,34)
„Müßiggang ist aller Laster Anfang!“ Vielleicht haben Sie noch Lotte Lenya im Ohr, wie sie die Kurt Weill’sche Vertonung der „Sieben Todsünden des Kleinbürgers“ sang, Texte von Bert Brecht. Dieser Warnruf, der sich durch ganze Werk und durch das Leben der doppelte Anna zieht, jener multiplen Frau aus guter und schlechter Anna – dieser Ruf wird im Verlauf der Lebensreise dieser beiden immer wieder skandiert, wie in einer modernen Kirchentonart: „Müßiggang ist aller Laster Anfang!“
Als ich diesen eingängigen Slogan in meinen studentischen Tagen erstmals von der Schallplatte hörte, ging er mir irgendwie auf die Nerven, vielleicht wegen seines elementaren Wahrheitsgehaltes. Vorher, in der Disziplin des Internats bis zum Abitur und in der kaufmännischen Lehrzeit, blieb gar keine Zeit für hingebungsvollen Müßiggang. Nun aber in der damaligen Freiheit des Studiums schon: „Müßiggang ist aller Laster Anfang!“ Wohl wahr! Seither allerdings, fast bis in die Gegenwart, war dann das Berufsleben so eng getaktet, dass es – wie bei den meisten von Ihnen auch – wiederum an der rechten Zeitautonomie für den ausschweifenden Müßiggang fehlte, erst recht für das Laster. Aber trotzdem sitzt dieser überaus rhythmische Satz wie ein empfindlicher Kratzer auf der Schall- oder Festplatte: Müßiggang ist alle Laster Anfang!
In Bert Brechts und Kurt Weills Sündenregister rangiert der Müßiggang an der Stelle, an der sonst die Trägheit steht. Die beiden übersetzten das lateinische Wort acedia eben nicht mit Trägheit oder, was durchaus auch oft vorkommt, mit Faulheit. Möglicherweise zogen sie das dreisilbige Wort „Müßiggang“ einfach nur aus rhythmischen Gründen den nur zweisilbigen Wörtern vor, der Faulheit und der Trägheit: „Müßiggang ist aller Laster Anfang!“ Das singt sich einfach besser. Aber stimmt es überhaupt?
Wir müssen da nämlich sorgfältig aufpassen, dass uns die Begriffe nicht durcheinander purzeln. Nach der Sortierweise der Alten ist nämlich weder die Faulheit noch der Müßiggang aller Laster Anfang – noch handelt es sich dabei um die Sünde selber, gar um die Todsünde. Vielmehr sahen sie in den volksmündlich gerne als sieben Todsünden bezeichneten menschlichen Haltungsfehlern erst einmal sieben Laster, sieben Charakterfehler, die dann allerdings im Einzelfall zur Begehung von Sünden führen können. „Geiz ist geil!“ dieser Werbespruch verknüpft in Idealkonkurrenz gleich zwei solcher sogenannter Todsünden lasterhaft, nämlich den Geiz und die Wollust – aber eine richtige Sünde wird daraus erst, wenn jemand – davon angestachelt – zur Tat schreitet, etwa – um die Sachen noch billiger zu bekommen – direkt zum Ladendiebstahl bei Mediamarkt, bei jenem Unternehmen also, das mit diesem lästerlichen Spruch für sich Reklame macht.
Wir sprechen also nicht schon von der Sünde, sondern von dem Charakterpfad, der zu ihr hinführt, jedenfalls hinführen kann. Faulheit ist noch keine Todsünde – so wie der Fleiß nicht zu den Kardinaltugenden zählt. Vielleicht fangen ja auch alle Laster letztlich mit dem Müßiggang an, aber nicht jeder Müßiggang ist schon ein Laster.
Das Volk Israel – und auch das Christentum gerade in diesen deutschen Zeiten – sie beide wissen ja durchaus etwas von einem religiös geradezu vorgeschriebenen Müßiggang:
Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
Das Gebot der Sonntagsheiligung war in seinem Ursprung in der Tat ein religiöser, aber kultfreier Urlaubsanspruch, ein Recht auf – ja, eine Pflicht zum regelmäßigen Müßiggang, einmal in der Woche – und zwar für alle, auch für die Ausländer im Lande.
Wir müssen also noch einmal genauer hinschauen, um die Begriffe sauber auseinanderzuhalten – und zu verstehen, was mit der schlimmen Trägheit eigentlich gemeint ist. Ganz abgesehen davon, dass aus den hochscholastischen, lateinisch formulierten Katalogen der sieben Hauptlaster die acedia bisweilen auch als Verdrossenheit, oder neuhochdeutsch: als Frust, oder sagen wir: Gefrustetheit übersetzt wird.
Was also ist Trägheit?
Jedenfalls nicht einfach Faulheit. Fleiß allein macht ja auch noch keinen guten Christen. Man kann nämlich mit vollem Fleiß – lauter Übles tun. Deswegen rechnet man den Fleiß ja auch nur zu den Sekundärtugenden – also zu Haltungen, bei denen es erst noch darauf ankommt, im Dienste welcher Sache sie zum Zuge kommen. Ich will zur Illustrierung gar nicht erst ausführlich darauf hinweisen, dass ein gewisser Oskar Lafontaine vor einigen Jahrzehnten einmal lästerlich behauptet hatte, mit den Sekundärtugenden des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt könne man auch ganz andere Sachen regieren als eine demokratische Bundesrepublik …
Vereinfachen wir die Sache doch einmal ganz grob: Ob einer fleißig ist, das sieht man an seinen äußeren Handlungen; sein Körper ist in Bewegung. Der Mensch zeigt also ganz sichtbare Aktivität. Wenn einer ganz ruhig dasitzt – dann weiß man: Fleißig ist der nicht! Obwohl: In einer unser internatlich beaufsichtigen Hausaufgabenstunden saß einer meiner Klassenkameraden müßig da. Der aufsichtsführende Lehrer blaffte ihn an, er solle endlich etwas arbeiten. „Mach ich doch“, sagte der Gescholte. „Und was bitte?“ – „Ich übe Kopfrechnen!“ – Das Gegenteil weise ihm erst einmal jemand nach.
Mit der Trägheit verhält es sich nun anders als mit der Faulheit, und zwar so: Es kann einer äußerlich überaus aktiv sein – innerlich aber durchaus träge. Es kann einer auch äußerlich ganz inaktiv, dem Scheine nach also auch faul sein – in Wirklichkeit alles andere als träge. Nämlich – was? Das Schwierige ist: Wir haben für die Trägheit, um die es hier in Wirklichkeit geht, keinen so klaren positiven Gegenbegriff, wie es der Fleiß gegenüber der Faulheit ist. Trägheit ist – wenn wir sie nicht bloß physikalisch wertneutral meinen, sondern menschlich – gewissermaßen eine durch und durch negative Angelegenheit. Fleißig (oder faul) ist der Körper. Träge aber ist – das Herz.
Ein träges Herz nimmt nicht mehr wahr, wie es um die Menschen, die Nächsten, die Allernächsten und die Fernen und Fernsten bestellt ist. Wer so träge ist, bewegt sich vielleicht noch, vielleicht sogar heftig – aber er lässt sich nicht mehr bewegen, weder durch die Not und das Leid der Leute, noch von deren Freuden. Er stirbt sozusagen seelisch ab – und eifere er noch so fleißig seiner Selbstverwirklichung und Selbstbereicherung nach. Wer träge ist, hat ein versteinertes Herz – nichts rührt ihn mehr an. Er ist sozusagen innerlich tot, bevor er überhaupt eine Todsünde begehen kann.
Umso erstaunlicher, dass die Trägheit in unserem protestantischen Schriftgut fast gar nicht vorkommt. In den größten Lexika sucht man danach vergebens. In unseren Gesangbuchliedern taucht das Wörtlein „träge“ gerade zweimal auf – wir sangen das eine Lied vor der Predigt, das zweite folgt nach der Predigt. Selbst in der Lutherbibel kommt das Wort „träge“ nur dreimal vor – zwei der Stellen haben wir gehört, als Lesung und als Predigttext.
Das mag man sich damit erklären, dass wir Protestanten uns nicht so sehr für die vor-reformatorischen Tugend- und Lasterkataloge interessieren – und schon gar nicht für die Kategorie der Todsünden. Das kann damit zu tun haben, dass wir Protestanten zwar mit der Rechtfertigungslehre jeden religiösen Leistungszwang abgeschafft, dafür aber eine rigorose Arbeitsethik eingeführt haben, die sich mehr auf den nach außen gewendeten Fleiß richtet als gegen die innerliche Trägheit.
Und es hat gewiss auch damit zu tun, dass das lateinische Wort acedia, das in keinem der gängigen lateinisch-deutschen Wörterbücher zu finden ist, in seiner Übersetzung so schweifend unbestimmt ist: Faulheit, Verdrossenheit, Trägheit des Herzens, Trübung des Willens, Verfinsterung des Gemüts, Apathie, ja Depression – und natürlich, immer wieder: Müßiggang ist aller Laster Anfang!
Dabei trifft das Fremdwort Apathie die Sache noch am Besten: Die Teilnahmslosigkeit am Schicksal anderer, die Unfähigkeit zum Em-Pathie, zur Einfühlung, die A-Pathie, die Unfähigkeit zum Mitleid!
Nun mag die Trägheit in unseren Urkunden dem Worte nach kaum vorkommen – der Sache nach führt sie ins Herz unseres Glaubens; vor allem aber in das Zentrum der Geschichte, derer wir Jahr für Jahr in der Passionszeit gedenken. (Und die Passionszeit ist ja die eigentliche Zeit der Fasten und Fastenpredigten, in der wir uns von all dem lösen wollen, was uns träge macht. Und nicht nur dick, weshalb eine saisonale Schlankheitskur angebracht wäre…)
Ein innerlich träger Mensch wird nämlich nicht nur seinen Mitmenschen nicht gerecht, sondern vor allem Gott selber nicht.
Ein a-pathischer Mensch ver-fehlt also nicht nur seinen Nächsten, sondern seinen Allernächsten, auf den sich doch die Frage aus der Geschichte vom barmherzigen Samariter richtet: „Wer…, meinst du, ist der Nächste dem, der unter die Räuber gefallen war?“ – „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“
In meiner schon erwähnten Internatszeit wurde zu jedem Trimesterbeginn über den barmherzigen Samariter gepredigt – und zwar so, dass uns eingeschärft wurde: Wenn ihr mit euren Eltern in deren dicken Auto fahrt und im Straßengraben liegt jemand verletzt, so haltet an, und helft ihm heraus. Das ist ja gewiss kein falscher Imperativ. Aber im Lukas-Evangelium geht es zuerst um die Barmherzigkeit, die uns getan wird.
„Du sollst den HErrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen Kräften und von ganzem Gemüt – und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wir nennen dies das doppelte Liebesgebot. Aber –für die Elektriker unter uns – es handelt sich nicht um ein parallel, sondern um ein hintereinander geschaltetes Gebot. Das eine ist die Voraussetzung der Erfüllung des anderen – erst die Barmherzigkeit, die uns getan ward, setzt uns frei, sie dem Nächsten zu erweisen.
Ein a-pathischer, ein träger Mensch ist nicht nur ein Mensch, der unfähig ist zum Mitleiden, sondern er erkennt nicht einmal den, der um seinetwillen gelitten hat, und der die Barmherzigkeit an ihm getan hat.
Viele Götter sind erhaben – über die Welt, über die Menschen und sogar über sich selber. Unser Gott ist aber kein apathischer Gott.
Er ist eben nicht über alles erhaben, sondern nahm Knechtsgestalt an. Er ließ die Welt und seine Menschen nicht im Grab ihrer Sünden, und sei’s drum: ihrer Todsünden – sondern ging um unserer Sünden willen in den Tod am Kreuz. Das war der Antike und seither vielen Menschen ein unverständliches Ärgernis, ja eine geradezu absurde Vorstellung – dass ein Gott sich bis zum Kreuzestod erniedrigen lässt (und eben darin – und nur darin – erhöht wird); dass ein Gott Mitleid mit seinen Geschöpfen zeigt; und aus Mitleid selber ultimativ leidet. Aber all dieses Leiden eben als ultima ratio, als ultima passio – als äußerstes, aber eben auch als letztes Leiden, als Ende allen tödlichen Opferns.
Wenn wir nun wieder wahrnehmen, wie in jeder Fasten- und Passionszeit, dass Gott alles andere ist als ein a-pathischer, ein herzloser, ein träger Gott, dann verstehen wir besser, weshalb unsere eigene Apathie und Trägheit ein Laster und lästerlich wäre, ja im eigentlichen Sinne: gotteslästerlich.
Mit all dem im Ohr und Sinn bekommt unser Predigttext einen zusätzlichen Sinn:
„Sei nicht wie die, die große Worte machen, aber träge und lässig sind in ihren Taten.“
Dies ist zunächst ein weiser Rat, dem sich jeder vernünftige Mensch anschließen kann: Seid keine Maulhelden! Große Klappe – aber nichts dahinter! Auch die allgemeine Warnung vor dem Laster der Trägheit und der Verdrossenheit kann jeder vernünftige Mensch verstehen, selbst ohne jeden religiösen oder gar christlichen Hintersinn. Aber erst, wer weiß und also glaubt, dass wir nur in Frieden leben und sterben können, weil Gott alles andere als träge und apathisch ist, erkennt, dass unsere eigene Trägheit ein Selbstwiderspruch wäre, ein geradezu tödlicher Selbstwiderspruch zu den Voraussetzungen unseres Glaubens und Lebens – und darin, ganz anders als bisher betrachtet, tatsächlich so etwas wie eine Todsünde.
Für den aber, der innerlich so abgestorben, so träge geworden ist, dass er schlechterdings nichts mehr tun kann vor Gott und den Menschen, für den gilt dann sogar in einem höheren Sinne jener Brecht/Weill’sche Refrain, der dann wirklich bedrohlich klingt: Müßiggang ist aller Laster Anfang!
Und Ende!!
Amen.
Fürbittengebet
Herr Gott, himmlischer Vater – also hast Du die Welt geliebt, dass Du Deinen eingeborenen Sohn gabst, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Du hast Dich Deiner Welt mit-leidend zugewandt – anstatt Dich apathisch von ihr abzuwenden. An diese Zuwendung glauben wir – auf diese Hoffnung leben wir. Lass’ sie nicht zuschanden werden.
Wir bitten Dich:
Bewahre alle, die an Dich glauben, vor innerer Trägheit und der Versteinerung des Herzens.
Lass’ Dein Mitleiden an dieser Welt uns dazu befreien, dass auch wir erkennen, wo unsere Nächsten und unsere ferneren Nächsten leiden und unsere Zuwendung brauchen.
Schütze unsere Herzen vor der Verkrümmung auf sich selbst.
Herr Gott, himmlischer Vater – wir bekennen, dass wir nur zu oft teilhaben an dem selbstsüchtigen Wettbewerb in dieser Welt – um Vorteile, Gewinne, Karrieren, Ansehen und Erfolg.
Wir bitten Dich:
Bewahre uns vor dem Laster, mit vollem Fleiß in eigener Sache faul und träge zu werden gegenüber dem, was unseren Mitmenschen und Mitbürgern, woher sie auch kommen mögen, frommt.
Befreie alle, die in Politik und Gesellschaft Verantwortung tragen, vor der Gefahr, zu sehr an sich selbst und an ihre Wiederwahl zu denken, anstatt „der Stadt Bestes“ zu suchen – auch wenn dies nicht sofort populär ist, sondern viel Überzeugungskraft verlangt.
Mache uns als Bürger bereit, auf vermeintlich gesicherte Besitzstände und Gewohnheiten zu verzichten, wenn dies zu gerechteren Entscheidungen für alle führt und die Zukunft kommender Generationen zu sichern hilft.
Vor allem: Öffne unsere Augen und Herzen für die Not der Menschen, nah und fern, um die sich keine Politik kümmert.
Herr Gott, himmlischer Vater – was uns Herz in dieser Stunde besonders bewegt und beschwert, bringen wir in der Stille vor Dich!
Und nun lasst uns beten, wie unser Herr und Bruder es uns gelehrt hat:
Vater unser ….