Predigt am Palmsonntag in der Auferstehungskirche in Hannover-Döhren (Hebräer 12,1-3)
Hermann Barth
(1) Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist,
(2) und aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.
(3) Gedenkt an den, der soviel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.
Liebe Gemeinde!
I
Christsein ist wie ein Langstreckenlauf. Gewiss, es gibt auch die Situationen, in denen wie beim 100m-Lauf das ganze Leistungspotential in 10 Sekunden - bei mir sind's ein paar mehr - abgerufen werden muss. Aber auf die Lebenszeit insgesamt bezogen passt das andere Bild unendlich viel besser: Christsein ist wie ein Langstreckenlauf. Man braucht dafür Ausdauer, damit man nicht auf halber Strecke matt wird und schlapp macht und aussteigt. Man braucht dafür Geduld, damit man nicht zu früh das Tempo verschärft und am Ende nichts mehr zuzusetzen hat. Und man braucht dafür Mut, damit einem nicht, wenn's weh tut, das Selbstvertrauen abhanden kommt.
Der Sport ist heutzutage ein gern genutztes Reservoir für Sprachbilder. Wenn zum Beispiel jemand sagt: "Das war der KO für den Laden", dann weiß nahezu jeder: Es geht um eine geschäftliche Entwicklung, die wie ein Knock Out, ein Niederschlag beim Boxkampf, einen Betrieb in die Knie gezwungen hat und für ihn das Aus bedeutet. Eine besonders beliebte Quelle für sprachliche Bilder ist der populärste moderne Sport, der Fußball. Plötzlich wird auch in der Politik "gemauert", und in jeder zweiten Diskussion werden "Steilvorlagen" gegeben.
Der Predigttext zeigt allerdings: Die Benutzung von Sprachbildern aus dem Sport ist mitnichten eine moderne Erscheinung. Sportliche Wettkämpfe erfreuten sich schon im Altertum, vor allem im griechisch-hellenistischen Bereich, hoher Wertschätzung. Wer den Leuten aufs Maul schaute, für den lag es schon damals nahe, die gemeinte Sache auf den Punkt zu bringen mit einem Vergleich aus dem Sport. In der Lutherübersetzung klingt es noch nicht so ganz echt: "Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist." Ich glaube, Martin Luther hatte mit Sport nicht viel am Hut. Aber man kann den Satz näher an der Sportsprache übersetzen: "Darum geht's: den Fight, der vor uns liegt, aufnehmen und mit Ausdauer alle anderen in Grund und Boden laufen." Das klingt doch schon anders! Unverkennbar geht es um einen Laufwettbewerb. Die Distanz ist lang, vielleicht 10 Kilometer, vielleicht Halbmarathon, vielleicht Marathon. Wenn einer eine tolle erste Runde hinlegt oder einen fulminanten Zwischenspurt einschiebt, dann besagt das noch wenig. Wer das Ziel erreichen will, wird mehr als einmal die Zähne zusammenbeißen müssen.
Mit dem Christsein ist es wie mit einem solchen Lauf über eine lange Distanz. Es kommt nicht auf die erste Runde an, sondern man muss Stehvermögen beweisen und auch die Durststrecken überwinden:
Christsein fühlt sich gut an, wenn auf dem Kirchentag Hunderttausende zusammenströmen, wenn wir spüren, wir gehören zu einer großen und bunten Gemeinschaft, und wenn wir stolz darauf sein können, welche wunderbaren Begabungen diese Gemeinschaft hervorbringt. Aber nach dem Kirchentag kommt wieder der graue kirchliche Alltag: kleine Zahlen, hoher Altersdurchschnitt, wenig Inspiration, und dann ist es bald so weit wie bei den Adressaten des Hebräerbriefes: matt werden statt aufzufliegen mit Flügeln wie Adler, auf andere einen müden Eindruck machen statt sie zu begeistern und mitzureißen, den Mut sinken lassen statt zu neuen Ufern aufzubrechen. - Christsein fühlt sich gut an, wenn der Segen Gottes unser Leben beglückt und reich macht. Aber den Christen ist nicht versprochen, dass sie auf ihrer Lebensreise immerzu schönes Wetter haben. Die Gesundheit ist ein kostbares, weil verletzliches Gut. Was heute blüht und gedeiht, kann morgen darniederliegen. Wie reagieren wir auf diese Erfahrungen? Beleidigt und verbittert, weil wir glaubten, einen Anspruch auf schönes Wetter zu haben? Oder können wir mit Hiob sagen: Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? - Christsein fühlt sich gut an, wenn die Christen in der Gesellschaft respektiert und geschätzt werden, wenn ihnen ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht wird, wenn ihnen zugetraut wird, dass sie viel Gutes beitragen, etwa um Heranwachsende zu bilden und zu erziehen. Aber Christen haben in den zurückliegenden Jahrhunderten und so auch heute noch ganz andere Erfahrungen gemacht. Trauen wir es der Hilfe Gottes zu, dass wir, wenn es dazu käme, Hohn, Anfeindung und Verfolgung würden standhalten können? Im Wochenlied haben wir vorhin gesungen und gebetet: "O hilf, dass wir auch uns zum Kampf und Leiden wagen und unter unsrer Last des Kreuzes nicht verzagen. Hilf tragen mit Geduld durch deine Dornenkron, wenn's kommen soll mit uns zum Blute, Schmach und Hohn."
Die entscheidende Frage lautet jetzt: Wo kommen Ausdauer, Geduld und Mut her, damit wir im Langstreckenlauf des Christseins - vielleicht nicht unbedingt gewinnen, aber doch - das Ziel erreichen?
II
Aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur ziehen sich durch den Hebräerbrief von seinem Anfang bis an sein Ende Mutmachworte. Sie haben alle dieselbe Botschaft: Ihr wart schon weiter. Ihr habt die Kraftquelle bereits kennengelernt, aus der euch Ausdauer und Geduld und Mut zufließen. Werft doch euer Vertrauen auf Gott nicht weg!
Die Botschaft enthält keine Neuigkeit. Sie geht darin auf, an das zu erinnern, was schon längst bekannt ist. Und darin passt sie auch sehr gut auf unsre Situation. Die Gemeinde, die sich heute am Palmsonntag hier in der Auferstehungskirche versammelt hat, besteht vermutlich zu 100 (oder nahezu 100)% aus getauften Christen: Wir müssen nicht erst für den Glauben an Jesus Christus gewonnen werden. Unsere Not besteht aber darin - ganz genauso wie bei den Adressaten des Hebräerbriefs -, dass wir wackeln und wanken und dass uns, jedenfalls phasenweise, genau das abgeht, was der Hebräerbrief in einem seiner Mutmachworte ein "köstlich Ding" nennt: nämlich, dass "das Herz fest werde" (13,9). Was hilft "Wackelpeter"-Menschen, wie wir welche sind? Gewiss nicht Vorwürfe und Vorhaltungen. Aber auch nicht ein allesverstehendes Mitgefühl. Vielmehr der aufmunternde Rippenstoß, der fördert, gerade weil er fordert:
"Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat. Und lasst uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen" (10,23-25).
III
Unter den Mutmachworten des Hebräerbriefes fällt der Predigttext durch eine Besonderheit auf. Er weist nämlich im Vergleich mit den anderen ein überschießendes Element auf: den Hinweis auf die "Wolke der Zeugen", die uns sichtbar und unsichtbar umgibt; und auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens. Zu beiden sollen wir "aufsehen", an beiden sollen wir Maß nehmen, beide treten in den Blick als Vorbilder.
1. Auch wenn Jesus gesondert genannt wird - er wird hier von der Wolke der Zeugen eigentlich nicht abgehoben. Er ist in diesem Zusammenhang nur interessant in seinem vorbildlichen, nachahmenswerten Verhalten. Dass er gleichzeitig Heiland und Erlöser ist und niemand auch nur zu versuchen braucht, ihn darin nachzuahmen, hinderte schon das Neue Testament nicht daran, ihn unter der Perspektive des vorbildlichen Verhaltens zu betrachten. Was ist "Nachfolge" bei den Jüngern Jesu und bei uns anderes, als in seinen Spuren zu wandeln? Und Paulus hat sich nicht gescheut, den Christushymnus, den wir als Epistel gehört haben, als Illustration für seine Mahnung zu demütigem Verhalten zu benutzen. "Lasset uns mit Jesus ziehen, seinem Vorbild folgen nach ... Treuer Jesu, bleib bei mir, gehe vor, ich folge dir" (EG 384,1) - so haben wir gesungen.
2. Was es mit der "Wolke der Zeugen" genau auf sich hat, erschließt sich erst, wenn auch das vorausgehende Kapitel mitgelesen und mitgedacht wird. Dieses 11. Kapitel schildert anhand der Geschichten und Gestalten des Alten Testaments, wozu der Glaube Menschen befähigt hat. Gegen Schluss werden gar keine individuellen Geschichten mehr erzählt, sondern nur noch summarische Angaben gemacht:
"Was soll ich noch mehr sagen? Die Zeit würde mir zu kurz, wenn ich erzählen sollte von Gideon und Barak und Simson und Jephtha und David und Samuel und den Propheten. Diese haben durch den Glauben Königreiche bezwungen, Gerechtigkeit geübt, Verheißungen erlangt, Löwen den Rachen gestopft, des Feuers Kraft ausgelöscht, sind der Schärfe des Schwertes entronnen, aus der Schwachheit zu Kräften gekommen, sind stark geworden im Kampf ... Andere haben Spott und Geißelung erlitten, dazu Fesseln und Gefängnis. Sie sind gesteinigt, zersägt, durchs Schwert getötet worden; sie sind umhergezogen in Schafpelzen und Ziegenfellen; sie haben Mangel, Bedrängnis, Misshandlung erduldet. Sie, deren die Welt nicht wert war, sind umhergeirrt in Wüsten, auf Bergen, in Höhlen".
Mit einem knappen "darum auch wir" stellt der Hebräerbrief den Anschluss zum folgenden Abschnitt, also dem Predigttext, her. Das sagt schon (fast) alles. Die Vorbilder im Glaubensleben dienen als Ansporn und Ermutigung. Was die können, das könnt ihr doch auch. Oder vielleicht etwas vorsichtiger: Was bei denen möglich ist, das geht auch bei euch. Wozu Gott die befähigt hat, das könnt ihr auch für euch erbitten und erhoffen.
3. Ein Jammer, dass in der Reformations- und Nachreformationszeit vor lauter Abgrenzung gegen einzelne Züge der katholischen Heiligenfrömmigkeit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde! So muss die evangelische Hochschätzung der Heiligen als Vorbilder im Glauben und im Tun des Guten erst mühsam zurückgewonnen. Denn es ist eigentlich ein sehr moderner Gedanke, Maß zu nehmen bei einem Vorbild und zu lernen von good practice, also von mustergültigen Beispielen. Das hebt sich wohltuend ab von allen Erziehungs- und Lernmethoden, die mit dem erhobenen Zeigefinger oder mit dem erhobenen Stock gearbeitet haben.
Unter den evangelischen Versuchen, eine positive Beziehung zur Wertschätzung der Heiligen wiederzugewinnen, ragt das Lesebuch von Jörg Erb zum Evangelischen Namenkalender hervor. Er wählte dafür sehr passend den Titel "Die Wolke der Zeugen" und veröffentlichte zwischen 1951 und 1964 insgesamt vier Bände. Darin sind zu Gestalten aus allen Jahrhunderten der Kirche kurze Lebensbilder zusammengestellt. So beeindruckend das Werk auch ist - richtig begeistert war ich nie davon. Das hängt vermutlich vor allem mit der Kürze und der Fülle der Lebensbilder zusammen. Lieber fünfzig oder auch nur dreißig wirklich starke Vorbilder - vom Schlage eines Albert Schweitzer, Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer, Helmuth James von Moltke, der Geschwister Scholl - als 365 Lebensbilder, unter denen die blassen den Gesamteindruck trüben.
4. Ich schließe mit einer Geschichte, die mir wie keine zweite demonstriert hat, was das Aufsehen auf Jesus als den Anfänger und Vollender des Glaubens für eine prägende und bildende Wirkung auf Menschen, vor allem auf Heranwachsende, ausüben kann. Die Geschichte steht in der Autobiographie von Charlie Chaplin, der unter ärmsten Verhältnissen in London aufwuchs. Sie spielt im Jahr 1894, als Charlie 5 Jahre alt war:
"Ich erinnere mich" - schreibt Chaplin - "an einen Abend in unserer Einzimmerwohnung im Keller an der Oakley Street. Ich lag mit Fieber im Bett, begann mich aber schon wieder zu erholen. Mein Bruder Sydney war zur Abendschule weggegangen, und Mutter und ich waren allein. Es war später Nachmittag, und sie saß mit dem Rücken zum Fenster und las, spielte und erklärte mir auf ihre unnachahmliche Art das Neue Testament, vor allem Christi Liebe und Barmherzigkeit gegenüber den Armen und den kleinen Kindern. Vielleicht hing ihre Gefühlsbewegung mit meiner Krankheit zusammen, jedenfalls lieferte sie die erhellendste und andringendste Deutung Christi, die ich je gehört oder gesehen habe. Sie sprach von seiner verständnisvollen Zuwendung zu anderen, von der Frau, die gesündigt hatte und von der Menge gesteinigt werden sollte, und von seinen Worten an die Menge: 'Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!' Sie las weit in die Dämmerung hinein und machte nur einmal eine Pause, um eine Lampe anzuzünden. Sie erzählte von dem Glauben, den Jesus in den Kranken erweckte, dass sie nur den Saum seines Gewandes zu berühren hatten, um geheilt zu werden. Sie erzählte von dem Hass und der Eifersucht der Hohenpriester und Pharisäer und beschrieb, wie Jesus festgenommen wurde und wie er in ruhiger Würde vor Pontius Pilatus trat, auch davon, wie der seine Hände wusch und sagte: 'Ich finde keine Schuld an ihm' (diese Szene spielte sie mir theatralisch vor). Dann erzählte sie, wie sie Jesus auszogen und auspeitschten, wie sie ihm eine Dornenkrone aufs Haupt setzten, ihn verspotteten und anspuckten und zu ihm sagten: 'Heil, du König der Juden!' Als sie fortfuhr, schossen ihr Tränen in die Augen. Sie erzählte von Simon, der half, Jesu Kreuz zu tragen, und von dem durchdringend dankbaren Blick, den Jesus ihm zuwarf. Sie erzählte von dem umkehrwilligen Übeltäter, der mit Jesus zusammen am Kreuz starb und um Vergebung bat, und davon, wie Jesus zu ihm sagte: 'Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein'. Und wie er vom Kreuz herab auf seine Mutter blickte und sagte: 'Weib, siehe hier dein Sohn!' Und wie er im letzten Todeskampf laut schrie: 'Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?' Und wir weinten beide. 'Sieh doch', sagte Mutter, 'wie ganz menschlich er war; so wie wir alle hat er den Zweifel erfahren und ertragen müssen.' Mutters Erzählung hatte mich so gepackt, dass ich dieselbe Nacht noch sterben wollte und Jesus begegnen. Aber Mutter war davon nicht begeistert. 'Jesus will, dass du zuerst lebst und deine Bestimmung hier erfüllst', sagte sie. In jenem dunklen Raum im Keller an der Oakley Street brachte Mutter für mich das freundlichste Licht zum Leuchten, das diese Welt je gekannt hat. Es hat die Literatur und das Theater mit ihren größten und kostbarsten Themen ausgestattet: Liebe, Barmherzigkeit und Menschlichkeit."
An dieser autobiographischen Schilderung ist mir einprägsamer als irgendwo sonst aufgegangen, wie der Aufblick zu Jesus in einem Leben Gestalt gewinnen kann. Charlie Chaplin hat ein ziemlich unheiliges Leben geführt, wenn man ihn an den traditionellen christlich-kirchlichen Maßstäben misst. Und doch gehört er für mich ohne Frage in die Wolke der Zeugen. Mit zäher Ausdauer, gegen Widerstände aller Art, ungeachtet der zugefügten Schmach ist er den Weg der Liebe, der Barmherzigkeit und der Menschlichkeit selbst gegangen, hat ihn auch anderen gewiesen und hat viele seiner Filme zu Botschaftern der Liebe und der Barmherzigkeit gemacht - entsprechend dem hellen Licht Jesu, das seine Mutter, als er noch ein Kind war, in ihm entzündet hat.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre auch eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Weiter, liebe Schwestern und Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht.
Amen.