Predigt im Brandenburger Dom am Sonntag Rogate
Wolfgang Huber
I.
Ein Seelsorger besucht einen jungen Mann in einem New Yorker Gefängnis, der seine Mutter umgebracht hat. Der Pfarrer redet voller Verständnis mit dem Gefangenen. Er erinnert ihn an den Alkoholismus seines Vaters, an den Stadtteil, aus dem er kam. Gewalt war dort üblich und die Armut erniedrigte die Menschen. Begütigend sagt er dem jungen Mann, eigentlich sei nicht er der Täter, sondern die bösartigen Verhältnisse. Da schreit der Mann den Pfarrer unvermittelt an: „Nein! Ich habe meine Mutter umgebracht, nicht die Verhältnisse!“
Was hat der Seelsorger getan? Und was bedeutet die Reaktion des jungen Mannes? Der Pfarrer ist voller Mitleid. Er will das Schuldgefühl des jungen Mannes mildern. Der aber besteht darauf, Urheber seiner eigenen Tat zu sein. Er will sich seine Verantwortung nicht nehmen lassen; er steht zu seiner Schuld. Er besteht auf der Würde, Subjekt seines eigenen Lebens zu sein. Er besteht auf seiner Freiheit, auch wenn er sie missbraucht hat.
Die Einsicht dieses jungen Mannes soll am Anfang der Predigtreihe über die Zehn Gebote stehen. Aus dem Munde eines verurteilten Verbrechers hören wir, wie wesentlich die Freiheit ist. Sie ist ein Zeichen dafür, wie ernst Gott uns Menschen nimmt. Gott setzt die Würde des Menschen voraus. Jeder Einzelne von uns verantwortet sein Leben vor Gott und den Mitmenschen.
Auch Mose wurde als Mörder gesucht. Er hatte einen ägyptischen Aufseher erschlagen. Ausgerechnet diesem Menschen gibt Gott sich im brennenden Dornestrauch zu erkennen. Ausgerechnet diesem Mose vertraut Gott auf dem Berg Sinai die Tafeln mit den Zehn Geboten an.
II.
Die verpflichtenden Texte, die uns überliefert wurden, sind heute vom Verblassen bedroht. Hinter uns liegen tiefgreifende Traditionsabbrüche. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren den meisten Menschen die Texte des Katechismus und die Kernaussagen der Bibel vertraut. Die Geschichte des Mose war ihnen geläufig. Doch was geschieht eigentlich, wenn Texte verschwinden, weil sie niemand mehr kennt? Was wird aus unseren Kindern, wenn ihnen die Regeln des Rechts nicht mehr vor Augen stehen? Was geschieht mit der deutschen Gesellschaft, wenn die Mehrheit der Bevölkerung vergisst, was es mit der christlichen Ethik, mit den zehn Geboten und mit dem barmherzigen Samariter auf sich hat?
Heute müssen wir vielfach bei null beginnen. Dazu brauchen wir Mut – den Mut, der sich zum Beispiel an den Schulen, dem Kindergarten und dem Hort hier am Dom zu Brandenburg erleben. Wir brauchen die Bereitschaft, auf die Neugier der Kinder zu reagieren, die all das wissen wollen: Was sind die zehn Gebote, wie hat Jesus sie aufgenommen, und was hat Martin Luther neu entdeckt. Mut und Neugier – das sind übrigens zwei Tugenden, die traditionell nicht hoch in Ehren stehen, die ich aber gern neu zu Ehren bringen möchte. Sie sind nämlich geeignet, einen Traditionsabbruch zu überwinden und neue Traditionen zu stiften.
Die Chancen dafür sind günstig. Denn wir erleben ein neues Interesse an verlässlichen Normen; die Suche nach Sinn und Halt treibt viele Menschen um. Die Domgemeinde bringt die biblische Botschaft neu zum Klingen, die uns gerade in dieser Kirche anvertraut ist. Die Predigtreihe über die Zehn Gebote ist ein Beispiel dafür. Dankbarkeit, ja Stolz kann uns erfüllen, wenn wir den von vielen bereits vergessenen Texten, den ausgestoßenen Wörtern und den verdrängten Bildern neuen Raum geben.
Heute also geht es um das erste der zehn Gebote. Es lautet:
Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.
III.
Von Gott gibt es weder Fotos noch andere Abbilder. Kein Gottesbeweis reicht an Gott selbst heran. Nicht nur die bildende Kunst, sondern auch die menschliche Vernunft überfordert sich selbst, wenn sie ein intellektuelles Fahndungsfoto von Gott erstellen will.
Gott bleibt bildlos. Aber die Frage nach Gott geht jeden an. „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ So hat Martin Luther, der große Reformator, die Gottesfrage beschrieben. Aber auf die Frage nach Gott werden unterschiedliche Antworten gegeben. Auch in der Stadt Brandenburg leben häufig Menschen unter einem Dach, die ihr Leben unter höchst unterschiedlichen Voraussetzungen verstehen und führen. Die einen rechnen nicht im Entferntesten mit der Wirklichkeit Gottes; andere haben Erfahrungen mit Gott gemacht, die ihr Leben vom Kopf auf die Füße stellten.
Es gibt auch eigentümliche Irrtümer, die sich von Generation zu Generation vererben. Die Bilder von einem weißbärtigen Mann in wolkiger Höhe sind nicht biblisch, sondern heidnisch. Sie gehen auf die griechische Mythologie zurück und zeichnen die Züge des Göttervaters Zeus nach.
Anders die biblische Überlieferung: Der unsichtbare Gott des Volkes Israel kann nicht abgebildet werden. Es ist unvorstellbar, Gott in einen Bilderrahmen einzuzeichnen. Sein Wirken entfaltet sich als Rettung und Segen. Für uns Christen verdichtet sich die Gotteserfahrung in Jesus Christus auf eine unüberbietbare Weise. Im Antlitz Jesu Christi gibt Gott sich zu erkennen.
Schon die Selbstvorstellung Gottes, mit der die zehn Gebote beginnen, ist bemerkenswert. Am Anfang steht die Erinnerung an Gottes rettendes Handeln: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ Gott begegnet uns in seinem Handeln. Er ist also nicht „handhabbar“. Adresse und Telefonnummer lassen sich nicht einfach ins Handy einspeichern. Aber ich kann mich im Gebet an ihn wenden, ihn als Vater anrufen, Du zu ihm sagen.
Bedenken wir einen Augenblick die dramatische Szene: Die Israeliten werden aus dem Land der Knechtschaft herausgeführt. Ihre Neugeborenen werden nicht mehr getötet. Die Fronarbeit im fremden Land ist vorbei. Sie sind noch nicht im Land der Freiheit, aber sie sind auf dem Weg. Am Berg Sinai schlägt Gott dem Volk einen Bund vor. Das Volk selbst soll das Heiligtum Gottes sein. Und er will ihr starker Gott sein. Die mit dem Finger Gottes auf die Steintafeln geschriebenen Zehn Gebote sollen der Bewahrung der Freiheit dienen.
Wir können die Ereignisse vom Schilfmeer und vom Sinai auf das Urdatum christlicher Gotteserkenntnis übertragen. Im Stile des ersten Gebotes klingt das wie folgt: Ich bin der Herr, dein Gott. Ich habe mich für dich in Jesus Christus der äußersten Erniedrigung und dem tiefsten Leiden ausgesetzt, um dich aus der Knechtschaft der Sinnlosigkeit und der Schuld zu befreien.
Wenn ich mich für eine Begegnung mit Gott öffne, tritt mir das Geschenk der Freiheit vor Augen wie ein weiter Horizont. Wenn ich dem unsichtbaren Gott die Ehre gebe, dann bewahrt mich das davor, mein Heil von falschen Mächten zu erwarten.
Das Hauptproblem der Menschheitsgeschichte sind die falschen Götter, denen sich die Menschen verschreiben, die sie anbeten, denen sie ihr Hab und Gut und manchmal auch ihre eigenen Kinder opfern. Die falschen Götter, mit denen Gewalt gerechtfertigt und Ungerechtigkeit bestärkt wird. Die fremden Götter verlangen immer Opfer. Entweder man opfert sich selbst für sie oder man opfert andere. Wenn dann nach dem Krieg ein Schuldbekenntnis gesprochen wird, dann sagen die Menschen: Wir haben zu wenig geglaubt und zu wenig geliebt. Das stimmt. Doch man könnte sich auch anklagen, dass man zuviel geglaubt hat, viel zu viel. Dem Glauben an falsche Götter hing man an: an die eigene Nation, die eigene Klasse, den eigenen wirtschaftlichen Vorteil. Der Glaube an Gott lehrt uns das Misstrauen gegen die Netze und Fallen der Götzen, der Ungeheuer, die uns zwingen, uns oder unsere Kinder in ihren Rachen zu werfen. Unser Herz ist zu kostbar dafür, es an etwas anderes zu hängen als den lebendigen Gott.
Indem ich mich an Jesus Christus halte und an Gott binde, werde ich zur Freiheit berufen. Indem ich zu dem einen Gott aufblicke, gewinne ich Mut zum aufrechten Gang; und mein Leben erhält ein menschliches Maß. Die zehn Gebote beschreiben einen Weg in der Freiheit des Glaubens; sie sind eine Magna Charta zur Bewahrung der Freiheit. Um es mit den Worten des 23. Psalms zu sagen: „Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.“
"Du sollst nicht ... "Du sollst nicht ... Der Wortlaut der Zehn Gebote klingt nach Begrenzung, ja nach einer Verhinderung von Lebensmöglichkeiten. Immer wieder wurden sie auch so verstanden; menschliche Selbstbestimmung sollte gebändigt, der Entfaltung menschlicher Kräfte sollten Grenzen gesetzt werden. Doch die Zehn Gebote sind in Wahrheit auf etwas anderes gerichtet. Sie wollen Freiheit und Würde des Menschen schützen und mehren. Jede Auslegung dieses großen Textes aus alter Zeit ist daran zu messen. Dass dies zum Bewusstsein kommt, ist mein Wunsch für diese Predigtreihe. Die Zehn Gebote sind ein Wegweiser der Freiheit. Sie helfen uns auch heute dabei, die uns anvertraute Freiheit zu bewahren.
Manche der heute Alten mussten in ihrer Kindheit – so wie einst Mose - Ziegen hüten. Abends, so kann man sie berichten hören, sei es nicht immer leicht gewesen, die Ziegen in den Stall zurückzubringen. Es gab dafür zwei Methoden, eine mühselige und eine leichte. Die mühselige: Man zerrte die Tiere an der Kette. Die leichte: Man lockte die Ziegen mit einer Rübe. Die Zehn Gebote schützen unsere Freiheit. Sie sind, im Bilde gesprochen, eher Rübe als Kette. Die Wegweisungen Gottes wollen uns in das Land der Freiheit führen. Wir können über sie reden und sie zu unserer Herzenssache machen, damit möglichst viele schmecken, wie köstlich diese Gebote sind.
Amen.