Predigt über Römer 8, 26-30, am Sonntag Exaudi in der Auferstehungskirche in Hannover-Döhren

Hermann Barth

Liebe Gemeinde!

I

Wir leben in einer Zwischenzeit. Zwischen dem Fest Christi Himmelfahrt und dem Pfingstfest. Was macht die Besonderheit dieser Zwischenzeit aus? Das ist bei Günter Jauch und Jörg Pilawa eine 100.000 €-Frage. Vielleicht würden die beiden mit einem Hinweis auf die Sprünge zu helfen versuchen und den Rat geben: 'Mobilisieren Sie doch alle Ihre Erinnerungen an biblische Geschichten! Was war es gleich, das Jesus seinen Jüngern angekündigt hat, bevor eine Wolke ihn aufnahm und wegnahm?' Ach ja, aus der Tiefe der Erinnerung an Religionsunterricht und Konfirmandenzeit und die Beteiligung an Gottesdiensten taucht einiges auf: "Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt mit dem heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen". Das waren Jesu Worte, und sie hatten noch eine Fortsetzung: "Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein". Damit lässt sich auch die Frage beantworten, was die Besonderheit der Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten ausmacht: In diesen zehn Tagen geht es um das Warten auf den heiligen Geist, das Abwarten, ob es auch bei uns so kommen wird, wie Jesus es seinen Jüngern angekündigt hat, die sehnsüchtige Erwartung, es möge doch endlich so weit sein, die beunruhigende Frage, woran man es merkt, dass man es wirklich mit dem Geist Gottes zu tun hat, und was sich wohl ändert, wenn dieser Geist in uns und unter uns wirksam wird. Warten kennt viele Spielarten.

Der heutige Sonntag schließt die Osterzeit ab. In dem Abschnitt des Gesangbuchanhangs, der dem Kirchenjahr gewidmet ist, wird er als der 6. Sonntag nach Ostern aufgeführt. Aber genau betrachtet steht er schon ganz im Bann des Pfingstfestes. Man merkt es an den Schriftlesungen; als Evangelium haben wir einen der Abschnitte aus den Abschiedsreden Jesu über den "Tröster" gehört: "Wenn aber der Tröster kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, den Geist der Wahrheit ..., der wird Zeugnis geben von mir". Man merkt es am Wochenlied: "Heilger Geist, du Tröster mein, hoch vom Himmel uns erschein" - durch und durch ein Pfingstlied, aber als Bitte um das Kommen des Geistes auch gut passend in die Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Man merkt es schließlich selbst am Namen, den dieser Sonntag bekommen hat: Exaudi - "Höre meine Stimme" oder in der Langfassung: "Höre meine Stimme, wenn ich rufe, sei mir gnädig und erhöre mich"; dieser Ruf bringt auch die brennende Sehnsucht und das dringende Verlangen nach dem Kommen des Geistes Gottes zum Ausdruck. So könnte man den heutigen Sonntag statt von Ostern her genau so gut auf Pfingsten hin zählen: Letzter Sonntag vor Pfingsten.

Ganz auf das Pfingstfest ausgerichtet sind auch die Predigttexte, die für diesen Sonntag vorgesehen sind, nicht zuletzt der Abschnitt aus dem 8. Kapitel des Römerbriefs, der heute an der Reihe ist:

(26) Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. (27) Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt. (28) Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. (29) Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. (30) Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.

II

Der erste Satz ist der wichtigste: "Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf" - unübertrefflich in Musik gesetzt in Johann Sebastian Bachs gleichnamiger Motette. Mit nur sechs Wörtern wird viel über den Geist, über sein Werk und über uns Menschen gesagt.

Im Deutschen ist ebenso wie in einigen anderen Sprachen "Geist" ein vieldeutiges Wort. Die einen denken dabei an den menschlichen Verstand, andere gleich an den "Weltgeist", wieder anderen fallen Geisterglaube und Geisterschabernack ein. Wenn der Apostel Paulus im 8. Kapitel des Römerbriefs vom "Geist" spricht, ist der Sinn hingegen eindeutig: Wir bekommen es mit Gott selbst zu tun. Die nächsten Jahrhunderte christlicher Theologie haben diese Linien weiter ausgezogen und die Lehre vom dreieinen Gott gebildet. Anders als viele Muslime immer wieder mutmaßen, beten Christen nicht zu drei Göttern, sondern zu dem einen Gott, der der Welt und den Menschen in dreifacher Gestalt begegnet.

Der Schlüsselbegriff für das Werk des Geistes Gottes heißt aufhelfen. Man muss sich das zunächst ganz konkret vorstellen: Die Krankenschwester hilft einem von schwerer Krankheit und langer Bettlägerigkeit geschwächten Menschen dabei, sich wieder aufzurichten und auf die Beine zu kommen. Oder ein hilfsbereiter Passant eilt herbei, weil jemand auf dem Gehweg gestolpert, gestürzt und vielleicht verletzt ist, und hilft ihm hoch. Aber diese konkreten Vorgänge bekommen in Verbindung mit dem Aufhelfen des Geistes eine übertragene Bedeutung. Sie stehen für die Aufmunterung, die Überwindung der Traurigkeit, das Vertreiben der Angst. Johann Sebastian Bach hat seiner Motette textlich neben den einschlägigen Versen aus dem Römerbrief noch eine pfingstliche Liedstrophe Martin Luthers zugrundegelegt. Sie legt auf diese Weise aus, was in Bachs Verständnis mit der Wendung aus dem Römerbrief gemeint ist. Wir werden die Strophe beim Lied nach der Predigt singen, aber in der leicht modernisierten Fassung des gegenwärtigen Gesangbuchs:

"Du heilige Glut, süßer Trost, nun hilf uns, fröhlich und getrost

in deim Dienst beständig bleiben, die Trübsal uns nicht wegtreiben.

O Herr, durch dein Kraft uns bereit und wehr des Fleisches Ängstlichkeit,

dass wir hier ritterlich ringen, durch Tod und Leben zu dir dringen."

Dass der Geist Gottes dem Menschen aufhelfen muss, wird der menschlichen Schwachheit zugeschrieben. Im biblischen Verständnis des Menschen bezieht sich Schwachheit weniger auf seine begrenzte physische Leistungsfähigkeit als vielmehr auf seine bleibende Neigung, Gott nicht allein zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen. Der Schwachheit aufhelfen – das geschieht dort, wo der Geist Gottes das Herz eines Menschen fest und getrost macht, allen Schreckensnachrichten zum Trotz. Oder es geschieht dort, wo Menschen fröhlich in die Zukunft schauen, obwohl sie in ihrem Leben nichts zu lachen haben.

III

Ein besonderes Kapitel unserer Schwachheit – auch im Predigttext - ist es, dass wir nicht "wissen ..., was wir beten sollen, wie sich's gebührt".

Man könnte meinen - und viele tun es auch -, dass Beten eine natürliche Fähigkeit des Menschen sei. Jedem liege es sozusagen im Blut, zu Worten des Gebets Zuflucht zu nehmen, und eben darum sei das Beten in allen unterschiedlichen Kulturen und Religionen anzutreffen. An dieser Auffassung ist etwas dran. So verschieden die Kulturen und Religionen sind - sie kennen alle das Gebet. Not lehrt beten, sagt das Sprichwort, und damit ist gemeint, dass auch der, der im Beten ganz ungeübt ist oder vom Beten gar nichts hält, in der Situation äußerster Not zum Beten findet. Noch in jedem formelhaften und abgeblassten "Gott sei Dank" steckt ein Dankgebet und in jedem "Ach Gott" ein Klage- und Bittgebet.

Aber was sich Gebet nennt und wie ein Gebet anhört, muss nicht ein rechtes Beten sein. Manche Bittgebete sind sehr selbstsüchtige Wunschzettel. Wenn alles andere nicht mehr verfängt, dann wird Gott bemüht, um den eigenen Wünschen Erfüllung zu verschaffen. Dietrich Bonhoeffer hat in seinem Gedicht "Christen und Heiden" sogar das Unterscheidungsmerkmal der Christen gegenüber den Heiden darin gesehen, dass sie Gottes Leiden in der Welt teilen und nicht von Gott die Beseitigung ihrer Not erwarten:

"Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehn um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

Menschen gehen zu Gott in Seiner Not.
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.

Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod
und vergibt ihnen beiden."

Manche Gebete sind auch gar keine echte Äußerung des Herzens, sondern religiöse Show. Man will demonstrativ zeigen, wie fromm man ist. Jesus hat davon in der Bergpredigt gesagt:

"Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die ...beten, damit sie von allen Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten" (Matthäus 6,5f).

Kein Zweifel - es gibt ein echtes und ein unechtes, ein rechtes und ein falsches Beten, eines, das seinen Namen verdient, und eines, das eigentlich gar kein Beten ist. Aber wie wird mein Beten recht? Vorbilder können helfen, gute Beispiele können Anleitung geben. Jesus hat ja mit dem "Vater unser" selbst eine Anleitung gegeben. Und doch ist es mit der Benutzung eines Musters und der Nachahmung eines Vorbilds nicht getan. Wer garantiert mir, dass ich die Zeilen des "Vater unser" nicht mit meinen sehr selbstsüchtigen Wünschen fülle? Wer schützt mich davor, wenn ich Gott für den guten Verlauf und das Gelingen bestimmter Vorhaben danke, dass ich dabei lediglich meinen unheiligen Absichten einen Heiligenschein aufsetze? Wer lehrt mich die Unterscheidung zwischen den Ereignissen, in die ich mich nach Gottes Willen schicken soll, und denen, um deren Abwendung ich nach Gottes Willen bitten darf? Und überhaupt - woher nehme ich den Mut und die Kraft, überhaupt zu beten und nicht vielmehr zu verstummen? All dieses liegt nicht bei mir. Es ist nicht die Sache eines einfachen Entschlusses, nicht die Sache meiner vielleicht weiter zu entwickelnden Fähigkeiten. Die Frage ist vielmehr, ob ich frei dazu bin, mich nicht auf mich selbst zu verlassen, sondern dem Geist Gottes in mir Raum zu geben. Er wird die rechten Worte finden.

IV

Es gibt noch einen anderen Grund, sich beim Beten nicht auf sich selbst zu verlassen, sondern dem Geist Gottes Raum zu geben. Ihn hat der Apostel Paulus im Auge, wenn er den Sätzen über das Beten die Bemerkung hinzufügt: "Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen".

Viele Menschen sind überzeugt, sie wüssten ganz allein, was ihnen gut tut. Was sie nicht selbst für sich ausgewählt und entschieden haben, das haben sie im Verdacht, dass es ihnen mehr schadet als nützt. Selbstbestimmung sei der Weg zum Lebensglück. Ich stimme durchaus ein in das Lob der Selbstbestimmung. Es gehört geradezu zur Würde des Menschen, das Leben in die eigenen Hände nehmen zu dürfen und frei zu sein von Gängelung durch andere. Es ist besonders unangenehm, wenn jemand mit dem Anspruch auftritt, besser als ich selbst zu wissen, was gut für mich ist. Man nennt das "fürsorgliche Belagerung". Es kann sogar durchaus zutreffen, dass ein anderer schärfer und besser sieht als ich selbst, was gut für mich wäre. Und doch - es muss auch eine Freiheit zur falschen Entscheidung geben. Insoweit ist alles in Ordnung mit dem Lob der Selbstbestimmung. Das Problem entsteht erst dadurch, dass jemand nichts anderes mehr gelten lässt, als sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Vor allem in zwei Lebenssituationen kommt man damit nicht durch: wenn man aus Krankheitsgründen seine Selbstbestimmung nicht mehr verlässlich ausüben kann und – zweitens - wenn man lieben will und geliebt werden will. Niemand kann lieben und geliebt werden. wenn er oder sie darauf besteht, jede Wahl und Entscheidung ganz allein zu treffen. Liebe besteht und zeigt sich doch gerade darin, dass ich mich dem Willen und Wunsch des geliebten Menschen überlassen und anvertrauen kann, und zwar in der Zuversicht, dass dabei etwas Gutes herauskommt.

Und damit sind wir wieder beim Apostel Paulus. Jeder weiß – schreibt er -, "dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen". Wer Gott liebt, der muss nicht alles dransetzen, Gott zu einer Art Wunscherfüllungsautomaten zu machen, denn auch dann, wenn der Vater im Himmel andere Wege geht, als ich sie eingeschlagen hätte, und andere Ziele verfolgt, als ich sie gewählt hätte, weiß ich: Er liebt mich. Alles, was er tut, wird mir auf die Länge der Zeit zum Besten dienen. Oder etwas anders: Weil alles, was er tut, den Menschen zugute geschieht, darum kann und soll ich es mir zum Besten dienen lassen. Ich könnte sogar auf das Abliefern einer Gebetswunschliste verzichten, denn Gott weiß, was wir zum Leben brauchen. "Es kann mir nichts geschehen, als was er hat ersehen und was mir selig ist ... So sei nun, Seele, deine und traue dem alleine, der dich geschaffen hat" (EG 368,3+7).

V

Wir befinden uns zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Zwischen dem Bekenntnis zur machtvollen Herrlichkeit des Auferweckten und der Hoffnung auf den Geist, der uns Alltagsmenschen in diese Herrlichkeit hineinnimmt. Noch leben wir unsere Berufung unter den Bedingungen der Schwachheit, aber Jesus, der in den Himmel Aufgenommene, wird uns nachziehen, damit er am Ende bloß "der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern" und Schwestern.

Der Predigttext besteht aus bescheidenen fünf Versen. Aber sie leisten es, uns mit hineinzunehmen in das Ganze, was Paulus über die Existenz des Christenmenschen, über christliche Hoffnung, über Schwachheit und Herrlichkeit zu sagen weiß. Es handelt sich um eine Art Kurzanleitung zu christlicher Lebenskunst. Eine Lebenskunst, die davon ausgeht, dass ich nichts kann, sondern alles geschieht. Eine Lebenskunst, die gelassen macht, aber eben nicht fatalistisch, weil Gott alle Dinge zum Guten führt. Eine "geistreiche" Lebenskunst, die den Geist als Stellvertreter an ihrer Seite weiß und immer neu auf ihn hofft.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.