Andachtsreihe "Himmel und Erde" auf NDR 1 Niedersachsen: "Eine Reise durch Südamerika" vom 13. bis 16. Mai 2008
Martin Schindehütte
Er ist zu Gast in einem Slum, in einer Schule und in einem Projekt für Kleinbauern: Auslandsbischof Martin Schindehütte erzählt seine ganz persönliche „Pfingstgeschichte“.
Dienstag, 13. Mai 2008
Eine Schule wie in Bethlehem
„Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“ Das ist die Botschaft von Pfingsten. Erfüllt vom Geist Gottes gehen die Jünger Jesu auf die Straßen Jerusalems - und jeder konnte sie verstehen. Und die Leute sagten: „Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“
Wie ich diesen Satz verstehe? Dazu will ich Ihnen in dieser Woche von meiner Reise durch Lateinamerika erzählen. Auch da geht es um Glauben, um Sprachen und um Begegnungen.
Da ist zum Beispiel die Schule Belen. Sie liegt in einem Armenviertel am Stadtrand von Santiago de Chile. „Belen“ heißt die Schule – denn das erinnert an Bethlehem. Die Kinder, die hier in die Schule gehen, leben wie Jesus selbst. Es sind Kinder, die am Rande leben. Sie haben „keinen Raum in der Herberge“ – wie Jesus. Sie wachsen unter elenden Bedingungen auf.
Als ich die Schule besuche, sind die Kinder angetreten. Alle in roten T-Shirts. Sie schmettern ein fröhliches Lied und ihre Gesichter leuchten. Einige treten vor und überreichen schüchtern kleine selbst gebastelte Geschenke. Und dann höre ich: Am Nachmittag kommen die Jugendlichen in diese Schule, abends drücken sogar die Eltern die Schulbank.
Warum? Es geht um mehr als Lesen und Schreiben. Ohne diese Schule hätten sie alle keine Chance. Sie leben in winzigen Wohnungen in Schlichtbauten. 40 Quadratmeter für 4 oder 5 Menschen. Die Umgebung ist geprägt von Armut, Gewalt, sexueller Erniedringung, Alkohol und Drogen. Vor allem: Die Menschen in diesem Armenviertel haben keine Arbeit.
Wie da die Hoffnung nicht verlieren? Wie den Schlägen entgehen, die es setzt für Frauen und Kinder zuhause und auf der Straße? Wie Zukunft gewinnen aus eigener Kraft?
Die Schule gibt Antworten. Und die heißen Spiel und Sport, um den Körper zu erproben. Malen und Basteln - die schöpferische Kraft entdecken. Lesen und Lernen – das stärkt das kritische Denken. Miteinander reden und verstehen – so erfahren die Kinder die versöhnende Wirkung des Wortes. Und sie singen und beten – ihr Glaube ermutigt sie!
Die Schule wird von der kleinen lutherischen Kirche in Chile getragen – dazu gehören gerade mal ein paar tausend Mitglieder im ganzen Land. Doch es ist nur eines von vielen Projekten. Alleine geht das nicht. Darum engagieren sich hier auch die Kindernothilfe und die Evangelische Kirche in Deutschland, die EKD.
Nach der Begegnung sind wir in dem kleinen Kirchenraum, der zugleich Schulraum ist. Da ist keine weihevolle Stille zu spüren. Wir sitzen mit den Kindern und Lehrern zusammen, sie erzählen. Ich kann kein Spanisch. Wir verstehen uns trotzdem. Für mich ist das Pfingsten. Denn wie heißt es in der Pfingstgeschichte: „Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“
Mittwoch, 14. Mai 2008
Eine Kirche im Armenviertel
„Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“ Das ist die Botschaft von Pfingsten. Die Geschichte erzählt: Die Jünger gehen in Jerusalem auf die Straße und reden von Jesus – und die Menschen aus verschiedensten Ländern können sie verstehen. Ein Sprachenwunder! Und etwas ganz ähnliches habe ich vor einigen Wochen erlebt bei meiner Reise durch Lateinamerika... Und davon will ich erzählen.
Da ist ein kleines Steinhaus. Es steht unter einfachsten Hütten und halbfertigen Behausungen. Das Haus heißt „San Ambrosio“. Es ist ein Sozialprojekt der kleinen lutherischen Gemeinde am Stadtrand von Buenos Aires. Ein hoher Zaun schützt das Gelände. „Buenos Aires“ – den Namen der Stadt kann man eigentlich mit „Gute Lüfte“ übersetzen. Doch davon ist an diesem Tage nichts zu spüren. Abfall liegt auf der Straße.
Und genau hier in diesem Armenviertel hat die lutherische Kirche ein Sozialprojekt gebaut. Der Leiter des Projektes mit dem deutschen Nachnamen Schultheis erzählt uns von den Angeboten. Kinder und Jugendliche sollen hier Geborgenheit und Schutz finden. Und während wir reden, hämmern zwei Kinder eifrig ein Nagelbild. Es soll fertig werden, bevor die Gäste gehen. Nebenan, in einer Küche bereiten einige Frauen 120 Mahlzeiten vor. So viele kommen mittags hierher, weil sie sonst für Ihre Familien nichts zu essen hätten.
An den Wänden entdecke ich selbstentworfene Plakate von Aktionen und Gottesdiensten. Ich entziffere die spanischen Worte für Barmherzigkeit, Frieden, Gerechtigkeit, Menschenfreundlichkeit und sehe christliche Symbole: das Kreuz, die aufgehende Sonne und zerbrochene Ketten. Das war für den Ostergottesdienst, erzählt der Gastgeber.
In einem Raum entdecke ich ein Kreuz aus Glasbausteinen. Es ist in die Wand eingelassen. Der Leiter erzählt: Dort war früher ein Fenster. Doch immer wieder wurde eingebrochen. Nun ist es zugemauert. An seiner Stelle fällt nun das Licht durch das Kreuz in den Raum. Ein schönes Bild: Das Kreuz aus Glasbausteinen schützt und lässt zugleich das Licht der Hoffnung durchscheinen.
Zum Schluss sitzen wir mit den Frauen zusammen. Sie erzählen von ihren Männern und Kindern. Und sie berichten, wie sie gemeinsam ihre Gemeinde aufbauen und wie wichtig ihnen der Gottesdienst ist, den sie selber gestalten.
Ein Metallgefäß mit heißem Mate – einem besonderen Tee - macht die Runde. Ich denke an Infektionen und zögere. Doch erinnert mich die Begegnung an ein Abendmahl. Zeichen einer Gemeinschaft von Christen. Und obwohl alles, was wir sagen, übersetzt werden muss, kommt es mir bald so vor, als ginge es auch ohne Übersetzung, so nahe fühlen wir uns.
Wie haben wir es in der Pfingstgeschichte gehört? „Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“
Das stimmt, denke ich. Und trinke gerne den Tee, der mir angeboten wird.
Donnerstag, 15. Mai 2008
Eine Gedenkstätte am Meer
„Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“ Das ist die Botschaft von Pfingsten. Die Menschen in Jerusalem hören die Jünger in ihrer eigenen Sprache reden. Wissen Sie, wie ich das verstehen? Dazu möchte ich Ihnen die Geschichte meiner Reise durch Lateinamerika erzählen...
Wir stehen an einer breiten Prachtstraße am Atlantik in Montevideo, der Hauptstadt von Urugay. Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde begrüßt uns etwas scheu und führt uns zu einem denkwürdigen Ort – unmittelbar am Stand.
Vor mir sehe ich ein kurzes Stück Bahnschienen im Rasen, das auf eine Mauer zuführt. Hinter der Mauer - zur See hin - eine abschüssige gepflasterte Ebene und Gräben. Und es ist leicht zu erkennen: Dies ist eine Gedenkstätte! Und dort lese ich die Worte in einer Steinplatte: „MEMORIAL DEL HOLOCAUSTO DEI PUEBLO JUDEO“ – „Erinnerung an den Holocaust am Jüdischen Volk“.
Der Steinplatte hätte es gar nicht mehr bedurft. Die Anlage spricht auch ohne Worte. Schienen, Mauern, Gräben, eine abschüssige Ebene. Sie sprechen eine Sprache, die alle verstehen. Ein Volk geht in die Tiefe des Leides. Jemand hat die Gräben von Hass, Verblendung und Rassismus aufgerissen. Wie kann man da noch Brücken bauen, die einen Weg in die Zukunft zeigen?
Wir sagen nicht viel. Vor mir steht das Mitglied der jüdischen Gemeinde, neben ihm der Pfarrer der deutschen Gemeinde in Montevideo. Sie haben über Jahre geduldig und beharrlich miteinander gesprochen – weit weg von Deutschland. Gemeinsam haben sie sich für das Mahnmal eingesetzt und füllen es mit Leben. Und sie haben etwas erreicht, was uns in Deutschland ganz nahe kommt. Ohne Erinnerung keine Versöhnung.
Das Mitglied der jüdischen Gemeinde und der evangelische Pfarrer in Montevideo: Gemeinsam haben sie eine Sprache gefunden. Die Sprache dieses Mahnmals und das Sprechen miteinander. Es ist die Sprache der Versöhnung. Sie haben erfahren, was der Satz der Pfingstgeschichte bedeutet: „Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“
Freitag, 16. Mai 2008
Eine Kooperative für Kleinbauern
„Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“ Das ist die Botschaft von Pfingsten. Mit Geschichten meiner Reise durch Lateinamerika will ich erzählen, wie ich das verstehe. Vor wenigen Wochen war ich dort.
Wir sitzen in einer kleinen Steinhütte mitten in Reisfeldern. Ich bin in Brasilien, in der Nähe von Porto Alegre. Neben mir sitzen Großvater, Vater und Enkel. Vor 9 Jahren sind sie hier angesiedelt worden, erzählen sie. Landlose ohne Perspektive, die nach einem langen Kampf endlich Erfolg hatten. Sie bekamen ein eigenes Gelände, das ein reicher Investor an den Staat verkaufen musste. Die Kleinbauern haben daraufhin eine Kooperative gebildet und Bewässerungsgräben angelegt. Dann haben sie Saatgut gekauft, Maschinen angeschafft und hart gearbeitet. Am Rande der Reisfelder sind kleine Siedlungen entstanden. 380 Familien leben jetzt dort.
Es ist erst die vierte richtige Ernte, berichten meine Gastgeber – und endlich eine gute. Alle drei sind glücklich an diesem Tag. Denn diesmal wird auch genug übrigbleiben, um etwas von dem Kredit abzuzahlen. Ihr Startkapital bekamen sie von der Lutherischen Kirche in Brasilien.
Wir reden mit dem Übersetzer über die harte Zeit des Anfangs. Nach einer Weile beginnt der Großvater plötzlich Deutsch zu sprechen. Er hat genug Vertrauen gefasst. Ich bin verblüfft. Er spricht einen Dialekt, der mir vertraut ist. Es klingt ein bisschen altmodisch. Ich frage ihn, woher seine Vorfahren in Deutschland kommen. Er weiß es nicht. Er ist ein wenig traurig darüber. „Ich bin ein Mann ohne Geschichte“, sagt er. Ich bitte ihn weiter zu sprechen. Dann bin ich mir ziemlich sicher: „Ich glaube, Sie kommen aus Hessen. Ich kenne Ihren Dialekt von den Verwandten meiner Frau.“
Eigenartig, ein Mensch bewahrt seine Muttersprache. In ihr scheint alles verborgen, was er selbst nicht mehr weiß. Und ich höre ihn plötzlich in meiner Sprache reden. Und dann noch eine Überraschung. Er gehört der lutherischen Kirche in Brasilien an. Noch etwas hat er über die Generationen bewahrt: Seinen evangelischen Glauben.
Glauben und Muttersprache, das hängt tief zusammen. Es verbindet uns - den Besucher aus Deutschland und den Kleinbauern aus Brasilien. Auch das ist eine Bedeutung von Pfingsten.