„Wissenschaft und Gottesglaube“ - Festvortrag zum fünfzigjährigen Jubiläum der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST)

Wolfgang Huber

I.

Max Frisch bezeichnet die „Vollständigkeit“ als die eigentliche Ursache der Langeweile. Dabei bezieht er sich auf Voltaire: „Wer einem Leser alles sagt, sagt ihm nichts. Nur der mittlere Wissenschaftler tut das. Sein Ziel ist nicht das Wesentliche, sondern das Vollständige, und die Langeweile, die sich nach dem Voltaireschen Gesetz daraus ergibt, hält er bereits für ein Zeichen der Wahrheit.“

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Anwesende bei der Festveranstaltung zum fünfzigjährigen Jubiläum der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, als Festredner darf man nicht langweilen. Und getreu dem gerade zitierten Max Frisch vermeide ich zumindest einen Weg zur Langweile ganz bewusst: den Versuch der Vollständigkeit. Denn wer vermag bei diesem Thema schon Vollständigkeit zu erreichen? Weder im Blick auf die fünfzigjährige Geschichte der FEST noch im Blick auf das Thema dieses Festvortrags ist das möglich. Was den Blick auf die Geschichte der FEST betrifft, so ist es bei einer lebendigen Institution wie bei einem lebendigen Menschen: Der Versuch einer zusammenfassenden Würdigung gerät entweder zum Nachruf und ist schon deshalb deplatziert. Oder er begibt sich in den Strudel widerstreitender Deutungen und gerät damit in Widerspruch zum festlichen Anlass. Ähnlich ist es mit dem Thema, dem ich mich widmen soll: Wissenschaft und Gottesglaube, Vernunft und Glauben, Erkenntnis und Religion – wie auch immer man es formulieren mag, man stößt auf eine Fragestellung von enzyklopädischen Dimensionen, ja von unauslotbarer Abgründigkeit. Hier Vollständigkeit zu erlangen ist unmöglich, sie auch nur anzustreben unzumutbar.

Der auch ohne den Anspruch auf Vollständigkeit doppelt unmöglichen Aufgabe widme ich mich in bewegter und dankbarer Erinnerung an meine eigene Zeit bei der FEST. Viele Kolleginnen und Kollegen aus dieser Zeit sind heute hier; ich freue mich besonders darüber, Sie alle wiederzusehen. Und meine Frau freut sich mit mir. Unser ältester Sohn war ein dreiviertel Jahr alt, als wir dem Ruf der FEST nach Heidelberg folgten; er hat inzwischen seinen vierzigsten Geburtstag hinter sich. Vier Jahrzehnte bin ich mit diesem Institut verbunden, davon ein Vierteljahrhundert ziemlich intensiv, immerhin zwölf Jahre hauptberuflich. Das verliert sich nicht. Die Dankbarkeit bleibt. Und die erwartungsvolle Vorfreude auch. Als ich 1980 aus dem beruflichen Dienst der FEST ausschied, wurde mir als Geschenk ein Buch angekündigt, das nur nicht rechtzeitig habe besorgt werden können. Welches Buch es sei, wurde mir nicht verraten. Ich weiß es bis heute nicht.

Eberhard Schmidt-Aßmann hat in seiner Ansprache auf die doppelte Verankerung der FEST in Wissenschaft und Kirche hingewiesen. Für die Verbindung zur Wissenschaft spricht bereits der Ort dieser festlichen Zusammenkunft. Für die Verbindung zu unserer Kirche gibt es ebenfalls anschauliche Beispiele. Zwei will ich ausdrücklich nennen. Unsere Kirche profitiert außerordentlich von dem Engagement und der Kompetenz, die Hans Diefenbacher als Umweltbeauftragter der EKD für die kirchliche Urteilsbildung und das kirchliche Engagement in diesem wichtigen Feld einbringt. Ebenso dankbar sind wir dafür, dass die FEST der Beurlaubung von Petra Bahr zugestimmt hat, die als Kulturbeauftragte der EKD seit zweieinhalb Jahren Räume der Begegnung zwischen Protestantismus und Kultur eröffnet.

Aber auch in vielen anderen Hinsichten erweist sich die FEST für die EKD und die evangelischen Landeskirchen, für den Evangelischen Kirchentag und die evangelischen Akademien als anregender Gesprächspartner, als kritischer Widerpart und als intellektueller Impulsgeber. Das gilt für alle maßgeblichen Arbeitsfelder des Instituts, für „Religion und Kultur“, für „Frieden und Nachhaltige Entwicklung“, für „Theologie und Naturwissenschaft“.

Den Hinweis von Eberhard Schmidt-Aßmann auf den „recht kleinen Personalbestand“ des Instituts habe ich wohl gehört. Ich nehme mit großer Dankbarkeit wahr, mit welcher Intensität das Institut versucht, seinen Aktionsradius durch Projektfinanzierungen zu erweitern. Zugleich bestätige ich gern, dass die EKD die FEST in verlässlicher Weise unterstützt, weil die theologische und wissenschaftliche Grundlagenarbeit zu den Prioritäten gehört, die Rat und Synode der EKD als Kernaufgaben der EKD ausdrücklich anerkannt haben.

In unmittelbarer Anknüpfung an das Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit“ und an den dadurch ausgelösten Reformprozess legt die FEST, wie ihr Leiter hervorgehoben hat, einen besonderen Schwerpunkt auf Projekte, die in unmittelbarer Weise für die kirchliche Praxis anschlussfähig sind. Dass das dem wissenschaftlichen Anspruch keinen Abbruch tut, weiß jeder, der Georg Pichts Satz im Sinn hat, dass Theorie die radikalste Form der Praxis ist. Dass es eine Theorie sein sollte, die auf die gesellschaftliche ebenso wie auf die kirchliche Wirklichkeit bezogen ist, ergibt sich aus dem Auftrag der FEST. Um dieser Aufgabe willen wurde das Institut aus seinen Vorläuferinstitutionen zusammengefügt und hier in Heidelberg ins Leben gerufen wurde. Georg Picht, Ludwig Raiser, Carl Friedrich von Weizsäcker, Hans Dombois, Günter Howe und Heinz Eduard Tödt muss man vor allem nennen, wenn man an die Anfangsjahre denkt. Wer sie noch alle erlebt hat, zählt das zu den besonderen Schätzen seiner Biographie.

II.

Mit dem Begriffspaar „Wissenschaft und Gottesglaube“ wird ohne Zweifel ein für die Arbeit dieses Instituts zentrales Begriffspaar in den Blick genommen. In dem halben Jahrhundert, das die Geschichte der FEST nun umfasst, war unter Intellektuellen die Auffassung verbreitet, dass das „und“ ein Gegensatzpaar zusammenfügt. Als unvereinbar erschienen Glauben und Wissen ebenso wie Theologie und Wissenschaft. Georg Picht war es, der in dieser Entgegensetzung nicht in erster Linie eine Krise des Glaubens, sondern eine Krise der neuzeitlichen Vernunft diagnostizierte. In jener Entgegensetzung sah Picht nämlich ein Zeichen für den „theomorphen“ Charakter des modernen Vernunftverständnisses. Den wer die Vernunft als „unbedingt“ ansieht, setzt sie mit Gott gleich. Nicht die Projektion menschlicher Vorstellungen auf Gott, sondern die Projektion von Gottesprädikaten auf die Vernunft ist für die Neuzeit prägend.

In seiner Vorlesung über „Glauben und Wissen“ nahm Georg Picht damit eine Diagnose auf, die sich schon in Hegels Schrift über dasselbe Thema fand: „Es ist aber die Frage, ob die Siegerin Vernunft nicht eben das Schicksal erfuhr, welches die siegende Stärke barbarischer Nationen gegen die unterliegende Schwäche gebildeter zu haben pflegt: der äußeren Herrschaft nach die Oberhand zu behalten, dem Geiste nach aber dem Ueberwundenen zu erliegen. Der glorreiche Sieg, welchen die aufklärende Vernunft über das, was sie nach dem geringen Maße ihres religiösen Begreifens als Glauben sich entgegengesetzt betrachtete, davon getragen hat, ist, beim Lichte besehen, kein anderer, als dass weder das Positive, mit dem sie sich zu kämpfen machte, Religion, noch dass sie, die gesiegt hat, Vernunft blieb; und die Geburt, welche auf diesen Leichnamen triumphirend, als das gemeinschaftliche beide vereinigende Kind des Friedens schwebt, eben so wenig von Vernunft als ächtem Glauben an sich hat.“

Nun habe ich mit Absicht nicht die großen Begriffe – Glauben und Wissen – gewählt, denen Hegel wie Picht sich zuwandten, sondern auf der einen Seite bescheidener und auf der anderen vielleicht präziser formuliert: Wissenschaft und Gottesglaube. Es geht also nicht um jenes Missverständnis von Glauben, das Christoph Markschies unlängst am Beispiel des Konflikts verdeutlichte, in den er als Student mit seinem Philosophieprofessor geriet, weil er auf die Frage, ob er denn bei allen Sitzungen eines bestimmten Seminars anwesend war, antwortete: „Ich glaube schon.“ Es geht nicht um die hilfreiche Undeutlichkeit, mit der ich sage: „Ich glaube schon“. Sondern es geht um den Glauben an Gott, also um eine Lebensgewissheit mit einem bestimmten und bestimmenden Gehalt. Es geht andererseits auch nicht um „Wissen“ im weiten Sinn eines durch Erfahrung gefestigten und gesicherten Bestandes. Sondern es geht um Wissenschaft, also den Erwerb von neuem Wissen durch Forschung, seine Weitergabe durch Lehre, aber dies nicht nur im Sinn methodisch gesicherter empirischer Kenntnis, sondern ebenso im Sinn kulturell angeleiteten Verstehens. Wie sollen wir das Verhältnis von Wissenschaft und Gottesglauben bestimmen, wenn es nicht dabei bleiben soll, dass das „und“ beide einfach voneinander trennt?

III.

Zwei Zitate können unserer Überlegung die Richtung weisen. Das eine Zitat stammt von einem Mathematiker, das andere von einem Theologen. Das eine unterstricht die notwendige Unterscheidung, das andere die ebenso notwendige Zusammengehörigkeit von Wissenschaft und Gottesglauben.

„Achtung, ihr Theologen: Wenn ihr Sätze über den fixen Stand von Sonne und Erde zu Glaubenssätzen machen wollt, lauft Ihr Gefahr, schließlich diejenigen als Ketzer verdammen zu müssen, die erklären, dass die Erde feststehe und die Sonne ihren Stand wechsle. Ich sage ‚schließlich’ und meine damit den Zeitpunkt, zu dem womöglich physikalisch oder logisch bewiesen werden kann, dass sich die Erde bewegt und die Sonne stillsteht.“ Diese Bemerkung von Galileo Galilei, auf die mich Richard Schröder aufmerksam gemacht hat, gibt der Verhältnisbestimmung von Wissenschaft und Gottesglauben eine besondere Wendung. Denn um des Gottesglaubens willen mahnt Galilei, der Wissenschaft ihr Recht zu lassen. Um des Gottesglaubens willen mahnt er die Theologen ähnlich zur Selbstbeschränkung, wie das kurz vor ihm ein anderer Italiener getan hatte, nämlich der Jurist Albericus Gentilis, der den Theologen zurief: „Silete theologi in munere alieno - schweigt, ihr Theologen, im fremden Geschäft!“

Für Galilei war die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Gottesglauben eine Bedingung dafür, dass beide vereinbar bleiben konnten. Auch seine Kritiker verfolgten dasselbe Ziel – in einer Zeit, in der über Fragen der Kosmologie keine Einigkeit erzielt werden konnte. Die weitere Entwicklung zeigte, wie falsch es sein kann, den christlichen Glauben mit einem bestimmten Bild des Kosmos gleichzusetzen, selbst wenn dieses naturwissenschaftlich so gut abgesichert ist, wie das unter den Bedingungen der jeweiligen Zeit nur möglich ist. Denn heute gilt auch das von Galilei vertretene heliozentrische Weltbild des Kopernikus nicht mehr ungebrochen; inzwischen sehen wir in unserer Galaxie eine Randerscheinung in der expandierenden Weite des Universums. Ein solcher Wandel des Weltbilds wird heute zumeist auch von denen mitvollzogen, die in anderer Hinsicht ein nach ihrer Auffassung wörtliches Verständnis der biblischen Schöpfungsberichte einfordern.

Achtung, ihr Theologen: Wenn ihr Sätze, die ihren Ort im Bereich menschlichen Erfahrungswissens haben, zu Glaubenssätzen macht, müsst ihr die Frage von Rechtgläubigkeit und Häresie an der Deutung naturwissenschaftlicher Theorien austragen. So kann man Galileis Satz, den ich zitiert habe, abwandeln; ich werde im weiteren Verlauf auf eine aktuelle Debatte eingehen, in der gegen diese Einsicht verstoßen wird.

Doch zunächst zu dem anderen Zitat, dem des Theologen. „Soll denn der Knoten der Geschichte so aufgehen, die Wissenschaft mit dem Unglauben und die Religion mit der Barbarei?“ So fragte vor zweihundert Jahren Friedrich Daniel Schleiermacher einen Freund. Dieser Kirchenvater des modernen Protestantismus suchte zu erweisen, dass Wissenschaft und Gottesglaube grundsätzlich zusammengehören und deshalb auch im Leben zusammengehalten werden müssen. Auch zu seiner Zeit nahm er hellsichtig wahr, dass die Verbindung zwischen Wissenschaft und Gottesglauben von unterschiedlichen Seiten aus in Frage gestellt wird. Während auf der einen Seite die Religion sich den Ansprüchen der Vernunft zu entziehen sucht, wird auf der anderen Seite im Namen der Vernunft die Brücke zur Religion abgebrochen. Doch so soll der „Knoten der Geschichte“ nicht aufgehen. Der Gott der Philosophen und der Gott der Bibel gehörten für Schleiermacher untrennbar zusammen.

Die Verbindung von Wissenschaft und Gottesglauben bildet von Anfang an ein bestimmendes Merkmal des Protestantismus. Für manchen Betrachter mag das beim Blick auf Martin Luther dadurch verdunkelt sein, dass der Reformator sich unter Einsatz all seiner polemischen Kraft gegen einen Herrschaftsanspruch der Philosophie über die biblische Botschaft zur Wehr setzte und dabei auch vor der Rede von der „Hure Vernunft“ nicht zurückscheute. Diese Polemik war natürlich hervorgerufen durch die Berufung der scholastischen Theologie auf die Philosophie. Doch – ebenso übrigens wie Johannes Calvin, dessen Geburt vor fünfhundert Jahren im Jahr 2009  zu erinnern sein wird – war Luther zugleich von der Überzeugung bestimmt, dass die Vernunft mit all ihrem Vermögen der Erkenntnis der biblischen Wahrheit zu dienen habe. Schon der junge Luther erklärte deshalb in seinem Kommentar zum Römerbrief, dass die Vernunft „für das Beste“ eintrete und „gute Werke“ tue. Und der höchste Titel, den er für sich selbst gelten ließ, war derjenige eines „Doctors der Heiligen Schrift“. Damit bahnte die Reformation der Ausbildung der Theologie zu einer kritischen Wissenschaft im modernen Sinn den Weg.

Zwar hat auch das reformatorisch geprägte Christentum die Ambivalenz der Aufklärung ebenso erfahren wie erlitten. Denn zu ihr gehörten, vor allem in Frankreich, Strömungen eines philosophischen Materialismus, die den Glauben in den Bereich bloßer Irrationalität abschieben wollten. Auf sie antworteten auf der Gegenseite Strömungen, die den Glauben gegen alle Infragestellungen mit den Mitteln der Vernunft zu immunisieren und damit auch gegen jeden Versuch der Auslegung durch eine kritische theologische Wissenschaft abzuschotten suchten. Es gibt allzu reichliche Beispiele dafür, dass diese dualistischen Positionen heute noch existieren, ja, zum Teil stärker geworden sind.

Beiden Tendenzen gegenüber musste und muss immer wieder die Freiheit des christlichen Glaubens nicht nur verteidigt, sondern auch erneuert werden, die sich auch als die Freiheit dazu zeigt, sich seiner Vernunft zu bedienen. Aber zu dieser Freiheit gehört es auch, der Endlichkeit der Vernunft ansichtig zu werden und zu erkennen, dass auch der Kult der Vernunft eine Form des Götzendienstes ist. Dass die Vernunft dem Glauben nachfolgt und in seinen Dienst tritt, ist darum Teil einer evangelischen Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft. Deshalb ist das Verhältnis von Wissenschaft und Gottesglauben im evangelischen Verständnis immer wieder in Anknüpfung an die berühmte Formel des Anselm von Canterbury zum Ausdruck gebracht worden: „Neque enim quaero intelligere ut credam sed credo ut intelligam. Fides quaerens intellectum. – Nicht suche ich nämlich einzusehen, um zu glauben. Sondern ich glaube, um einzusehen. Der Glaube auf der Suche nach Einsicht.“

Der innere Zusammenhang von Wissenschaft und Gottesglauben versteht sich keineswegs von selbst. Gegen ihn steht, wie es scheint, ganz besonders eine zweite kopernikanische Wende, nämlich die kopernikanische Wende Immanuel Kants zum Subjekt als dem unhintergehbaren Ausgangspunkt alles Weltwissens. Besonders folgenreich war es, dass man diesen von Kant vor allem in der „Kritik der reinen Vernunft“ vollzogenen Schritt im Sinn einer definitiven Trennung zwischen Weltwissen und Gottesglauben gedeutet hat. Aber Kant stellt mit seinen Worten den Gottesgedanken nicht außerhalb des Denkens; und er besetzt nicht einen dadurch entstehenden, vermeintlich vernunftlosen Raum durch den Glauben. Sondern er befreit den Gottesgedanken aus dem Einzugsbereich des Erfahrungswissens, das sich der Mittel der Beobachtung und des Beweises bedient. Er zeigt, dass Gott den Rahmen unserer raumzeitlich geprägten Weltzugänge prinzipiell übersteigt. Damit wird nicht die Idee Gottes, sondern die Reichweite der Erfahrungswissenschaften eingeschränkt. Die Versuche, Gott als notwendige Ursache aus den Gesetzen der Welt abzuleiten, werden damit hinfällig. Gottes Überlegenheit über die Schöpfung wird dadurch neu zur Sprache gebracht. So reißt Kant Vernunft und Glauben nicht etwa (wie Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung nahe legen wollte) auseinander, sondern bahnt einen Weg dazu, dass der Gottesgedanke auch vor dem Forum der philosophischen Vernunft Bestand haben kann.

Dieses Modell der Kompetenzunterscheidung hat sich vielfach bewährt. Aber gerade deshalb müssen auch seine Schwachstellen beachtet werden. Sie bestehen in einer latenten Aufhebung der Beziehung zwischen diesen Denkhorizonten. Naturwissenschaften und Theologie beispielsweise werden dann nebeneinander praktiziert und haben sich nichts mehr zu sagen. Die sie verbindende Frage nach der Wahrheit löst sich in der Pluralität von Erkenntnisebenen auf. Es wird undeutlich, dass sich in der Frage nach einer angemessenen Deutung der Wirklichkeit die Erkenntnisperspektiven der verschiedenen Wissenschaften und Wissensgebiete treffen und überschneiden, auch wenn es angesichts der Bruchstückhaftigkeit menschlicher Erkenntnis keine definitiven Formeln für solche Überschneidungen gibt. Die Unterscheidung der Erkenntnisperspektiven darf also nicht als Scheidung missverstanden werden.

Das christliche Verständnis von Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt fügt sich in einen solchen Zugang zum Gottesbegriff durchaus ein. Die verbreitete Rede vom bloßen „Postulatengott“, der nur noch eine vage innerphilosophische Funktion für die praktische Vernunft habe und als eine Art „Erfüllungsgehilfe der protestantischen Ethik“ diene, unterschätzt die Bedeutung der Gottesidee für die Freiheit der Person. Im Sinne Kants ist Gott der umfassende Horizont für jegliches Tun, auch für das theoretische Nachdenken. Der einigende Grund der Welt, der einzig Aussicht darauf gibt, dass Leben glücken kann, schließt so auch die Welt der Wissenschaft und der wissenschaftlich angeleiteten Erfahrung ein. Der Gottesglaube ist auf diese Weise der Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit; er verankert das Verhältnis zur Wirklichkeit im Gottesverhältnis. Dadurch eröffnet er einen Zugang zur inneren Einheit des Daseins, in welchem das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu den anderen Menschen und zur Welt durch sein Verhältnis zu Gott verbunden ist. Darin, dies herauszuarbeiten, habe ich stets das Leitmotiv gesehen, unter dem Georg Picht uns vor mehr als dreißig Jahren in einer denkwürdigen Ringvorlesung zu einem gemeinsamen Nachdenken über die Frage provoziert hat: „Theologie – was ist das?“

Der Gottesglaube wird in einer solchen Überlegung als eine Einstellung zur Wirklichkeit verstanden, die allem Wissen vorausliegt. Doch es ist ein gravierendes Missverständnis, den Glauben deshalb für irrational und für bloß gefühlig zu erklären. Freilich schließt er mehr in sich als die bloße Kenntnisnahme richtiger Lehrsätze; er ist also nicht nur „notitia“. Das hat gerade das reformatorische Verständnis des Glaubens immer in starker Form herausgearbeitet. Denn der Gottesglaube ist in der Tat nicht nur eine im Wissen beheimatete Gewissheit, sondern er ist eine umfassende Daseinsgewissheit. Zu ihr gehört das Vertrauen in die Gegenwartsmächtigkeit Gottes (die „fiducia“) ebenso wie die innere Zustimmung dazu, sich im eigenen Leben von Gott bestimmen zu lassen (der „assensus“). In Gott erschließt sich für den Glaubenden der umfassende Sinn, auf den er für den Umgang mit der Endlichkeit seiner Existenz im Ganzen wie für alles Handeln unter den Bedingungen dieser Endlichkeit angewiesen ist. Damit eröffnet er die Einsicht, dass der Mensch auch als Vernunftwesen nur frei sein kann, wenn er sich von einem anderen her bestimmen lässt. Die Einsicht in die Endlichkeit der menschlichen Vernunft bleibt jedoch nur gewahrt, wenn der Glaube dem Menschen mit der Demut gegenüber dem Göttlichen auch eine epistemische Demut, also eine Einsicht in die Begrenztheit seines eigenen Wissens, eröffnet.

Nach evangelischem Verständnis steht im Zentrum jeglicher Bildung das Individuum in der Vielfalt seiner Bezüge: zu Gott, zu sich selbst, zu den Mitmenschen sowie zu Gesellschaft und Welt. Das trifft auch für die „Bildung durch Wissenschaft“ zu, ein grundlegendes Element in einem evangelisch-theologisch begründeten Verständnis der Universität. Schon Philipp Melanchthon formulierte den Ratschlag: „Wähle dir vom Besten das Beste aus, und zwar, was zur Kenntnis der Natur und zur Bildung des Charakters beiträgt.“

IV.

Zum Schluss ein Beispiel. Der Fernsehsender „Arte“ berichtete im September 2006 unter dem Thema „Christlicher Fundamentalismus“ über einen „Glaubenskrieg“. Dessen Gegenstand sei die Behandlung der Schöpfungslehre als Alternative zur Evolutionstheorie im Biologieunterricht, wie sie in zwei Schulen in Gießen praktiziert werde. Das führte zu zahlreichen Anfragen bei den zuständigen Schulbehörden und im hessischen Kultusministerium. Die öffentliche Debatte wurde zusätzlich dadurch befeuert, dass kreationistische Gruppen und Vereinigungen aus unterschiedlichen Religionsgemeinschaften in vielen Ländern mit großem Aufwand immer vehementer versuchen, auf die Gestaltung der schulischen Lehrpläne in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen. So wird in Deutschland ein sehr aufwendiger „Atlas der Schöpfung“ des türkischen Islamisten Adnan Oktar an Schulen und gesellschaftliche Organisationen verteilt, der zuvor bereits in Frankreich für intensive Auseinandersetzungen gesorgt hatte. Gleichzeitig meldeten sich in dieser Debatte diejenigen zu Wort, die in ihrem biologistischen Weltbild jeglicher religiöser Äußerung zu diesem Thema die Legitimation absprechen.

Das Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaften im Blick auf den Stellenwert der Religion im staatlich-öffentlichen Bereich – also an den Schulen und Hochschulen – ist ein sensibles Thema mit langfristiger Bedeutung. Bischof Martin Hein, der Vorstandsvorsitzende der Evangelischen Studiengemeinschaft, schrieb dazu in einem Bischofsbrief vom Juli 2007: „Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Naturwissenschaften und Religion darf angesichts der gegenwärtigen Aufgeregtheiten nicht hinter das Niveau zurückfallen, das in den wissenschaftlichen Diskursen der vergangenen Jahre mühsam erreicht wurde.“ Er beharrte darauf, dass in dieser Thematik differenziert argumentiert wird und unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge weder unsachgemäß vermengt noch beziehungslos nebeneinandergestellt werden. Klare Positionen in dieser Frage sind umso dringlicher, als in dieser Debatte zugleich der angeblich „neue Atheismus“ zu berücksichtigen ist, wie er in den Veröffentlichungen von Richard Dawkins, Christopher Hitchens und anderen in einer lange nicht mehr so wahrgenommenen polemischen Intensität an die Öffentlichkeit tritt.

Unter dem Titel „Weltentstehung, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube in der Schule“ hat die EKD deshalb zu Beginn des Jahres 2008 eine Orientierungshilfe zu dieser Diskussion veröffentlicht. Sie konnte dabei an eine intensive Diskussion zum Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Theologie anknüpfen, wie sie über ein halbes Jahrhundert hin maßgeblich von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft geprägt wurde.

Zwischen dem heute verfügbaren, stets für bessere Einsicht offenen Wissen über die Entstehung der Welt und des Lebens sowie der sinnstiftenden, für neue Interpretationen offenen Deutung des Lebens aus der Perspektive des christlichen Glaubens ist wissenschaftlich wie bildungstheoretisch deutlich zu unterscheiden. Doch gerade diese Unterscheidung ermöglicht es, beide in eine sinnvolle und geklärte Beziehung zueinander zu setzen. Viele Debattenbeiträge zum Verhältnis zwischen dem Schöpfungsglauben auf der einen und naturwissenschaftlichen Theorien über die Entstehung der Welt und des Lebens auf der anderen Seite sehen dagegen beide Seiten auf derselben Ebene. Deshalb gehen sie davon aus, dass entweder die Evolutionstheorie dem Schöpfungsglauben oder der Schöpfungsglaube der Evolutionstheorie weichen muss.

Weder die Angriffe eines angeblich neuen (und doch vielfach so alten) Atheismus auf den biblischen Schöpfungsglauben noch die im Namen des christlichen Glaubens vorgebrachten Angriffe auf die Evolutionstheorie treffen nach meiner Überzeugung deshalb die jeweils andere Seite im Kern. Keiner jedoch würde ernsthaft leugnen wollen, dass es Auslegungsformen des biblischen Schöpfungsglaubens wie der Evolutionstheorie gibt, die kritikwürdig sind. Eine sachgemäße, ja sogar notwendige Kritik an problematischen Auslegungsformen wird jedoch erst möglich, wenn man sich aus falschen Alternativen befreit hat. Die Überwindung solcher falscher Alternativen und die Ermöglichung sachgemäßer Kritik gehören aber gerade zu den Kennzeichen eines evangelischen Glaubensverständnisses.

Die Diskussion solcher Fragen verläuft in Deutschland anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber eine grundsätzliche Klärung ist auch wegen ihrer erheblichen praktischen Bedeutung angezeigt. Das lässt sich beispielhaft an der Frage verdeutlichen, ob im Biologieunterricht auf den biblischen Schöpfungsglauben und ob im Religionsunterricht auf die Evolutionstheorie Bezug zu nehmen sei. Auf der Linie der hier vorgetragenen Überlegungen liegt es, wenn das Verhältnis zwischen beiden Betrachtungsweisen vorzugsweise in interdisziplinären Unterrichtsprojekten geklärt wird, weil dann biologische und theologische Perspektiven jeweils in ihrer Eigenbedeutung zur Geltung gebracht werden können. Denn die Beziehung zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen lässt sich nur dann zureichend bestimmen, wenn man zuvor gelernt hat, sie voneinander zu unterscheiden. Dafür ist es erforderlich, dass sowohl hinsichtlich der biologischen als auch hinsichtlich der theologischen Fragen die gebotene Sachkenntnis gegeben ist und in den Schulen, aber natürlich auch in den Universitäten sowie in der öffentlichen Debatte angemessen zum Ausdruck kommt.

Es hat mich überrascht, wie weit kreationistische Vorstellungen und Konzeptionen des „intelligent design“ heute auch in der deutschen Debatte Resonanz finden. Vielfach werden sie in freundlichem Ton und mit nachdenklicher Tiefe, manchmal aber auch polemisch und mit mangelndem Verständnis für die Gegenseite vorgetragen. Das Gespräch zum Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Gottesglauben beschränkt sich auch in unserer Gegenwart keineswegs auf Fragen, die mit der Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse oder der Ausweitung naturwissenschaftlicher Forschungsvorhaben zu tun haben; es geht unter dieser Fragestellung keineswegs nur um die bioethischen Herausforderungen, die zu mancher hitzigen Debatte Anlass geben. Genauso wichtig ist die Debatte zu fundamentalen Fragen des Weltverständnisses und des Weltverhältnisses. Der Neigung zum Fundamentalismus auf der einen wie auf der anderen Seite wird man nur widerstehen können, wenn man diesen fundamentalen Fragen nicht ausweicht. Denn Fundamentalismus, so scheint mir, ist in der Regel ein Resultat der Verdrängung. Um ihn zu überwinden, reicht es aber offensichtlich nicht zu, einfach nur an die Errungenschaften der Aufklärung zu appellieren. Man muss vielmehr auch noch deren Ambivalenzen durchschauen und die moderne Vernunft von dem theomorphen Charakter befreien, den Georg Picht diagnostiziert hat. Dazu aber bedarf es der Begegnung zwischen Wissenschaft und Gottesglauben. Auch in dieser veränderten Gesprächssituation zeigt wich, wie aktuell die Aufgabe der Evangelischen Studiengemeinschaft ist, die nach der Formulierung ihrer Satzung darin besteht, „die Grundlagen der Wissenschaft in der Begegnung mit dem Evangelium zu klären und die Kirche bei ihrer Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit - auch durch Untersuchungen und Gutachten für die Mitgliedskirchen - zu unterstützen“.

Dass die FEST diese Aufgabe nicht nur mit großer Verve, persönlichem Einsatz und intellektueller Schärfe, sondern auch in einer zugewandten und menschliche Beziehungen achtenden Weise wahrnimmt, gehört zu Charakter und Stil dieser Institution. Dafür, wie das über fünf Jahrzehnte hin geschehen ist, danke ich von Herzen  danken und ermutige dazu, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Wissenschaft und Kirche werden davon profitieren. Das Motto für diesen Weg können Worte dessen bilden, von dem Christen bekennen, dass er der Weg ist: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Um diese befreiende Wahrheit geht es im Dialog zwischen Wissenschaft und Gottesglauben. Auf weitere Beiträge zu diesem Dialog freue ich mich und wünsche der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft und allen, die in ihr arbeiten und für sie Verantwortung tragen, von Herzen Gottes Segen.