„Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein“ (Matthäus 5,14)
Petra Bahr
Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Berlin
(im Rahmen der Predigtreihe „Biblische Blicke auf Türme und Turm-Erbauer“)
Petra Bahr
Es könnte ein Kinderspiel sein. So eins, wo Sechsjährige ihre Lust am Wettbewerb erproben. „Mein Turm ist höher als Deiner“, sagt der kleine Paul. „Pah“, antwortet Justus, „das wollen wir doch mal sehen“. Dann stürmen sie auf ihre Legosteine zu und bauen, was das Zeug hält. Vielleicht geht das Spiel friedlich aus. Dann hat einer der beiden gewonnen. Zwei Zentimeter höher ragt das Plastikbauwerk in den Kinderzimmerhimmel. Und wackelt schon verdächtig. Das andere Kerlchen taxiert das Bauwerk des Kollegen und denkt sich kleinlaut: „Bis zum nächsten Mal. Dann siege ich. Dann wird mein Turm der höchste“. Oft genug siegt jedoch Neid oder Zorn. Da mag der eine dem anderen schon mal sein Bauwerk zertreten. „Blöder Angeber. Du hast ja auch meine besten Steine geklaut“. Das Spiel mit dem Namen „wer hat den tollsten Turm gebaut“ endet im Geschrei.
Nur ist er gar kein Kinderspiel, der Wettkampf um den tollsten Turm. Die ganze Geschichte der Menschheit könnte unter dieser Überschrift erzählt werden: Der Glanz der eigenen Kultur, der Gestus der Überlegenheit und der Triumph der größten Baumeister, alles wurde von alters her in die Kunst des Türmebauens gelegt. Türme waren als Zeichen der Fruchtbarkeit und der Herrschaft, der technischen Überlegenheit und der architektonischen Raffinesse sprechende Bauten – steingewordene Nachrichten an den Rest der Welt. Sie sind es noch. Vor 7500 Jahren in Jericho reichten noch schlappe acht Meter für diese Angeberei. Doch schnell waren die Baumeister ambitionierter. Heute kratzen die Architekten an der 600-Meter-Marke. Mal strecken die Türme keck ihre schlanken Dächer in den Himmel, mal stehen sie schwer und unverrückbar am Horizont. Mal leuchten sie mit prachtvoller Umkleidung, mal bauen sie sich bedrohlich vor dem Auge des Betrachters auf. An den Türmen sollt ihr sie erkennen. Die Verlierer und die Gewinner. Dieses Erwachsenenspiel ist auch heute noch nicht aus der Mode. Dubai und Shanghai, Chicago und Tokio liefern sich rasante Wettbewerbe. Wer baut den tollsten Turm? Dieses Spiel ist bitterer Ernst. Denn was hier in den Himmel ragt, ist wie ein Ausrufezeichen hinter den Daxwerten und ökonomischen Zuwachsraten globalisierter Konzerne.
Und wir, wir recken unsere Hälse nach oben. Uns wird ein wenig schummerig. Die Spitzen der Gebäude schieben sich kühn in den Himmel und kratzen an den Wolken. Die architektonischen Meisterleistungen mögen wir bewundern, die komplizierten Berechnungen, die Wind und Erdbeben ins Kalkül ziehen. Doch ein anderes Gefühl ist stets zur Stelle. Ein dumpfes Gefühl in der Magengegend. Da muss man noch keinen Fahrstuhl in den 300. Stock bestiegen haben. „Hält die Statik auch, was sie verspricht?“ mag mancher sich fragen. Die Architektur gewordenen Ausrufezeichen senden eine zwiespältige Botschaft. Kein Wunder, das sich die Kultur- und Ökonomiekritik der Gegenwart mit Angstlust auf die Kritik an den modernen Turmbauspielen stürzt. Spätestens nachdem islamistische Terroristen die Botschaft der Zwillingstürme in New York auf ihre Weise lasen. Einst Zeichen unangreifbarer Überlegenheit auf dem ersten Finanzplatz der Welt, begruben sie mit den vielen Opfern auch den Glanz ihrer Botschaft. Wie Menetekel bohren sich nun für viele Menschen die Hochhäuser und Sendetürme in den Himmel. Wie vorwitzige Clowns, die den Ernst der Stunde nicht bemerkt haben, stapeln sich Etagen wie Legosteine in die schwindelerregende Höhe. Kann das gut gehen?
Spätestens mit dem 11. September ist auch die Erinnerung an den Turmbau zu Babel wieder da. Nur ist diesmal kein Gott zur Stelle, der die Gebäude zerstört, um die Menschen von ihrem Wahn zu befreien. Diesmal sind es fanatisierte Menschen, denen in ihrem Wahn ein Gott als Vorwand dient. In der Bibel haben Türme einen schlechten Ruf, sollte man meinen. Wie alles, was selbstgefällig in die Höhe strebt, verdächtig sein müsste. Die Bibel und das Christentum müssten der Kulturkritik am Türmespiel fröhlich in die Hände spielen. Sollte man meinen. Aber die Geschichte des Kirchbaus spricht eine andere Sprache. Auch die Christen haben sich der Baukunst ihrer Zeit bedient, um mit ihren Türmen eine Botschaft in die Welt zu schicken. Baumeister gingen an die Grenzen ihrer Kunst und oft sogar darüber hinaus, um ihre Türme in den Himmel zu treiben. Dabei haben die Türme an unseren Kirchen, Münstern und Kathedralen nicht mal eine theologische Bedeutung - anders als das Kirchenschiff. Sie waren Glockentürme und Wehrtürme, Wachtürme und Fluchttürme und hatten Anteil am Turmbauspiel der Welt. Am Meer wurden sie als Leuchttürme eingesetzt. Und heute steht auf vielen ihrer Dächer eine Mobilfunkantenne. Ein kleiner Nebenverdienst in Zeiten schwächelnder Kirchensteuern.
In den ersten sieben Jahrhunderten kamen die Gotteshäuser übrigens noch ohne Türme aus. Und doch haben sie ihren ganz eigenen Rang im Alphabet des Evangeliums. „Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein“, sagt Jesus in der Bergpredigt. In diesem Predigttext, der mir für diesen Sonntag aufgegeben wurde, geht es gleich zweimal um erstrebenswerte Höhen. Der Predigtplatz, den Jesus wählt, ist ein anerkannter Aussichtsplatz. Und die Stadt auf dem Berge hat einen guten Ruf. Sie soll von weitem glänzen und ihre Botschaft verbreiten. Schon die Silhouette vor dem Horizont macht Sinn. Im Umfeld Jesu ist von großen Türmen nichts bekannt. Und schon gar nichts von Hochhäusern oder Sendemasten. Vielleicht muss deshalb dieser Text den Auftakt zu einer Predigtreihe machen, in dem sich alles um Türme dreht. Aber die Stadt auf dem Berge ist ja auch ein Wolkenkratzer. Jerusalem ist die Stadt auf dem Berge, die in den Himmel ragt, weil sie die Höhe liebt. Wer einmal von Tel Aviv aus über die kurvige Straße zur heiligen Stadt gefahren ist, weiß das. Und zuerst sieht man die Türme und Kuppeln.
So wie sich die Stadt auf dem Berge weit sichtbar in den Himmel reckt und die Aufmerksamkeit auf sich zieht, so soll die Kirche Jesu Christi sein, sagt Jesus in seiner Rede auf dem Berg.
Sich klein und unsichtbar machen, weil die Gottesverächter ihre Spielchen mit der Höhe treiben, ist offenbar keine Haltung, die Christenmenschen zu Gebote steht. Das mag die Kulturkritiker ärgern, die in ihrem Überschwang nach den Hochhäusern gleich auch noch die Kirchtürme mit ins Krisengebet nehmen. Nein, das Turmspiel als solches steht in christlicher Perspektive wohl nicht unter Verdacht. Es ist nicht jeder Turm ein Turmbau zu Babel und nicht jedes Bauwerk, das nach oben strebt, ein Symbol menschlicher Vermessenheit. So ein Turm kann auch ein Fingerzeig nach oben sein, der alles andere ist als Ausdruck menschlicher Selbstüberschätzung: Ein Verweis auf den, der die Himmel regiert. Eine Stein gewordene Geste der Selbstbescheidung. Wer den Hals in den Nacken legt, um dem Turm auf die Spitze zu gucken, sieht weg von sich. Er sieht nicht mehr das, was direkt vor den Füßen liegt. Er kratzt selber ein wenig an den Wolken. Wie die alten Glockentürme, die alle Gebäude des Dorfes überragten. Was für eine Botschaft: das Gebäude, in dem Gott im Mittelpunkt stand, überragte alle anderen Bauten. Das Rathaus, die Kaserne und die Bibliothek. „Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein“. Warum nicht? Weil der Kirchturm bei guter Sicht kilometerweit zu sehen ist. So könnte man jedenfalls in Brandenburg antworten, wo die Kirchtürme immer wie Ausrufezeichen in den Himmel ragen. Für Berlin klingt das nach der schalen Nostalgie eines ehemalig christlichen Abendlandes. Längst haben Sendetürme und Bankfilialen das Turmspiel gewonnen. Weit abgeschlagen ragen selbst die höchsten Türme der Gotteshäuser nur bis zur ersten Hälfe der gläsernen Fassaden. Kümmerliche, altertümliche, dreckige und bröckelnde Sandsteinbauten spiegeln sich in den Hochglanzfassaden berühmter Glamourarchitekten. Wenn Höhe das einzige Kriterium für die Botschaft der Türme wäre, flüsterten die Türme der Berliner Kirchen längst in einer toten Sprache, die nur noch wenige verstünden. Sie wären das Latein unter den Sprachen der Türme. Wie das Glockenspiel, das, heiser und brüchig geworden, gegen den Lärm der Stadt etwas auszurichten versucht. Lächerliche Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit.
Indes: vielleicht ist die Botschaft der Kirchtürme anspruchsvoller. Wie die Botschaft des alten Turmes dieser Kirche. An Höhe mag er gegenüber seiner Einweihung Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal einiges verloren haben, seit auch rund um den Breitscheidplatz die Gebäude in den Himmel schießen. Doch wer kennt schon die gläsernen Kolosse in der Nachbarschaft? Den alten Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche kennt jeder. Obwohl er eine Ruine ist. Oder weil er eine Ruine ist. Die Geschichte, die er erzählt, unterscheidet sich von der Geschichte der Nachbarbauten. Seine Nachricht ist deutlich und vernehmbar, weil er seine Geschichte nicht verbirgt. Die Geschichte der Bomben, die ihn 1943 schwer verwundeten. Und die Geschichte, die zu dieser Wunde führte. Dieser Turm nicht leise und schon gar nicht unsichtbar, auch wenn sein Mörtel bröckelt und der Zahn der Zeit ihm, dem Kriegsversehrten, mehr zusetzt als den Gesunden unter den Kirchtürmen. Weit über die Landesgrenzen hinaus kennt man ihn. Er trägt mit seiner Geschichte auch eine Narbe nach außen. Als Zeichen und Mahnmal für die ganze Stadt, die nur zu beflissen alle Spuren von Grauen und Zerstörung verwischen will. Er ist gerade so öffentlich erkennbar und weithin sichtbar: weil er seine Wunde in den Himmel reckt. Kein Glamourbau und kein Starmodell und doch ein imposantes Monument, das in die Zukunft ragt. Als zeigte sich in diesem Turm auch der Mensch, wie er vor Gott sein darf. Wie wir vor Gott sein dürfen. Nicht glänzend und heil, nicht unübertroffen und atemberaubend, nicht immer die Höchsten und Besten, aber in ihrer Versehrtheit und in ihrer Sehnsucht nach Erlösung standfest und treu und für alle weithin sichtbar. Den Wettbewerb im Turmbauspiel mögen andere gewinnen, Himmelsstürmer sind wir auch so.