Predigt am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres im Berliner Dom (2. Korinther 5,1-10)

Hermann Barth

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Für den Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres ist in diesem Jahr ein Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief des Apostels Paulus vorgesehen, dort im 5. Kapitel:

(1) Wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. (2) Darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, (3) so wahr wir nicht nackt dastehen werden, auch wenn wir unser jetziges Kleid ablegen. (4) Solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir wie unter einer schweren Last, weil wir nicht entkleidet, sondern bekleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. (5) Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. (6) So sind wir allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; (7) denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. (8) Wir sind aber getrost und wünschen noch viel mehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. (9) Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. (10) Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.

Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

Liebe Gemeinde!

I.

Es war Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In der evangelischen Kirche entstanden die ersten geistlichen Lieder mit einem neuen Klang, einem Hauch von modernem, um nicht zu sagen: modischem Sound. Der Freiburger Bezirkskantor Martin Gotthard Schneider schrieb seinen von vielen geliebten, von anderen verachteten "Danke"-Hit, er ließ das "Schiff, das sich Gemeinde nennt" vom Stapel laufen, und zur Geschichte vom barmherzigen Samariter textete und komponierte er das schlagermäßig aufgemachte "Zwischen Jericho und Jerusalem". Ich war 17, 18 Jahre alt und lebensaltersgemäß in einer bilderstürmerischen Stimmung. In der pfälzischen Gemeinde, in der ich aufwuchs, wurde das neue Liedgut in einem Gemeindeabend vorgestellt und diskutiert. Und bei diesem Abend hatte ich meinen großen Auftritt. Im nachhinein betrachtet, könnte man freilich mit noch größerem Recht sagen: Mein jugendlicher Leichtsinn und Unverstand hatten ihren großen Auftritt.

Das Gesangbuchlied, das ich mir herausgesucht hatte, um zu demonstrieren, wie bitter nötig ich es fand, neue geistliche Lieder einzuführen, war das mittelalterliche "Ich wollt, dass ich daheime wär". Mit ihm eröffnete das EKG, das damalige Evangelische Kirchengesangbuch, seine Lieder zum Thema Tod und Ewigkeit. Ich brauche nur wenige seiner kurzen Strophen zu zitieren, um den Punkt erkennbar zu machen, an dem ich Anstoß genommen habe:

"Ich wollt, dass ich daheime wär und aller Welte Trost entbehr.
Ich mein daheim im Himmelrich, da ich Gott schauet ewiglich.
Wohlauf, mein Seel, und richt dich dar! Da wartet dein der Engel Schar ...
Daheim ist Leben ohne Tod und ganze Freud ohn alle Not.
Da ist Gesundheit ohne Weh und währet heut und immermeh ...
Ade, Welt! Gott gesegen dich! Ich fahr dahin gen Himmelrich."

Für einen jungen Menschen klang das entschieden zu viel nach Weltverachtung und Weltflucht. Jedenfalls unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts mit seiner immer noch gesteigerten Lebenserwartung. Mit 17, 18 kannte man es nicht anders: Gesundheit ohne Weh. Und dann der Schluss: Der Welt wird adieu gesagt, sie wird Gott anbefohlen, aber das Ich dieses Liedes entzieht sich der Verantwortung durch Flucht ins Himmelreich.

Ich habe an meine Jugenderinnerung angeknüpft, weil in ihr ein Anstoß massiv und unübersehbar wird, der auch vom heutigen Predigttext hervorgerufen werden kann: "Wir seufzen und sehnen uns danach", dass wir unser irdisches Haus verlassen und in unserem himmlischen Haus sein können. Der Apostel schiebt, genau genommen, zwei Bilder ineinander, das vom Haus und das von der Kleidung: Wir "sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden". Gegen Ende spricht Paulus ganz und gar Klartext: Wir wünschen, "den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn." Wirklich? Ist das unser und unsrer Zeitgenossen Lebensgefühl? Empfinden wir "aller Welte Trost" als schal und leer und trügerisch? Erfreuen wir uns nicht vielmehr "der schönen Erde" und verstehen sie als "wohl wert der Freud" (EG 510,1)?

Wie häufig – die Rechnung geht nicht ganz so einfach auf. Die Welt und das Leben haben mehr Farben als Schwarz und Weiß. Darauf weist schon der Umstand hin, dass das Lied "Ich wollt, dass ich daheime wär" auch in unserem neuen Gesangbuch, dem EG, steht. Es gibt offenbar Leute, die finden, es gehöre keineswegs auf den Müllhaufen der Geschichte, sondern habe auch im 21. Jahrhundert noch etwas Bleibendes zu sagen.

II.

Das Bleibende hat mit dem Wörtlein "daheim" zu tun. Es rührt an tiefste Tiefen unseres Gefühlshaushalts. Das wird schon dann sichtbar, wenn wir an eine Gruppe von Menschen denken, die heute, am Volkstrauertag, mit belastenden Erinnerungen und schweren Gedanken zu kämpfen haben. Ich meine die Heimatvertriebenen. Dabei sollten wir ernstmachen mit dem Grundsatz, dass der Volkstrauertag dem Gedenken an die Gewaltopfer aller Nationen gewidmet ist, und uns nicht nur der Deutschen erinnern, die 1944-1947 als unmittelbare oder mittelbare Folge aus dem Krieg ihre Heimat verlassen mussten. Ihrer Heimat verlustig gingen und gehen zum Beispiel auch Palästinenser, Kroaten, Serben oder die Bewohner von Darfur im Sudan. Die aus ihrer Heimat Vertriebenen allein des 20. Jahrhunderts könnten uns, wenn wir mit ihnen Gespräche führten, Mann für Mann, Frau für Frau, Kind für Kind verdeutlichen, welche Wunde der Verlust der Heimat schlägt und welche Sehnsucht er weckt. Kein Heimatvertriebener kommt über den Verlust hinweg, indem ihm jemand mit guten Argumenten auseinandersetzt, es könne und müsse im Leben und in der Geschichte immer wieder neue Anfänge geben. Nicht nur jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, sondern noch viel mehr dem "daheimsein", dem "heimkommen".

Ein für allemal habe ich das gelernt in den letzten Lebensmonaten, -wochen und –tagen meines Vaters. Seine Verwirrung nahm beständig zu. Aber auch der Gebrauch eines Wörtleins nahm zu: "heim". Wenn er aufstehen und sich einen Weg bahnen wollte, dann war von seinen Äußerungen oft nur zu verstehen: "heim, heim". Das war keineswegs eine individuelle Spezialität. Krankenhaus- und Altenheimseelsorger können bezeugen, dass der Wunsch "Ich will heim" in dieser Situation nicht ungewöhnlich ist. Vermutlich fließen verschiedene Bedeutungen dabei zusammen: Verlusterfahrungen in der eigenen Biographie, die Rückkehr zu den Anfängen, aber auch die Heimat im Himmel. Die himmlische Wohnung ist nicht nur eine zukünftige Heimat, sondern schon jetzt eine innere Zuflucht.

Mit einem altertümlichen Ausdruck sagen wir von einem Verstorbenen, er sei "heimgegangen". So altmodisch der Ausdruck ist, so vielsagend und gehaltvoll ist er. Wenn ich die Todesanzeigen in den Zeitungen lese, dann bin ich froh um jede, die sich nicht beschränkt auf Geburts- und Sterbedatum, die aber beim Benennen des Todes den kühl-sachlichen Ausdruck "verstorben" ebenso meidet wie den bildhaft-verniedlichenden Ausdruck "entschlafen". Sterben als "heimgehen" zu verstehen ist weit mehr als eine wertfreie Beschreibung. Niemand, der so redet, beschreibt etwas, was man sehen und beobachten kann. Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Die Rede vom "Heimgehen" hat durchaus etwas Bekenntnishaftes. Sie bekennt: Der Ursprung meines Lebens ist im Himmel, bei Gott. Dorthin kehre ich zurück.  "Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat."

III.

Wir sind auf dem besten Wege, ausgerechnet die Aussagen des heutigen Predigttextes stark zu machen und positiv zu würdigen, die am Anfang zu stören und zu irritieren schienen. Aber fordert es nicht weiterhin unsre Kritik heraus, dass der Apostel Paulus uns allen in den Mund legt: Wir wünschen, "den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn"? Heißt das nicht: die Welt sich selbst überlassen und sich der Verantwortung für Wohl und Wehe der Welt entziehen?

Als erstes wird man hierzu sagen müssen: Es gibt unterschiedliche Grade und Intensitäten von Leiderfahrungen. Wer gibt mir – der ich in mehr als sechs Jahrzehnten meines Lebens fast nur die Wohltaten Gottes zu spüren bekam – das Recht, darüber zu befinden, wie andere auf die Bedrängnisse ihres Lebens reagieren und wieviel sie aushalten sollten? Wir müssen viel demütiger sein, wenn es gilt, sich in die Erfahrungen eines anderen hineinzubegeben. Wir müssen mit viel mehr Unterschieden zwischen dem einen und dem anderen Christenmenschen rechnen. Paulus hat – das muss man ja immer mitdenken – nicht ein Lehrbuch und nicht eine systematische Abhandlung geschrieben, sondern Briefe an bestimmte Empfänger und in bestimmte Situationen hinein.

Als zweites aber ist zu würdigen, dass Paulus auch und gerade in dem Abschnitt, der uns heute als Predigttext gegeben ist, keineswegs zur Weltflucht anstiftet, sondern die Gemeinde in Korinth darauf einstimmt, sich mit dem, was jeder getan hat bei Lebzeiten, vor dem Richterstuhl Christi zu verantworten: Wir setzen "unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse." Zwischen dem Leben im irdischen Haus und dem Leben im himmlischen Haus wird kein Trennstrich gezogen, kein Cordon sanitaire gelegt – das allerdings würde darauf hinauslaufen, das Geschick der Erde für gleichgültig zu erklären. Vielmehr entscheidet sich im Gericht der Lohn, den wir empfangen, just an den Taten, mit denen wir unserer Verantwortung gegenüber der Erde gerecht geworden sind - oder eben nicht. In diesem Lichte gewinnt auch der Gedanke eine zusätzliche Strahlkraft, dass wir, "solange wir in dieser Hütte sind", von dem Wunsch erfüllt sind, "das Sterbliche möge ver werden von dem Leben". Das bezieht sich nicht nur auf das ewige Leben, auch auf Erden schon gibt es Kräfte des Lebens, die die Oberhand behalten über Kräfte des Todes.

Die Aussagen des Paulus, mit denen ich mich am wenigsten abzufinden vermag, sind die, in denen er die irdische Welt als einen Ort darstellt, der uns nur noch seufzen lässt und nur noch unsere Sehnsucht weckt, anderswo zu sein. Kann der christliche Glaube wirklich nur so über die von Gott erschaffene und erhaltene Welt reden? Sie werden heute, liebe Gemeinde, in einen ungewöhnlichen Prozess hineinverwickelt. Ich rufe Paul Gerhardt zum Zeugen gegen den Apostel Paulus auf. In seinem Sommerlied hat Paul Gerhardt nämlich einen Weg gewiesen, wie der christliche Glaube die Schönheit und die Lebensdienlichkeit der irdischen Welt rühmen kann, ohne der Herrlichkeit des Himmels etwas wegzunehmen, und wie er ihren Mangel aussprechen kann, ohne sie schlechtzureden.

"Ach, denk ich, bist du hier so schön und lässt du's uns so lieblich gehn
auf dieser armen Erden. Was wird doch wohl nach dieser Weltdort in dem reichen Himmelszelt und güldnen Schlosse werden?

Welch hohe Lust, welch heller Schein wird wohl in Christi Garten sein!Wie muss es da wohl klingen ...!"

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Weiter, liebe Brüder und Schwestern:
Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht,
was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat,
sei es eine Tugend, sei es ein Lob – darauf seid bedacht!
Was ihr gelernt und empfangen ... habt, das tut,
so wird der Gott des Friedens mit euch sein.

Amen.