Er steckt in jedem von uns. Die Theologie hat sich vom Teufel verabschiedet. Und das Böse erst richtig gefunden: nicht nur in anonymen Kräften, sondern im Verhalten der Menschen.

Petra Bahr

„Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“ So beschreibt Mephisto in Goethes „Faust“ das allmähliche Verschwinden des Teufels aus der Welt nach der Aufklärung. Mit so viel doppelzüngiger Gemeinheit kann nur ein Teufel sprechen. Die Theologie schenkt dem Bösen in letzter Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit, als Mephisto, der satanischen Literaturgestalt, lieb sein kann. Denn in der Welt ist immer noch der Teufel los.

Das mythologische Bild vom koboldhaften Ungeheuer mit schwarzem Pelz und Dreizack in der Hand, das die Menschen des Mittelalters in Schrecken versetzte, wirkt angesichts des Bösen in der Welt wie ein harmloses Glanzbild, wie Kinder es auf Schulhöfen tauschen, eine Figur wie aus dem jüngsten Fantasy-Bestseller. Schon Kinder haben einen Sinn für das Böse in der Welt. Das Böse steuert Passagierflugzeuge in Hochhaustürme und sperrt kleine Mädchen jahrelang im Keller ein. Es foltert politische Gegner und erschießt kritische Journalisten. Es wächst im Körper eines Familienvaters und verschlingt als Riesenwelle in Minuten hundert Dörfer und ihre Bewohner.

Das Böse ist ein kleines, dehnbares Wort, in das alles passen muss, was die Welt schauderhaft und hoffnungslos macht. Das Böse kann auf die ganz große Geste der Grausamkeit durchaus verzichten. Ein Gerücht am Rande hat schon so manche Lebensgeschichte zerstört. Auch wenn das Gegenteil bewiesen ist, etwas bleibt immer hängen, wenn böse Zungen los sind.

Das Böse ist nicht nur das, was Menschen heimsucht wie eine Katastrophe oder ein Schicksalsschlag. Es sind auch nicht immer die anderen, die für das Übel in der Welt verantwortlich sind. Das Christentum hat immer wieder daran erinnert, dass der Abgrund der Zerstörung auch in uns selbst lauert. Wer hätte nicht schon erschrocken festgestellt, wie Wut oder Enttäuschung zur Gewalt entfesseln. Wen hätte noch keine Schadenfreude beschlichen, wen noch nicht der klammheimliche Neid zu üblen Gedanken bewogen.

Das ist harmlos gegenüber dem Bösen, das Terroristen, Kinderschänder und Folterknechte über die Welt bringen? Wer sich daran erinnert, dass eine kleine Denunziation des Nachbarn unter bestimmten politischen Umständen einem Todesurteil gleichkommt, der wird vorsichtiger damit, sich selbst bei den Guten einzusortieren. Die Versuchung lauert oft schon in den lässlichen Boshaftigkeiten.

Hannah Arendt, die jüdische Philosophin aus Königsberg, hat als Beobachterin des Eichmann-Prozesses an einer Theorie des Bösen gearbeitet, die ganz nah an der biblischen Einsicht in das Wesen des Menschen ist. Die überlebende Jüdin, die sich gerade noch aus Deutschland retten konnte, fragt sich, wie ein so unauffälliger Zeitgenosse zu einem willigen Vollstrecker des Massenmords an den europäischen Juden werden konnte. So sieht doch kein Teufel aus. Das Böse entsteht häufig nicht aus dem Beschluss zur bösen Tat, stellt Hannah Arendt fest. Aus Indifferenz und aus der Weigerung, sich selbst ein Urteil zu bilden über das, was passiert, werden Familienväter, Hausmusiker und Goethe-Leser zu Bestien, die die Menschenwürde ihrer Nächsten in Gaskammern verfeuern.

Dieses Böse agiert offen und bindet sich sogar an vermeintlich gute Ideen für Volk und Vaterland. Hannah Arendt nennt diese Bewegung des Bösen die „Konspiration am helllichten Tag“. Die theologische Tradition, auf die sie zurückgreift, hat für die Eskalation des Bösen im Nationalsozialismus noch keine Gedanken zur Verfügung gehabt. Dennoch ist es auch diesem Erbe zu verdanken, wenn die jüdische Gelehrte zur Vorsicht mahnt, wo Menschen das Böse an ein fremdes Prinzip oder eine anonyme Macht delegieren wollen, der normale Alltagsmenschen hilflos ausgeliefert wären.

Das Böse ist, wenn man so will, der Hinterhalt der Freiheit, der gerade da lauert, wo die Entscheidung gefragt ist. Hitler zu dämonisieren ist einfach. Ihn sich als Menschen denken zu müssen, das ist die Zumutung, an der nach den Schreckenserfahrungen des 20. Jahrhunderts keiner vorbeikommt, der über das Böse nachdenkt. Wäre ein fremder Böser für das Böse verantwortlich, wären Deutsche von allen Vorwürfen frei, ein Volk von Verführten. Diese Entmündigung ist mit dem Christentum nicht zu machen. Deshalb kann das Verschwinden des Bösen als personifizierter Gestalt den Blick auf das Böse in seiner unheimlichen Dimension öffnen. Schon die Bibel findet verschiedene Bilder für das, was sich im Bösen ausdrückt. Das Gerücht, die Moderne habe den Teufel aus dem Christentum getrieben, um es auf diese Weise freundlicher und harmloser zu machen, ist deshalb falsch. Denn schon die biblischen Überlieferungen haben für das Böse nicht nur eine einzige Gestalt.

Chaosdrachen und satanischer Verführer, die Schlange mit ihren fiesen Einreden und die sich anbiedernde Stimme des Versuchers, der sogar an Jesus seine Machtspiele probiert, Meeresungeheuer und Riesenwellen, despotische Tyrannen und Geister, die die Seele von Menschen in Besitz nehmen, immer wieder neue Gestalten und Gesichter treten auf, so viele Gestalten, wie es Formen des Bösen gibt. Da ist die Bibel oft differenzierter und näher an den vielen Facetten des Bösen als die Kultur der Gegenwart.

In der Tat neigen auch aufgeklärte Menschen dazu, im Bösen eine Art heimlicher Gegenmacht zur Welt des Guten zu vermuten, für die sie die zerstörerischen Elemente der Welt verantwortlich machen können. Popkultur und Hollywoodkino machen den Kampf von Gut und Böse zum Dauerbrenner. In der öffentlichen Einbildungskraft sind wir über das Mittelalter nicht weit hinausgekommen. Gestalten in schwarzer Lederkluft verrichten ihr Zerstörungswerk so lange, bis ein unscheinbarer Held Riesenkräfte entfaltet und den Schurken die Stirn bietet. Oft haben diese Protagonisten des Bösen überirdische Kräfte.

Der manichäische Dualismus, der die Welt als Kampfplatz versteht, in der das Gute und das Böse verbissen miteinander kämpfen, ohne dass eine Entscheidung in Sicht wäre, ist in der Alltagskultur fest verankert. Christlich ist das Bild vom Boxkampf zwischen Gott und Teufel nicht, auch wenn die Theologie im Nachdenken über das Böse schnell an ihre Grenzen kommt. In der Spätantike stellte Augustin die kluge Überlegung an, dass das Böse deshalb so schwer zu fassen sei, weil es gar kein Sein, ja nicht einmal eine fassbare Wirklichkeit habe. Es ist nicht in dem Sinne, wie die Gegenstände der Welt sind. Erst recht ist es nicht wie Gott als der Inbegriff dessen, was lebt und Leben schafft. Es ist vielmehr das Gegenteil von Sein, die Verneinung, das Lebensfeindliche, das Chaos, das Zerstörerische, das alles, was sein will, permanent infrage stellt.

Deshalb malt Augustin das Böse auch schwarz an. Schwarz ist die Abwesenheit von Licht. Die Dämmerung, mit der das Schwarz beginnt, bedroht das Leben mit dem Verdacht der Sinnlosigkeit. Hier trifft die Pointe Augustins den bösen Zeitgeist der Gegenwart. Nihilismus als Haltung, die Hoffnungslosigkeit zum Prinzip macht, dem man nicht entwischt, entlarvt Augustin in biblischer Tradition als gemeinste Form des Bösen. „Da ist gar kein Gott“, flüstert die Stimme.

Wir sind uns selbst ausgeliefert und den Mächten der Zerstörung, die wir freigelassen haben wie böse Geister aus der Flasche. Wo das, was vor Augen ist, alles ist, wir uns mit dem zufrieden zugeben haben, was ist, weil wir nichts ändern können, hat das Böse gesiegt, gleich, ob es im Anzug oder mit Sprengstoffgurt um den Bauch daherkommt. Die Passionszeit, die an den Leidensweg Jesu erinnert, kann das Nachdenken über das Böse in der Perspektive des christlichen Glaubens vertiefen. In den Versuchungen, in der Verlassenheit und in der Folter am Kreuz stellt Gott sich dem Bösen so elementar wie öffentlich, indem er es am eigenen Leib erträgt.

Das beendet jede dualistische Spekulation, als kämpfe ein unbeflecktes Gutes gegen eine böse Macht. Theologen der Gegenwart haben versucht, das negative Kraftzentrum des Bösen in der Verachtung der Würde des Menschen zu bestimmen. Am Kreuz kann sich dessen Energie entfalten. In der obszönen Inschrift über dem Kreuz: „Der König der Juden“, steckt das Demütigende, das zur Signatur des Bösen gehört. In der Schändung des menschlichen Antlitzes durch die Folter steckt der kranke Machtwille über den hilflosen Nächsten. In der Verspottung durch die neben Jesus aufgeknüpften Verbrecher die Entsolidarisierung im Leiden.

Doch so wie das Kreuz zum Emblem der Macht des Bösen wird, so ist der Glaube an die Auferweckung Jesu sein Dementi. „Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?“, schleudert Paulus Mephistopheles entgegen. Luther, dessen Welt voller Teufel war, bringt die Einflussgrenze des Bösen auf den Punkt: „Ein Wörtlein kann ihn fällen.“ Es ist das Wörtlein von der freien Gnade Gottes. Vor ihr nimmt das banale Böse in jedem Menschen Reißaus.


(Quelle: Artikel von Petra Bahr im Rheinischen Merkur Nr. 10 vom 05.03.2009, Seite 7)