Impuls zur Kirchentagslosung auf dem Kirchentag bei der Konrad Adenauer Stiftung

Prälat Dr. Bernhard Felmberg

Die Frage „Mensch, wo bist Du? stammt aus der Erzählung vom Sündenfall in Genesis 3. Die Schlange – so berichtet die Bibel –, die listiger war als alle Tiere auf dem Felde, verführt Eva, vom Baum der Erkenntnis zu essen, auf dass die Menschen klug würden wie Gott und wüssten, was gut und was böse ist. Eva isst und Adam auch. Die erste Erkenntnis, die sie haben, ist die, dass sie nackt sind. Sie machen sich Kleider. In der Abendkühle nun geht Gott im Garten Eden umher und ruft Adam (hebr. für „Mensch“): „Wo bist du?“ Adam und Eva verstecken sich vor Gott. Sie sind verwirrt, ihre gedanklichen Koordinaten sind durcheinander geraten. Adam nämlich antwortet: „Wir fürchten uns vor dir und haben uns vor dir, Gott, versteckt, weil wir nackt sind“. Eine ganz unsinnige Auskunft: Adam schämt sich seiner Nacktheit wegen vor seinem Schöpfer, der ihn nackt geschaffen hat und sah, dass es so gut war. Gott – ganz ein guter Pädagoge – fragt, woher Adam wisse, dass er nackt sei. Er vermutet, dass Adam und Eva es wissen, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Adam muss das einräumen und schiebt sogleich – ganz Mensch wie wir – die Schuld an der Übertretung auf Eva. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Gott bestraft Adam und Eva und wirft sie aus dem Garten Eden hinaus, damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen und ewig leben. Gottes Zorn aber ist der Zorn eines liebenden Vaters, der seine Kinder nicht endgültig verstößt, sondern bei ihnen bleibt und für sie sorgt: In der Genesis wird beschrieben, dass er ihnen Röcke aus Fell macht, damit sie besser bekleidet sind als mit den selbstgemachten Lendenschurzen .

Mit dem Essen der Frucht vom verbotenen Baum der Erkenntnis übertreten Adam und Eva Gottes Gebot aus Gen 3,3 (von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!). Sie fallen in Sünde, d.h. sie kappen in einer eigenen Entscheidung (aufgrund der Einrede der Schlange) ihre Beziehung zu Gott. Die Sünde Adams, also die Abkehr von Gott und die Übertretung seines Gebots, haben zur Folge, dass sein Normengefüge ganz aus der Ordnung gerät. Denn Adam fürchtet sich vor Gott nicht darum, weil er sein Gebot übertreten hat, sondern darum, weil er nackt ist!

Gottes Ruf „Mensch, wo bist Du?“ ist im narrativen Ursprungskontext mindestens ambivalent. Zum einen macht er deutlich, dass Gott die Menschen, die seine Gebote übertreten haben, nicht vergisst, nicht links liegen lässt, nicht abschreibt. Nein, er bemüht sich darum, dass er mit den Menschen in Verbindung bleibt. Zum anderen aber verunsichert Gottes Anruf den Menschen massiv, weil er das Sündersein des Menschen aufdeckt. Die Frage „Wo bist du Mensch?“ trifft den Menschen als einen, der mit Gott nichts mehr zu tun haben möchte, der nicht nach Gottes Geboten lebt, der es sich in diesem Leben eingerichtet hat und nicht seiner Sünde überführt werden möchte.

Es ist eine hochdramatische Situation, in der Gott dem Menschen die Frage der Kirchentagslosung stellt. Es ist der Wendepunkt in der Geschichte zwischen Gott und Mensch, der Punkt, an dem sich beider Wege aufgrund einer Entscheidung des Menschen trennen. Gleichwohl ist diese Trennung asymmetrisch, insofern als Gott sich fortan immer wieder neu um den gefallenen Menschen bemühen wird. Zunächst tut er dies durch verschiedene Bundesschlüsse und schließlich – auf dem Kulminationspunkt der Heilsgeschichte – in Jesus Christus. Erst im menschlichen Glauben an Christus wird der Schaden, den Adam und Eva angestellt haben, repariert und die Situation vor dem Fall, nämlich die innige und enge Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, wiederhergestellt. Die Frage „Mensch, wo bist Du?“ erübrigt sich, wo Menschen im Glauben leben, weil der Mensch im Glauben bei Gott ist und von ihm nicht mehr gesucht werden muss. Der Glaube freilich ist nach evangelischem Verständnis kein Zustand von Dauer. Er ist ständig in Gefahr, er wird fortwährend von Zweifel und Unglauben überwältigt und muss dementsprechend regelmäßig erneuert werden dadurch, dass sich der Mensch dem Wort Jesu („Mensch, wo bist Du? Komm zu mir!“) aussetzt.

Gottes Frage „Mensch, wo bist du?“ ist also auf der einen Seite tröstlich, weil sie klar macht, dass Gott den Menschen bei sich haben will und nicht vergisst. Auf der anderen Seite macht sie dem Menschen schlagartig deutlich, dass er nicht so lebt, wie Gott es von ihm möchte. Und sie ruft den Menschen in die Verantwortung. Eine Verantwortung freilich, die getragen und umfangen wird von der Zuwendung Gottes. Also eine Verantwortung, die der Mensch nicht aus sich selbst heraus wahrnehmen muss, sondern deren Wahrnehmung Gottes Zuwendung und Liebe ihm ermöglicht. Insofern ist die Frage Gottes „Mensch wo bist Du?“ auch ein Wort, das uns Kraft gibt, Verantwortung wahrzunehmen. Denn es ist immerhin Gott, der uns für würdig hält, angerufen zu werden von ihm. Gott wendet sich an uns, er ruft uns bei unserem Namen. Wir sind ihm etwas wert. Jeder einzelne von uns, ob jung, ob alt, ob behindert, ob nichtbehindert. Gott liebt uns. Darin unterscheidet sich auch der Anspruch Gottes („Wo bist du, nimm deine Verantwortung wahr“) von allen anderen Ansprüchen, die tagtäglich auf uns einstürzen: Tu dies oder das! Verhalte dich so oder so! Mach mit! Viele dieser Aufrufe sind ja grundsympathisch, natürlich soll man helfen, wo man kann und wo die persönlichen Möglichkeiten Engagement erlauben. Doch Appelle, die uns nicht gleichzeitig die Kraft geben, um ihnen nachzukommen, deprimieren uns auf Dauer. Sie laugen uns aus. Wenn man nur noch von Appellen umringt ist, kann der Mut leicht sinken. Theologisch spricht man dann davon, dass man mit dem Gesetz konfrontiert wird. Dem Gesetz, das ohne Evangelium eine „harte Keule“ wird, die in Verzweiflung führt. Darum ist der Anspruch, der sich in der Frage: „Mensch, wo bist Du?“ zeigt, auch so wunderbar: Gott will mit uns Menschen etwas machen. Er liebt uns. Darum ist der Anruf Gottes Zusage und Ruf in die aktive Wahrnehmung unserer Verantwortung zugleich.