Predigt am Buß- und Bettag 2010 in der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin-Mitte

Predigttext: Röm 2, 1-11

Liebe Gemeinde,

47 regionale Bußtage an 24 verschiedenen Tagen im Jahr. So sah es in den deutschen Landeskirchen 1878 aus. 47 von 365, das sind immerhin fast 13 Prozent der Tage eines Jahres, an denen in Deutschland ein Bußtag abgehalten wurde. Heute ist das eine unvorstellbare Zahl. Und auch damals wurde es den Landesherren zuviel: 15 Jahre später hatten sich die meisten Landeskirchen auf einen gemeinsamen Bußtag geeinigt; auf den Mittwoch nach dem vorletzten Sonntag im Kirchenjahr. Dort liegt er nun bis heute, auch wenn er als Feiertag nur noch in Sachsen staatlich geschützt ist. In den anderen Bundesländern und Stadtstaaten wurde sein Schutz 1995 aufgehoben, um einen zusätzlichen Arbeitstag im Jahr zur Finanzierung der Pflegeversicherung zu gewinnen. Heute stellt sich die Frage: Hat es der Pflegeversicherung genützt? Hat es uns genützt? Hat es dem Staat genutzt?

Der Staat entzog dem Buß- und Bettag seinen Schutz, dabei ist dieser Tag wesentlich ein Tag des Gemeinwesens.

Dies zeigt sich schon im Blick auf die Geschichte: Der erste evangelische Bußtag wurde 1532 in Straßburg begangen;  er wurde ausgerufen angesichts der Bedrohung durch die „Türken“, also durch das Osmanische Reich. Die Menschen baten Gott, er möge sie verschonen vor den Gefahren und Grausamkeiten des Krieges. In der Gemeinschaft brachten sie die Not vor Gott, bekannten ihre Schuld und baten Gott um Erbarmen.

Auch wenn wir heute ein anderes Verständnis von Geschichte haben, hat der Bußtag seine Bedeutung für das Gemeinwohl nicht verloren. Denn er ist der Ort, an dem wir nach unserer Schuld im privaten, im gesellschaftlichen und im politischen Handeln gefragt sind.
Und so steht die vorletzte Woche des Kirchenjahres ganz im Zeichen der Besinnung. Sie beginnt mit dem Volkstrauertag, der an Krieg, Leid und Tod erinnert, und geht über in den Ewigkeitssonntag, der von unserer Hoffnung auf ein heilvolles Leben nach dem Tod erzählt. Dazwischen bedenken wir am Bußtag, wie wir in unserem privaten Leben, und wie wir als Gesellschaft umkehren können von den unheilvollen Wegen, die geprägt sind von gegenseitigen Verletzungen, von Missgunst und Unfrieden. Damit eben nicht Leid und Krieg im Kleinen wie im Großen unser Zusammenleben bestimmen.

Dass wir es immer wieder nötig haben, über unser unheilvolles Handeln und Reden nachzudenken, das stellt uns auch der Apostel Paulus im heutigen Predigttext unmissverständlich vor Augen. Er schreibt im Brief an die Römer im 2. Kapitel:

1 Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch  bist, der du richtest. Denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest.
2 Wir wissen aber, dass Gottes Urteil recht ist über die, die solches tun.
3 Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst?
4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?
5 Du aber mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufst dir selbst Zorn an auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes,
6 der einem jeden geben wird nach seinen Werken:
7 ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben;
8 Ungnade und Zorn aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit;
9 Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die Böses tun, zuerst der Juden und ebenso der Griechen;
10 Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die Gutes tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen.
11 Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott

Harte Worte schleudert der Apostel seinen Zuhörern entgegen: „Du, Mensch, kannst dich nicht entschuldigen! Du häufst dir selbst Zorn an auf den Tag des Zornes und des gerechten Gerichtes Gottes!“ Wie mit drei Ausrufezeichen versehen hallen diese Sätze in meinen Ohren. Keine Entschuldigung ist möglich, der Tag des Zorns kommt. Das sind unbarmherzige Worte. Aber es sind auch unbarmherzige Taten, die Paulus hier geißelt: Menschen richten über andere Menschen. Verurteilen sie, weil sie einen Fehler gemacht haben. Stellen sie ins gesellschaftliche Abseits, weil sie angeblich nicht mehr tragbar sind. Liefern sie dem öffentlichen Spott aus. In selbstgerechter Zufriedenheit erheben sich Menschen über andere Menschen. Oft ist es eine ganze Gruppe von Menschen, die einen Einzelnen verurteilt. Offensichtlich verschafft das gemeinschaftliche Urteil eine Identität, in der der Einzelne sich aufgehoben findet. Der eigene Selbstwert steigt an, wenn man sich der Gruppe der moralisch Überlegenen zugehörig fühlt. So entsteht dann die empörte Öffentlichkeit, die im Kleinen aus der Familie oder den Schulkameraden bestehen kann, im Großen aber aus den Bewohnern einer Stadtgemeinde oder der breiten medialen Öffentlichkeit unseres Landes. In einem Jahr, das so sehr von Rücktritten gekennzeichnet ist wie das laufende, haben wir erlebt, wie vernichtend solche Urteile über einen Menschen sein können – in der Wahrnehmung der Betroffenen wie in der öffentlichen Meinung. Was wir da im Großen erleben, das gibt es im Kleinen umso mehr.

Denken Sie nur an die Schüler, die sich inzwischen nicht mehr nur auf dem Schulhof, sondern auch in Internetforen dem Spott ihrer Mitschüler ausgesetzt werden. In der weltweiten community des social network werden sie an den Pranger gestellt.

Es ist so einfach, über einen anderen Menschen den Stab zu brechen und ein Urteil zu sprechen. Dabei ist niemand davor gefeit, selbst verurteilt zu werden. Denn jeder von uns macht Fehler. Niemand kann immer alles richtig machen. Oft genug verurteilen wir Andere gerade wegen der Charakterzüge oder Handlungen, in denen wir selbst schwach sind, eben weil wir diese Eigenschaften an uns nicht leiden können. Aber uns selbst zu hinterfragen und zu kritisieren sind wir nicht bereit. Da verurteilen wir dies lieber am Anderen.

Dann aber schlägt das unbarmherzige Urteil zurück. Wer andere verurteilt hat, braucht selbst nicht auf Gnade zu hoffen. Darauf weist auch der Apostel Paulus hin, wenn er sagt: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest.“

Mit einfacheren Worten, aber mit dem gleichen Sinn hat das auch Jesus Christus gesagt. Den Männern, die schon die Steine in der Hand wogen, um sie auf die vermeintliche Ehebrecherin niederprasseln zu lassen, rief er zu: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Jesus forderte die Menschen auf, darüber nachzudenken, ob sie es sich eigentlich erlauben können, über diese Frau zu urteilen.

Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Ich fürchte, heute würden viele Menschen behaupten, dass sie ohne Sünde sind. Denn die Bedeutung des Wortes  Sünde ist in unserer Gesellschaft weitgehend verloren gegangen. Und mit ihr die Einsicht, dass jeder Mensch Schuld auf sich lädt und sich daher nicht über einen anderen Menschen erheben kann. Wenn du aber die Steine des Urteils erst einmal wirfst, dann bleiben sie nicht einfach am Boden liegen. Irgendwann wird ein Anderer sie aufheben und bei nächster Gelegenheit auf dich zurückwerfen, mit der gleichen Unbarmherzigkeit und der gleichen vernichtenden Wucht.

Ist denn Kritik dann unmöglich? Sollen wir alles gutheißen, was ein Anderer sagt und tut? Sicher nicht. Faire, sachliche Kritik ist nicht nur erlaubt, sie ist auch nötig. In der Familie oder im Freundeskreis geschieht diese durch einen dezenten Hinweis oder ein offenes Wort. In der Öffentlichkeit gehören dazu eine objektive und investigative Berichterstattung und ehrliche Debatten. Doch immer muss eines gelten: Kritisiert und beurteilt werden im Kleinen wie im Großen nur Positionen und Handlungen, nicht Menschen. Wer aber den Anderen ganz und gar verurteilt, wer streitsüchtig und bösartig über dem Anderen den Stab bricht, der zieht sich den Zorn Gottes zu. Denn das Urteil über den Menschen an sich, das kommt uns nicht zu. Das ist allein Gottes Amt. Wer sich anmaßt, einen anderen Menschen verurteilen zu wollen, setzt sich auf Gottes Richterstuhl. Und wer auf diesem Richterstuhl zum „Richter Gnadenlos“ wird, der wird tatsächlich gnadenlos, er wird nämlich Gottes Gnade los. Denn er übersieht die wesentliche Eigenschaft Gottes, die ihn auch als Richtenden ausmacht: Das ist und bleibt die Liebe Gottes.

Gott selbst ist kein „Richter Gnadenlos“. Gott gibt den Menschen die Möglichkeit umzukehren. Gott ruft jeden Menschen immer wieder zurück auf den Weg des Heils. Gott wartet auf Reue und Buße. Das ist der Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut, von denen Paulus spricht. Gott ist gütig, geduldig und langmütig. Denn er rechnet damit, dass wir den unheilvollen Weg verlassen und den Weg der Barmherzigkeit, der Wahrheit und der Liebe einschlagen. Gott spricht nicht enttäuscht das letzte Urteil, wenn wir vom Weg abkommen. Sondern er wirbt dafür, dass wir zurückkommen auf seinen Weg. So wie in der biblischen Geschichte der Vater darauf wartete, dass der verlorene Sohn irgendwann einmal zurückfinden würde. Sein Warten zahlte sich aus. Der Sohn kam zurück und die Freude des Vaters war grenzenlos. Da ermöglichte der Vater dem Sohn, noch einmal neu anzufangen. Nicht das Vergangene sollte ihr Verhältnis bestimmen, sondern das Hier und Jetzt. So bekam der Sohn eine neue Perspektive. Die Angst vor der Verurteilung durch den Vater schnürte ihm nicht mehr die Luft ab. Er konnte endlich wieder aufatmen.

Genauso ermöglicht Gott uns immer wieder einen Neuanfang. Nicht durch ein Urteil will er uns auf einen gerechten Weg zwingen, sondern mit seiner Liebe ruft er uns zur Buße. Wir können umkehren von den unheilvollen Wegen. Denn wir bekommen von Gott eine neue Perspektive, in der nicht Hass, Ungnade und Zorn bestimmend sind, sondern Herrlichkeit, Ehre und Friede. Die will Gott uns geben. Wenn Gott uns aber die Möglichkeit zur Umkehr offen lässt, dann sollten wir wohl auch anderen Menschen die Möglichkeit eines Neuanfangs geben. Dann sollten wir niemanden auf seine Fehler und seine Schuld festlegen und ihn verurteilen. Sondern immer auf Veränderung, Umkehr und neuen Anfang hoffen und damit auch tatsächlich rechnen.

Es ist kein Ansehen der Person vor Gott. In unserer Gesellschaft erleben wir das ganz anders. Da gibt es natürlich ein Ansehen der Person. Jeder von uns hat das wohl schon erlebt, und zwar nicht nur bei Bewerbungen. Da entscheidet ja oft schon das Photo darüber, ob jemand überhaupt zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird. Auch die Farbe der Krawatte ist manchmal wichtiger als persönliche Kompetenz. Schon auf solche Äußerlichkeiten werden Menschen festgelegt. Um wie viel eindrücklicher und bleibender sind dann die Fehler und die Schuld, die Menschen an uns entdecken zu meinen, und auf die sie uns festlegen.

Auf einem Friedhof im österreichischen Kramsach findet sich auf einem Grabstein der Spruch: „Hier liegt Manfred Krug, der Kinder, Weib und Orgel schlug.“ Was witzig klingt, hat einen ernsten Kern, nicht nur für die Familie dieses Mannes, der in vergangener Zeit gelebt hat: Herr Krug ist festgelegt über den Tod hinaus. Wenn wir auch nichts von ihm wissen, das Eine wissen wir: dass er gegenüber seinen Kindern und seiner Frau Schuld auf sich geladen hat. Das Ansehen von Herrn Krug steht fest, sogar bei den kommenden Generationen.

Es ist kein Ansehen der Person vor Gott. Wie befreiend ist es da, dass Gott uns nicht festlegt. Dass er uns nicht beschränkt auf das, was wir einmal getan haben, auf unsere Schwächen genauso wenig wie auf unsere große Schuld. Sondern dass er uns die Möglichkeit einräumt, neu anzufangen. Gottes Liebe und Gnade geben uns die Möglichkeit aufzuatmen. Dann sollten wir genauso anderen Menschen mit Güte begegnen. Damit auch sie aufatmen können. Dann bestimmen nicht mehr Enttäuschung, Verachtung und Ungnade unser Leben, sondern Güte, Langmut und Barmherzigkeit. Amen.