Ökumenischer Dankgottesdienst zum Tag der Organspende, Paulskirche in Frankfurt am Main

Es gilt das gesprochene Wort!

Lesung
Das Evangelium für diesen Gottesdienst steht bei Johannes im 5. Kapitel, die Verse 1-18. Es ist zugleich der Predigttext.

1Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.
2Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen;
3in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
5Es war aber ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank.
6Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
7Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
8Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
9Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat.
10Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen.
11Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin!
12Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?
13Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war.
14Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.
15Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.
16Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.
17Jesus aber antwortete ihnen: Mein Vater wirkt bis auf den heutigen Tag, und ich wirke auch.
18Darum trachteten die Juden noch viel mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich Gott gleich.


Liebe Gemeinde,
„Im Jahr 1846 bahnte sich im heutigen Sprudelhof ein Solestrom sei-nen Weg an die Erdoberfläche und begründete damit Nauheims Berufung als Gesundheitsstadt. Heute sprudeln in Bad Nauheim neun Quellen, die Heilwässer von ausgezeichneter Qualität und besonderem Reichtum an Mineralien liefern.“ So ist auf der Internetseite des berühmten Hessischen Kurortes Bad Nauheim im Wetteraukreis zu lesen. Zahlreiche Menschen folgten bis heute der Verheißung, in Bad Nauheim Linderung bei diversen Beschwerden zu erfahren. Bis in die Mitte der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein war die Stadt ein mondänes Luxusbad. Es kurten hier berühmte Persönlich-keiten: Der Kaiser samt Gemahlin, die russische Zarenfamilie, August Bebel, Franklin Roosevelt, Alfred Krupp, Karl May, Erich Kästner, Hans Albers und so weiter. Sogar mit einem Kuraufenthalt der österreichischen Kaiserin Elisabeth, sprich Sisi, kann die Stadt sich brüsten.

Alle diese Menschen wie die unzähligen ungenannten und nichtprominenten Kurgäste Bad Nauheims hofften und hoffen, dass die Stadt für sie ein Ort der Heilung sein möge. Die wohltuende und heilende Wirkung soll dabei durch das Wasser kommen. So wie es in anderen Heilbädern auch ist. Denn Wasser hat neben der zerstörenden Kraft, die Menschen immer wieder erleben – zuletzt durch den Tsunami in Japan oder die Überschwemmungen in Missouri – auch eine heilsame Kraft. Das wissen Menschen seit Urzeiten. Viele Quellen sind seit jeher Orte besonderer religiöser Dignität. Namhafte Wallfahrtsorte wie Banneux in Belgien und natürlich Lourdes in Frankreich verdanken ihren Rang als Pilgerstätte der Wundertätigkeit, die ihren Quellen zugeschrieben wird. Seit dem 19. Jahrhundert wird flächendeckend in Kurbädern die heilende Kraft des Wassers je nach Zusammensetzung der in ihm enthaltenen Mineralien medizinisch angewendet gegen Leiden wie Gicht, Rheuma, Hautkrankheiten oder Herz-Kreislaufbeschwerden. Und da Kuren heute selten genehmigt werden, tun viele Menschen sich selbst etwas Gutes und lassen sich in den unzähligen Wellnesstempeln in Thermalwasser, Sauna oder Hamam verwöhnen. Immer wird dabei nicht nur der Körper in Schwung gebracht, sondern auch die Seele angesprochen.

Auch in Jerusalem zur Zeit Jesu gab es eine Heilquelle, den Teich Betesda. Dies war eine Zisterne, nördlich des Tempels gelegen und aus zwei voneinander abgetrennten Becken bestehend. Schon im 2. Jahrhundert vor Christus waren um die Becken herum verschiedene Säu-lenhallen gebaut worden, in denen viele kranke Menschen lagen. Denn dem Teich wurden heilende Kräfte nachgesagt. Von Zeit zu Zeit bewegte sich das Wasser des Teiches. Es wurde unruhig und erzeugte Wellen. Wer es dann schaffte, als erstes ins Wasser zu kommen, der wurde von seiner Krankheit geheilt. Deswegen war der Teich eine Pil-gerstätte für Menschen, die an Krankheiten aller Art litten.
Von einem solchen Kranken erzählt der Predigttext für diesen Gottesdienst. Und ihn hat es besonders schlimm getroffen. Denn 38 Jahre lang ist dieser Mann schon krank. 38 Jahre. Eine Ewigkeit. Normalerweise werden Menschen schon ungeduldig, wenn eine Grippe länger als eine Woche dauert. Das ist ja nur zu verständlich. Denn Kopfweh, Gliederschmerzen, Husten und Schnupfen mag man kaum länger aushalten. Auch schwere Krankheiten hoffen wir, irgendwann in den Griff zu bekommen. Denn es ist schwer erträglich, daran jahrelang zu leiden. Aber 38 Jahre? Das ist kaum vorstellbar. Da ist die Krankheit nicht nur chronisch, sondern auch irreversibel. Wo soll da noch Heilung herkommen?

Wie mag es dem Mann ergehen, der da am Teich Betesda liegt? Liegt er nur noch apathisch da? Ein Kranker unter vielen Kranken. Ein Sozi-alfall, um den sich schon lange niemand mehr kümmert und der deswegen auch gar nicht weg kann von diesem Ort. Einer, von dem sich Freunde abgewandt haben, weil sie das ständige Reden über die Krankheit nicht mehr ertragen können.

Wo sollte er denn hingehen? – Oder trägt er noch die Hoffnung in sich, dass ihm irgendwann das Wunder gelingen wird und er als erster in das Wasser kommt, wenn die geheimnisvollen und heilsamen Wellen zu sehen sind?

Als Jesus eines Tages an den Teich Betesda kommt, hört er von der Leidensgeschichte dieses Mannes und geht zu ihm hin. Er spricht den Kranken an und fragt ihn: „Willst du gesund werden?“ – „Willst du gesund werden?“ Was ist das denn für eine Frage? Wie soll der Mann darauf antworten? „Ja, was denkst du denn, Jesus? Willst du dich über mich lustig machen? Seit 38 Jahren liege ich hier krank herum, habe Schmerzen, kann kaum laufen, bin darauf angewiesen, dass mich jemand mit dem Nötigsten versorgt, und da fragst du mich, ob ich gesund werden will? Natürlich will ich das!“

So antwortet der Mann aber nicht. Er regt sich nicht auf. Und er erkennt auch nicht, wer ihn da fragt. Vielleicht hat er noch nie etwas von Jesus gehört und davon, dass der Wunder tun kann. Jedenfalls ist aus seiner Antwort nicht die Spur einer Hoffnung herauszuhören, dass irgendjemand irgendwann etwas an seiner Situation ändern könnte. Stattdessen verweist er auf die bittere Realität: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.“

Aussichtslos ist die Lage dieses Mannes. Innerlich steht er im Startblock und wartet gespannt auf den großen Augenblick. Doch wenn der Startschuss dann fällt, ist es, als ob ihm Bleikugeln an den Füßen hängen. Er kommt nicht weg. Und deswegen wird er nie als erster im Wasser sein. Immer ist ein anderer schneller als er.

Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen, die auf ein Organ warten, eine ähnliche Erfahrung machen wie der Kranke am Teich Betesda. Erst ist langes Bangen angesagt, dann gibt es endlich ein Organ, das passen würde. Aber dann bekommt es doch ein anderer. Und so schleicht das bittere Gefühl heran: „Ein anderer wird mir vorgezogen. Ich muss zurückstecken. Warum? Bin ich nicht genauso wertvoll wie der Andere? Habe ich nicht auch ein Recht darauf, Hilfe zu bekommen?“ Wenn dies mehrmals geschieht, ist es schwer, nicht zu resignieren, die Hoffnung nicht aufzugeben, den Lebensmut, die Lebenshoffnung nicht zu verlieren.

Der Kranke am Teich Betesda erhält Hilfe, sogar eine, mit der er gar nicht gerechnet hat. Jesus sagt zu ihm: „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!“ Da steht der Mann tatsächlich auf, nimmt sein Bett und geht. Beschwingten Fußes, denn er ist geheilt. Das muss ihm vorkommen wie ein Traum. 38 Jahre lang war er krank. Gefesselt an sein Bett. Und jetzt, von einem Augenblick zum Anderen, wird er gesund. Und das auch noch ohne das Heilwasser des Teiches oder irgendeine Art der magischen Behandlung durch Jesus. Nur auf das Wort Jesu hin.
Ein Wunder.

Können wir daran glauben? Und selbst wenn – hilft uns das etwas, dass Jesus diesen Menschen vor 2.000 Jahren geheilt hat? Ich meine ja. 

Erstens ist es keineswegs selbstverständlich, dass wir Menschen heute in der Lage sind, schwere Krankheiten zu heilen, die früher als un-heilbar galten. Der medizinisch-technische Fortschritt ist ja gerade auf dem Gebiet der Organspende unübersehbar. Wer hätte es in früheren Generationen für möglich gehalten, dass Frauen nicht mehr in großer Zahl am Kindbettfieber sterben, dass Tuberkulose flächendeckend bedeutungslos wird, dass eine Krankheit wie die Pest ausgerottet werden kann und dass die Lebenserwartung immer weiter steigt? Ja, und auch, dass die Spende einer Niere oder einer Leber überhaupt je möglich sein wird? Vielleicht sollten wir es als Wunder begreifen, dass Gott uns Menschen mit so viel Intelligenz und Verstand versehen geschaffen hat, dass wir fähig sind, unser Wissen tagtäglich zu vergrößern und unseren Handlungsspielraum beständig zu erweitern. Denn dadurch sind wir in der Lage, Krankheiten erfolgreich zu bekämpfen und Leben zu erhalten.

Zweitens erzählt die Geschichte davon, wie ein Mensch aus der Pas-sivität herausfindet und sein Leben in die Hand nimmt. Fast vier Jahrzehnte war er ans Bett gefesselt und sah selbst wohl keinen Ausweg aus seiner Situation. „Die Lage ist nun einmal so, wie sie ist, da lässt sich nichts ändern.“ Zumindest kann seine Antwort auf die Frage Jesu so verstanden werden. Jesus fragt: „Willst du gesund werden?“ Und er antwortet resigniert: „Mir hilft ja keiner.“ Der Kranke weist gleich von sich weg. Er kann gar nichts dazu tun, dass er gesund wird. Und wenn ihm keiner hilft, geht eben nichts voran. Aus dieser Lethargie reißt Jesus ihn heraus. Er ermutigt ihn: Steh auf und nimm dein Bett! Du hast dich von den Umständen ans Bett fesseln lassen, wurdest klein und hilflos. Nun vertraue auf die Kraft, die Gott dir gibt, löse dich von den Fesseln deines scheinbaren Schicksals und nimm dein Leben selbst in die Hand. Du kannst aufrecht stehen und dich auf Wege wagen, die du selbst gehen möchtest. Jesus mobilisiert den Patienten.
Die Kirchen folgen in ihrem Handeln diesem Beispiel Jesu. Denn genau für diese Menschen wollen sie da sein, die das Gefühl haben: „Mir hilft doch sowieso keiner.“ Die Kirchen nehmen den Auftrag Jesu ernst, dann da zu sein für diese Menschen. Hundertausendfältig wird in unserer Gesellschaft durch die Kirchen solche Hilfe geleistet, am sichtbarsten wohl in den großen Sozialwerken Diakonie und Caritas. Das soziale, seelsorgerliche und diakonische Handeln der verfassten Kirchen wird zugleich durch viele hunderttausend Ehrenamtliche unterstützt, die alle einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen spüren: „Ich bin nicht allein gelassen. Mein Schicksal interessiert Andere.“ Durch das Engagement der Haupt- und Ehrenamtlichen spüren die Menschen dann hoffentlich, dass sie Gott wichtig sind und dass er an ihrer Seite steht.
Dem Kranken am Teich Betesda hilft Gottes Sohn selbst. Das stößt aber in seiner Umgebung nicht gerade auf Begeisterung. Man könnte ja erwarten, dass die Menschen um ihn herum in Jubel ausbrechen, als sie ihn gesund herumspazieren sehen. Weit gefehlt! „Es ist Sabbat, du darfst dein Bett nicht tragen!“ Das ist die Reaktion der Menschen, die das Wunder nicht sehen wollen, dass das Leben eines Menschen sich so entscheidend zum Guten gewendet hat. Es sind Kleingeister, die darauf pochen, dass alles seine gewohnte Ordnung haben muss. Und das heißt: Heilung sechs Tage die Woche. Aber nicht am Sonntag. Da ist geschlossen. Kommen Sie morgen wieder.
Erkennen wir uns darin wieder? Haben wir nicht auch allzu oft eine bestimmte Vorstellung davon, was richtig und was falsch ist? Was man tut und was man eben auch nicht tut? Natürlich sind Regelungen wichtig, wenn Menschen miteinander leben. Da kann nicht jeder zu jeder Zeit das machen, was ihm gerade gefällt. Das Chaos würde unübersichtlich. Kulturelle Errungenschaften, Zeiten des Ruhens und des Arbeitens, Zeiten für Gemeinsames und Getrenntes würden einem genommen. Aber Regelungen dürfen nicht zum einschnürenden Korsett werden, das keinerlei Bewegungsspielraum mehr lässt.
Deswegen setzt sich Jesus auch über das Sabbatgebot hinweg. Die Feiertagsruhe hat nur solange Sinn, als sie den Menschen dient. Denn nur so bringt sie den Willen Gottes zum Ausdruck. Der Mensch steht bei Jesus im Mittelpunkt. Nicht das Gesetz. Deswegen setzt er sich über alle religiösen, sozialen und politischen Konventionen hinweg, wenn es den Menschen dient.

Die Geschichte will auch uns ermutigen, im Blick auf das Wort Gottes Neues zu wagen. Wir sollen uns nicht abfinden mit dem scheinbar Unabänderlichen, sondern darum kämpfen, dass unser aller Leben sich zum Guten wendet. Gelegentlich müssen auch wir uns dabei über das hinwegsetzen, was üblich, erlaubt oder toleriert ist. Christus schenkt uns die Kraft dazu. Wir müssen unser Leben nicht selbst heilen, das können wir sowieso nicht. Aber wir können Mut fassen, neue und möglicherweise konfliktbeladene Wege zu gehen. Das gilt auch im Blick auf die Organspende: Müssen nicht auch dort die so viele lange Jahre auf ein neues Organ Wartenden stärker in den Mittelpunkt des Interesses rücken? Könnten wir die Bereitschaft zur Spende eines Organs befördern, über die bislang üblichen Wege hinaus? Vielleicht braucht es zunächst nicht viel mehr als einen ermutigenden Anstoß, eine Frage im Zusammenhang mit dem Erwerb des Führerscheins oder mit dem Antrag eines Personalausweises. Vielleicht bewirkt schon ein solcher ein ermutigender Anstoß, dass mehr Mensch bereit werden, auf eine Organspende zuzugehen.

Und noch in einer dritten Weise hat die wunderbare Heilung des Kranken am Teich Betesda uns etwas zu sagen.  Wir dürfen nämlich der lebensverändernden Kraft des Wortes Gottes ruhig mehr zutrauen, als wir es für gewöhnlich tun. Wunder, unerklärbare Heilungen erscheinen in einer aufgeklärten Welt nicht möglich. Irgendeinen rationalen Grund muss eine Heilung doch haben. Dabei gibt es immer wieder Berichte von unerklärlichen Heilungen. In früheren Jahrhunderten war die Glaubenstradition stärker, die dem Wort Gottes eine therapeutische Wirkung zugeschrieben hat. Uns ist diese Vorstellung angesichts unserer eigenen Möglichkeiten mehr und mehr verloren gegangen. 

Die Geschichte vom Kranken am Teich Betesda aber erzählt davon, wie stark ein Mensch berührt werden kann von dem Wort Gottes. So stark, dass es sein ganzes Leben verändert und er geheilt wird. Ein Anrecht auf ein Wunder Gottes haben wir freilich nicht.  Aber hoffen dürfen wir darauf, jenseits aller Kurbäder, Heilwasser und dessen, was technisch machbar ist. Das sagt uns diese Geschichte. Denn so verspricht es Jesus am Ende der Geschichte: „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch.“

Amen