Die Klage des Friedens

Manfred Kock

Institut der Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Berlin

In Tagen wie diesen erklingen viele Stimmen. Möge eine von ihnen zu Gehör kommen, die Stimme des Friedens. Dies sagt der Friede:

„Wenn mich unschuldig zu verjagen, für die Sterblichen günstig wäre, würde ich nur beklagen, dass mir Unrecht und Härte zuteil wird. Nun aber verstopfen sie mit meiner Vertreibung sich selbst die Quelle alles menschlichen Glücks und verschaffen sich eine Flut von Unheil. Da muss ich über das Unglück jener mehr Tränen vergießen als über meinen Schaden.“

So lässt der Humanist Erasmus von Rotterdam (1469 - 1536) die PAX sprechen, den personifizierten Frieden. In der „Querela Pacis“ („Die Klage des Friedens“) aus dem Jahr 1517 nennt die PAX den Krieg knapp und präzise „die Wurzel allen Übels“. Wer würde dem widersprechen wollen? Und würde die PAX heute - angesichts der politischen Entwicklungen seit dem 11. September 2001 und angesichts des Krieges in Afghanistan - würde die PAX heute, wenn sie denn selbst das Wort ergriffe, anders reden als im Modus der Klage? Vielleicht würde sie eine fundierte Analyse erbitten oder eine eindringliche Mahnung oder Warnung aussprechen. Aber wohl kaum dürfte unter allen möglichen Arten und Weisen, sich zur gegenwärtigen Lage zu äußern, das Genus der Klage fehlen. Denn wenn man, um großem Terror-Übel zu widerstehen, zu den Waffen greift, sind die mitgetroffenen kleinen Leute zu beklagen, die Frauen und Kinder vor allem, die Millionen auf der Flucht. Der Friede muss klagen, weil die Mühen der Politik nicht ausreichten oder auch fehlerhaft waren, so dass am Ende nur noch die Gewalt bleibt, dem Übel zu widerstehen. Und nicht einmal eine Gewähr dafür ist in Sicht, dass mit dem Mittel militärischer Gewalt das Terror-Übel überwunden werden kann.

Jesus Christus und die Aufgabe der Christen
Die PAX bleibt nicht bei der Klage stehen. Sie will ja etwas Konstruktives erreichen. Sie hat dabei ein stabiles Fundament in dem menschlichen Urbild Gottes, in Jesus Christus. Dessen ganzes Leben sei nichts anderes gewesen als eine „ständige Unterweisung zur Eintracht und zu gegenseitiger Liebe“. Jeder, der Christus verkündige, habe daher den Frieden zu verkündigen, sagt Erasmus.

„Hört ihr, was er [Christus] den Seinen hinterließ? Sind es denn Reiterei, Garde, Kaiserreich oder Streitkräfte? Nichts dergleichen. Was also? Den Frieden gibt er, den Frieden lässt er: den Frieden mit dem Freunden, den Frieden mit den Feinden.“

Wer sich auf Jesus Christus beruft, der muss also ein Friedensstifter sein. Der christliche Glaube darf nicht dazu herhalten, Gewalt und Kriege zu legitimieren. Und doch ist dies geschehen, nicht nur im Mittelalter, zur Zeit der Kreuzzüge, als Christen zu Heiligen Kriegen gegen die arabische Welt aufriefen. Noch im Nordirland unserer Tage berufen sich die kleinen gewalttätigen Gruppen auf den protestantischen oder römisch-katholischen Glauben, wenn sie andere Menschen umbringen. Die PAX muss daher der bitteren Wahrheit ins Auge sehen, dass sehr wohl auch Christen sich in Gewalt und Kriege verstricken lassen. So fragt die PAX:

„Wessen Erfindung sind die Kanonen? Etwa nicht die der Christen? Und damit die Sache noch schändlicher sei, werden diese mit den Namen der Apostel versehen und Heiligenbilder eingraviert.
O grausiger Hohn!“

Die PAX des Erasmus ist eine schonungslose Kritikerin der christlichen Kirche ihrer Zeit. Im Blick auf Päpste und Bischöfe, die sich damals als Kriegsherren betätigten, stellt sie die rhetorische Frage: „Wie passen Kriegslager und Ecclesia zusammen?“ Und ihre Antwort ist klar: Gar nicht.

Das Hohelied der Prävention
Trotz aller Kritik setzt bei Erasmus die PAX ihre Hoffnung auf die christliche Kirche. Sie schreibt ihr eine andere, friedenstiftende Aufgabe zu, indem sie fordert:

„Die von Gott geweihten Priester mögen nur dort mitwirken, wo Kriege verhindert werden sollen.“

Das ist ein zukunftsweisender Grundsatz. Mit ihm singt die erasmische PAX das Hohelied der Prävention. Krisen und Konflikte müssen gewaltfrei bearbeitet werden, Kriege sind nach allen Kräften zu verhindern. Kriegsprävention ist eine maßgebliche Aufgabe, an der sich die Kirchen nach Kräften beteiligen. Darin stimmen die gegenwärtige römisch-katholische und die aktuelle evangelische Friedensethik ausdrücklich überein. Die neue EKD-Friedensschrift, die in wenigen Tagen unter dem Titel „Friedensethik in der Bewährung: Eine Zwischenbilanz“ erscheinen wird, befasst sich ausführlich mit den Möglichkeiten und Perspektiven ziviler christlicher Friedensdienste und anderer nicht-militärischer Instrumente der Konfliktbearbeitung. Solche Instrumente der Friedenssicherung gehören zu den Bausteinen für „Ernstfälle“ des Friedens.  Die Bausteine, die Sie, Herr Bundespräsident, in vielen Ihrer Reden umsichtig zusammengetragen haben, sind vor allem:
Demokratie und Menschenrechte,
Erinnerung und Vergebung,
soziale Verantwortung der Wirtschaft,
Entwicklung und Gerechtigkeit,
Dialog der Kulturen und gute Nachbarschaft.

In der klugen Kombination dieser so unterschiedlichen Bausteine zu einem stabilen Gebäude besteht die Kunst der Politik. Einer ihrer Grundsätze lautet: „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“. An dieses Motto sei in dieser Zeit der uneingeschränkten Solidaritätsbekundungen ausdrücklich erinnert.

Recht und Frieden
Die literarisch kunstvoll stilisierte Ausarbeitung des Erasmus war zwar wegweisend in der Sache, blieb jedoch in der Folgezeit zunächst ohne unmittelbare politische Wirkung. Die Religionskriege der folgenden Jahre, bis hin zum Dreißigjährigen Krieg, der Mitteleuropa so furchtbar verwüstete und „verheerte“, belegen, dass sich andere Auffassungen und Mächte politisch durchsetzten. Erst der Westfälische Friede von 1648 wurde zu einem Meilenstein, in dem sich - nicht zuletzt von den humanistischen Impulsen des Erasmus gespeist - eine bemerkenswerte historische Wende anbahnt. Konfessionelle Gegensätze wurden dadurch befriedet, dass sie als Gegensätze nebeneinander bestehen blieben, ohne der einen oder der anderen Seite den Sieg zuzusprechen. Die konfessionellen Gegensätze sind seitdem in theologischer Auseinandersetzung zu bewältigen. Krieg und Verwüstung dürfen in religiösen Konflikten nicht mehr benutzt werden. Respekt vor der Überzeugung der Anderen ist geboten, nicht die Nivellierung aller Überzeugungen. Über den Friedensschluss von 1648 ist gesagt worden, in ihm komme erstmals in der Geschichte der politischen Theorie der Gedanke zum Ausdruck, der Friede sei Grund, Merkmal und Norm des Politischen und aller Politik. In der Tat entsprach es der Logik des Westfälischen Friedens von Anfang an, eine Friedensordnung für ganz Europa ins Auge zu fassen. Der intendierte gesamteuropäische Friede sollte auf Verträgen beruhen, letztlich also auf das Recht gegründet werden. In der Völkerbundidee Immanuel Kants und sogar noch in der modernen Formel von der „Herrschaft des Rechts“ („rule of law“), klingen die friedensethischen und friedenspolitischen Grundeinsichten des Westfälischen Friedens nach. Die internationale Friedensordnung muss als Rechtsordnung begründet und gestärkt werden.
Nun hat der Krieg, wie wir in diesen Tagen wieder einmal erleben müssen, sehr unterschiedliche Gestalten, die allenfalls in dem Gesichtspunkt der Grausamkeit konvergieren. „Neue Kriege“ nennt Mary Kaldor die neuen Formen des irregulären Krieges, die das 21. Jahrhundert mehr als das Vergangene bestimmen und prägen werden. Bereits 1993/94 richtete die EKD ihre friedensethische Aufmerksamkeit darauf, dass in verschiedenen Regionen der Welt Konflikte, die mit der fehlenden Anerkennung der Ansprüche und Rechte von Minderheiten zusammenhängen und lange mit Zwangsmaßnahmen unterdrückt worden sind, verdeckt schwelen und jederzeit aufzuflammen drohen. Hinzu kommen auch Formen privater Kriegshandlungen, vor allem im Drogenmilieu und im Machtkampf von Banden, die den Charakter des Terrors annehmen. Die seither eingetretene Entwicklung hat diese Befürchtungen leider bestätigt. Derjenige Typ des Krieges, bei dem reguläre Armeen feindlicher Staaten gegeneinander kämpfen, hat in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts immer weiter an Bedeutung verloren. Statt dessen haben gewaltsame Konflikte innerhalb von Staaten ihrer Zahl, Dauer und Intensität nach stark zugenommen. „Die Decke der Zivilisierung des menschlichen Verhaltens ist“ – so haben es die Orientierungspunkte von 1994 formuliert – „dünner, als wir geglaubt haben. Unter ihr sind auch heute noch die Bereitschaft zu archaischer Gewaltanwendung und die Fähigkeit zu Grausamkeit und Brutalität latent vorhanden.“ So wenig freilich die Anschläge vom 11. September „Krieg“ genannt werden können und so klar es uns auch ist, dass Terror und Terrorismus sich nicht mit Krieg bekämpfen lassen, so wenig hat dies in der aktuellen Situation das Ausbrechen des Krieges in Afghanistan verhindern können.
Um diesen veränderten Formen kriegerischer Verbrechen zu begegnen, bedarf es eines internationalen Instrumentariums. Ein solches Instrumentarium war die 1998 erfolgte Verabschiedung des Statuts eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs. Dadurch sollen in Zukunft schwerste internationale Verbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und kriegerische Aggressionen) strafrechtlich verfolgt werden. Die Errichtung dieses Gerichtshofs ist das Signal dafür, dass bei derartigen Verbrechen künftig niemand mehr mit Straffreiheit rechnen kann. Das Recht der Staaten ist stärker als die Gewalt der Banden. Recht und Frieden gehören zusammen. Nur miteinander können sie gedeihen.

Frieden und Gerechtigkeit
Aber nicht nur das Recht gehört zum Frieden, mehr noch gehört die Gerechtigkeit zu ihm. Schon in der Bibel heißt es, Gerechtigkeit und Friede seien dazu bestimmt, einander zu küssen (Psalm 85, Vers 11). Frieden in Gerechtigkeit oder „Gerechter Friede“ ist darum das Ziel gegenwärtiger christlicher Friedensethik. Auch dieser Gedanke ist Erasmus vertraut. Denn so spricht die PAX:

„Kaum kann je ein Friede so ungerecht sein, dass er nicht besser wäre, als selbst der gerechteste Krieg. Erwäge vorher einzeln, was ein Krieg wohl fordert oder einbringt, und du magst erkennen, wie weit der Gewinn ginge ...
Arbeitest du auf den Krieg zu? Schau zuerst hin, wie der Friede beschaffen ist und wie der Krieg, was dieser an Gutem, was jener andererseits an Unheil herbeiführt; und so magst überlegen, ob es zuträglich sei, den Frieden mit dem Krieg zu vertauschen.“

Die EKD und andere christliche Kirchen in der Ökumene folgen den Ausführungen der „Querela Pacis“ des Erasmus, indem sie den Gedanken des gerechten Krieges friedensethisch überwinden. An seine Stelle ist das Paradigma vom gerechten Frieden getreten. In diesem Zusammenhang weise ich auf das Hirtenwort der deutschen römisch-katholischen Bischöfe vom 27. September 2000 hin, das unter dem Titel „Gerechter Friede“ veröffentlicht wurde. Auch wenn in Teilbereichen etwas andere Schwerpunkte als in „Schritte auf dem Weg des Friedens“ gesetzt werden, sind doch die jüngsten friedensethischen Äußerungen der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche Ausdruck einer gemeinsamen christlichen Friedensethik. Sie verstärken und ergänzen sich gegenseitig. Erasmus hätte sich vermutlich über diese ökumenische Entwicklung gefreut.

Der Friede als Ernstfall
Der personifizierte Friede des Erasmus stellt im Grunde genommen die Vorwegnahme der durch Gustav Heinemann zum geflügelten Wort gewordenen These dar, nicht der Krieg, sondern der Friede sei der Ernstfall.

Die Bewährungsprobe des politischen Handelns besteht darin, dass der Friede tatsächlich gewahrt, gefördert und erneuert wird. Nur was der Sicherung des Friedens dient, ist gelingende Politik. Der Friede ist niemals ein stabiler politischer Aggregatzustand, er ist vielmehr immer gefährdet und zerbrechlich. Er ist immer wieder von Gewalt und vom Krieg bedroht.

Der Mensch ist des Menschen Wolf. Militärische Fähigkeiten, das müssen wir uns daher nüchtern eingestehen, sind auch in Zukunft keineswegs entbehrlich. In dieser nicht erlösten Welt gehört auch die Androhung und Ausübung von Gewalt zu den Mitteln der Staaten, um für Recht und Frieden zu sorgen. Allerdings zeigt sich in der Gegenwart auch, dass die herkömmlichen militärischen Mittel nur sehr begrenzt einsatzfähig und wirksam sind und eine bewaffnete Gewalt anderer, neuer Qualität gebraucht wird. Das ist wohl auch gemeint, wenn von verschiedenen Seiten heute für den Einsatz polizeilicher statt militärischer Kräfte plädiert wird. Vor allem aber lässt sich am Verlauf der jüngsten Konflikte - von Nordirland über Israel/Palästina bis hin zum Balkan, und ich fürchte, auch Afghanistan wird diesen Trend bestätigen - auch ablesen, dass die Anwendung militärischer Gewalt bei der vorrangigen Aufgabe der Friedensförderung nur wenig weiterhilft. Allenfalls gewährt sie unter ihrem Schutzschild ein Moratorium, das zur Lösung der Konflikte genutzt werden kann. Die derzeitige Reaktion eines großen Teils der muslimischen Bevölkerung zeigt, wie militärische Schläge auch destabilisierend wirken - vor allem auch deshalb, weil die von Westen benötigten Kombattanten zu Teilen selber mit Menschenrechten nicht zimperlich umgehen, gar zu denen gehören, die man die Schurkenmächte nennt.

In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, mehr Klarheit darüber zu gewinnen, in welchen Zusammenhängen welche Mittel zur Konfliktbearbeitung und Konfliktüberwindung angemessen und wirkungsvoll sind. Besondere Hoffnungen und Erwartungen richten sich dabei auf die immer noch im Aufbau befindlichen zivilen christlichen Friedensdienste, die im Raum der EKD unter dem Dach der „Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden“ zusammengeschlossen sind. In ihren vielfältigen Gestalten als Friedensfachdienste, soziale Lern-, regionale Friedens- und internationale Freiwilligendienste setzen sie wichtige Zeichen im Prozess der Förderung, Wahrung und Erneuerung des Friedens.

Den Frieden vorbereiten
"Wer den Frieden will, bereite den Krieg vor!" So lautet ein altes lateinisches Sprichwort. Wir müssen heute dagegen Friedensprozesse vorbereiten und organisieren. Daran ist die Politik immer wieder zu erinnern. Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten! Dazu ruft die Klage der PAX uns Christen auf. Den Frieden vorbereiten aber kann nur, wer ihn von Herzen will und wünscht. Dies hat bereits die PAX erkannt, die hier noch ein letztes Mal zu Wort kommen soll:

„Ein Großteil des Friedens besteht schließlich darin, den Frieden von Herzen zu wollen. Denen nämlich der Friede echt am Herzen liegt, die werden alle Friedensgelegenheiten nutzen. Über Hindernisse setzen sie sich entweder hinweg oder beseitigen sie und erdulden sehr viel, damit ein so teures Gut unversehrt bleibe.“

Die PAX hat gesprochen. Möge sie Gehör finden und das letzte Wort behalten!