Gottesdienst am 12. Sonntag nach Trinitatis in der Evangelischen Kirche von Lohfelden-Ochshausen
Bischof Martin Hein, Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
Predigttext: Jesaja 29,17-21
17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.
18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;
19 und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten,
21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.
Auf den Tag genau zehn Jahre ist es her, liebe Schwestern und Brüder, dass die Nachricht von den Flugzeugattentaten auf die Türme des World Trade Centers in New York und auf das Pentagon in Washington um die Welt ging. Erst allmählich wurden im Lauf des Nachmittags das ganze Ausmaß und die Reichweite dieser terroristischen Angriffe deutlich. Anfangs schien es sich um ein kaum vorstellbares Unglück, vielleicht sogar um einen Pilotenfehler zu handeln, ehe langsam deutlich wurde, dass es sich um einen planmäßig vorbereiteten Anschlag islamistischer Terroristen gegen die Weltmacht USA handelte, die mitten ins Herz getroffen werden sollte.
Die meisten von uns werden daran noch eigene lebhafte Erinnerungen haben. Ich selber befand mich nachmittags im Auto auf der Fahrt nach Erfurt, wo in einem Gottesdienst im Augustinerkloster das zehnjährige Jubiläum des Evangelischen Verbindungsbüros zu Thüringer Landtag und Landesregierung gefeiert werden sollte. Die Meldungen im Radio überstürzten sich. In Erfurt angekommen, stand allen das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Die Mitglieder der Landesregierung, die ursprünglich ihr Erscheinen zugesagt hatten, waren längst wieder zu eilig einberufenen Dringlichkeitssitzungen abgefahren. An Feiern war überhaupt nicht mehr zu denken. Aber es war uns klar: Mitten in aller aufkommenden Hektik und immer stärker werdenden Ratlosigkeit musste es eine Möglichkeit geben, unserer ganzen Hilflosigkeit und Angst Raum geben zu können. So luden wir kurzerhand die wenigen verbliebenen Menschen zu einer Gebetsandacht in die Augustinerkirche ein: Wir hörten Worte der Verheißung aus der Bibel und sprachen – sprachlos, wie wir waren – gemeinsam das Vaterunser: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel“, um dann in das Bekenntnis einzumünden, das uns in jenen Augenblicken allein Trost und Hoffnung geben konnte: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Stumm brachen wir auf, fuhren zurück. Den verbleibenden Abend habe ich nur noch die Bilder im Fernsehen verfolgt. Sie haben sich tief eingeprägt, haben sich eingebrannt. In der vergangenen Woche sind sie oft genug, fast bis zum Überdruss, wiederholt worden und haben die schrecklichen Ereignisse des 11. September 2011 wieder aufleben lassen. „Nine Eleven“, wie die Amerikaner sagen, hat die Welt verändert.
Seither sind allüberall die Sicherheitsvorkehrungen erheblich verstärkt worden, weil die Angst vor erneuten Anschlägen das gesamte Denken bestimmt. Unberechtigt ist sie keineswegs, wie die späteren Attentate in Madrid und London gezeigt haben. Und mit der Angst vor dem weltweit vernetzten Al-Qaida-Terrorismus hat sich bei uns auch eine geheime Angst vor dem Islam eingeschlichen, der scheinbar vor gar nichts, auch nicht vor exzessiver Gewalt zurückschreckt. Die unbefangene Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen ist seither erheblich erschwert geworden. Misstrauen und Verdacht belasten die Beziehungen untereinander und sind bei vielen das beherrschende Gefühl. Auch dies haben die Terroristen vor zehn Jahren bewusst in Kauf genommen.
Die USA haben ihrerseits auf die Attentate mit zwei Kriegen reagiert: im Irak und in Afghanistan, ohne dass ein militärischer Erfolg oder gar eine politische Lösung absehbar wären. Zu den 3000 Opfern in den Türmen von New York und in den vier Flugzeugen sind rund 6000 gefallene amerikanische Soldaten hinzugekommen. All das beschreibt eine bittere Bilanz von Gewalt und Gegengewalt. Ist das wirklich der richtige Weg?
Ich bin mir an einem Tag wie heute bewusst, liebe Gemeinde, dass es auf die vielfältigen Herausforderungen, vor denen demokratische Gesellschaften angesichts ihrer Verletzbarkeit durch den Terrorismus stehen, keine einfachen Antworten geben kann. Und die Kirche macht auch nicht die bessere Politik! Aber sie will mit der ihr aufgetragenen Botschaft von Gottes Herrschaft dazu beitragen, dass die Politik ihrerseits besser wird und aus den Sackgassen der Gewaltspirale herauskommt. Weil das so ist, müssen wir als Christen fragen, ob es eine Alternative zu all den Szenarien gibt, die ansonsten das politische Denken und Handeln bestimmen und die allzu sehr Stärke und Abschreckung setzen.
Wir haben zu Beginn die Worte des Propheten Jesaja gehört, die von einer großen, alles verändernden Wandlung sprechen: Die Höhenzüge des Libanon, bis heute umkämpftes Gebiet, sollen fruchtbares Land werden, Taube sollen hören, Blinde sehen können, Armen soll nicht mehr zum Klagen, sondern zum Lachen zumute sein, weil ihre hoffnungslose Lage überwunden ist. Und warum das alles? Weil es ein Ende hat mit Tyrannen und Despoten, mit Ungerechtigkeit und Lüge, mit Terror und Angst. Um solche Perspektiven geht es bei uns wie in der Gemeinschaft der Völker! Frieden, das Ausbrechen aus lähmenden Verkrustungen und Behinderungen, die Herstellung von Verhältnissen, die jedem Menschen die Chance zu einem Leben in Würde geben – all das ist möglich, sagt Jesaja.
Ja, ich weiß es auch: Das klingt höchst fern von der Wirklichkeit, wie sie uns umgibt oder wie wir sie täglich aus den Medien erfahren. Ist der Prophet Jesaja mit seiner Verheißung, die weit über zweieinhalb Jahrtausende alt ist, bloß ein Träumer oder ein Spinner? Wie kommt er eigentlich dazu, mitten in seiner Welt, die ebenso wie die unsere von Macht und Gewalt und von Angst und Sicherheitsdenken bestimmt war, von friedlichen Zuständen zu reden, die für alle gelten?
Die Antwort heißt: Weil es nicht seine eigenen Worte sind, liebe Gemeinde, sondern weil es Gottes Verheißung ist. Und wo Gott redet, da ist nichts wirklichkeitsfern, sondern da wird es sehr, sehr realistisch. Weil Gott die große Veränderung unserer Welt zum Guten will, darum ist sie tatsächlich möglich. Und wenn sie noch immer nicht eingetreten ist, dann hat das mit uns zu tun: mit unserer Abkehr von Gott, mit unserem Unglauben, mit unserer Sünde, die lieber auf eigene Durchsetzungsfähigkeit und Macht setzt als mit Gottes Wirken in dieser Welt zu rechnen und sich ihm zu öffnen. Gott will Frieden zwischen Völkern und Nationen, Gott will gerechte Lebensverhältnisse, die jedem Terror den Nährboden entziehen, Gott will – wie es wenig später bei Jesaja heißt -, dass wir Verstand annehmen. Er will nichts Geringeres als unser Vertrauen: „Ich bin der Herr, dein Gott.“ Was ist das?, fragte Martin Luther im Kleinen Katechismus und gab die Antwort: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“
Dazu lädt Gott uns ein: dass wir uns auf ihn verlassen und bereit werden, nach seinem Willen zu handeln. Zweierlei folgt daraus an diesem Tag des Gedenkens an all das Leid, der der 11. September bewirkt hat: Wir dürfen nicht dem Wahn Glauben schenken, als würden sich die Probleme dieser Welt mit Gewalt lösen lassen. Das gilt es auch all jenen zu sagen, die – angeblich durch ihre Religion dazu legitimiert – zum Mittel des Terrors greifen und damit das Leben unschuldiger Menschen aufs Spiel setzen. Die Zerstörung der „Twin Towers“ in New York hat die Welt nicht lebenswerter gemacht – im Gegenteil! Aber zugleich hat diese Haltung zur Folge, sich auch nicht dauernd auf eine mögliche Gefahr zu fixieren, die vom Terror ausgehen könnte, und dadurch die eigene Freiheit einzuschränken. Wir werden sonst, ehe wir uns versehen, zu Gefangenen der perversen Logik, aus der heraus Terroristen aller Couleur stets handeln: dass sie mit ihren Taten das erst erzeugen, was sie angeblich bekämpfen wollen.
Eine offene, demokratische Gesellschaft braucht mehr als Wehrhaftigkeit: Sie braucht Wahrhaftigkeit! Und sie braucht Orientierung in dem, was sie zusammenhält. Unser Auftrag wie unser Beitrag als Christen besteht darin, durch unseren Glauben und durch unser Tun Gottes Liebe und Treue zu bezeugen. Die Kirche „erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortlichkeit der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.“ So hieß es 1934 in der Barmer Theologischen Erklärung, einem wichtigen Dokument unserer Kirche unter dem Nationalsozialismus (These V). An uns Christen kann erkennbar und glaubhaft werden, dass Religion nicht zum Fanatismus, sondern zum Frieden und zu einem gerechten Zusammenleben hilft. Allen Einwänden zum Trotz reden wir von Gott als dem Grund unseres Lebens. Das verleiht uns Mut und Gelassenheit zugleich im Blick auf mögliche Bedrohungen unseres Lebens.
Den Blickwickel wechseln, weg von der Gewalt gegeneinander und der Angst voreinander – hin zu Gott, der uns in Christus zu einem neuen Leben befreit: Darin liegt das geheime Vermächtnis auch dieses Tages, des 11. Septembers. Wenn wir unser Vertrauen allein auf Gott setzen, ändert sich unsere Welt und kann zur Heimat aller werden. Dafür steht Gott selber ein. Und das haben wir heute zu sagen!
Amen.