Predigt über Jesaja 9, 1-6 zur Christvesper am Heiligabend 2011 in der Johanneskirche zu Düsseldorf

Präses Nikolaus Schneider

Liebe Gemeinde!

Unser Glaube will vernünftig zur Sprache gebracht werden. Unser Glaube geht aber nicht in Vernunft auf – er ist mehr als reine Vernunft, eigentlich etwas völlig anderes. Logisches Denken und Reden gehören zu unserem Glauben, aber: Anders als unser logisches Verstehen vermag unser Glaube auch solche Botschaften und Erkenntnisse zusammenzuhalten, die eigentlich gar nicht zusammenpassen: den Himmel Gottes und die Erde der Menschen, das „Schon“ und das „Noch-Nicht“ des Gottesreiches auf Erden oder die Erfüllung und die Erwartung der großen Friedensverheißungen Gottes. Ja, christlicher Glaube lebt geradezu von diesem Zusammenhalten des Himmlischen und des Irdischen.

Und der christliche Glaube gewinnt seine ganz besondere Kraft aus dem Zusammenklang der alten Verheißungen der Hebräischen Bibel, ihrer uns im Evangelium bezeugten Erfüllung in Jesus Christus verbunden mit der ganz persönlichen Hoffnung und Erwartung: Gott will und wird seine Verheißungen und sein Evangelium auch für unser Leben, für unsere Gegenwart und Zukunft, erfüllen und „wahr“ machen.

Hören wir deshalb für diesen Gottesdienst die Worte unseres Predigttextes - die Worte einer alten Verheißung des Propheten Jesaja – im Zusammenklang mit der Botschaft von der Geburt Christi. Und verbinden wir diese Worte mit unseren eigenen Erwartungen und Sehnsüchten nach heute erfahrbarer Gottesnähe, nach Wundern und Rat für unser Leben, nach Frieden, nach Recht und Gerechtigkeit in unserer Welt.

Lesung des Predigttextes Jesaja 9, 1-6 im Zusammenklang mit Evangeliumstexten von der Geburt Christi

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande,
scheint es hell. (Jesaja 9,1)

Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat's nicht ergriffen. (Johannes 1,5)

Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. (Jesaja9,2)

Fürchtet euch nicht!
Siehe, ich verkündige euch große Freude,
die allem Volk widerfahren wird! (Lukas 2,10b)

Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. (Jesaja 9, 3f)

Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut,
die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen. (Lukas 1,51f)

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter.
Und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; (Jesaja 9,5)

Denn euch ist heute der Heiland geboren,
welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt David.
Und das habt zum Zeichen:
Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt
und in einer Krippe liegen. (Lukas 2,11f)

Auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende
auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth. (Jesaja 9,6)

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden
bei den Menschen seines Wohlgefallens. (Lukas 2,14)

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande,
scheint es hell. (Jesaja 9,1)

Lasst uns nun gehen nach Bethlehem
und die Geschichte sehen, die da geschehen ist,
die uns der HERR kundgetan hat. (Lukas 2,15b)

Wir Heutigen, liebe Gemeinde, wir finden unser „Bethlehem“ in der Begegnung mit dem Wort Gottes, im Hören und Bedenken der Worte der Heiligen Schrift. Darum lasst uns den Verheißungen und der Geschichte nach-denken, „die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat.“

„Das Volk, das im Finstern wandelt sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“, so hat es der Prophet Jesaja vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden dem Gottesvolk Israel zugesagt.

„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“, so haben es vor 2000 Jahren Gottes Engel für alle Menschen und alle Völker den Hirten in Bethlehem verkündet.

Aber noch immer – und immer wieder neu – erleben und fühlen wir Dunkelheiten in unserem Leben und in unserer Welt. Und noch immer – und immer wieder neu – sehnen wir uns nach dem großen Licht, das diese Dunkelheit durchbricht. Diese Sehnsucht verdichtet sich heute gleichsam im Zugehen auf die Heilige Nacht: Diese eine Nacht soll anders sein als unsere anderen Nächte.

Unsere Sehnsucht „sucht“ alljährlich in ihr andere Geräusche und Töne, andere Musik, andere Worte und Bilder, andere Gerüche und andere Gefühle als üblich. Diese eine Nacht soll uns „heilig“ sein – nicht alltäglich – und soll uns eben darin Kraft und Erleuchtung schenken für die alltäglichen Dunkelheiten.

Unsere manchmal verschüttete und manchmal auch recht diffuse Weihnachtssehnsucht sucht nach einem heilsamen Zusammenklang von himmlischer Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit Gottes mit unserem oft recht heillosen Erdenleben.

Heillose Verhältnisse, liebe Gemeinde, gab es zu allen Zeiten. Krieg und Zerstörung, das Ende staatlicher Macht, bittere Zeiten im Exil und ein verzweifeltes Fragen nach Gottes Gegenwart und Beistand stehen als Erfahrungen Israels im Hintergrund der alten Verheißung des Propheten Jesaja. Realistisch war sein Reden, gegen alle Verblendungen und Anmaßungen seiner Zeit. Gegen die Magie des Tempelkultes ist er aufgestanden und hat bestritten, dass der Kult die Nähe Gottes garantiert. Gott kann sich auch abwenden und sich verbergen, diese Wahrheit musste er seiner Hörerschaft zumuten.

„Unheil“ aber ist für diesen Propheten nicht das letzte Wort. Das letzte Wort behält Gott, der sich vor seinem Volk und vor seinen Menschen nicht für immer verbirgt. „Das Volk, das im Finstern wandelt sieht ein großes Licht!“ Der Weg durch Not und Tod, durch Krieg und Gewalt, durch gefühlte Gottesferne und Glaubenszweifel bekommt durch das große Licht neue Hoffnung, neue Ausrichtung und neues Gottvertrauen.

Schon für den Propheten Jesaja war das „große Licht“ mehr und anderes als ein abstrakter Gedanke oder ein symbolisches Bild. Schon Jesaja verbindet das „große Licht“ mit einer Person, mit einem neuen Herrscher auf dem Thron Davids: „Denn uns ist ein Kind geboren“. Mit der von Gott angekündigten Geburt eines Friedensfürsten wird sich nicht nur ein Herrscherwechsel vollziehen, sondern auch ein Wechsel in der Art der Herrschaft.

Herrschaft lastete bislang wie ein „drückendes Joch“ auf den Schultern des Volkes und wie mit einem „Treiberstecken“ wurden sie zu Zwangsarbeit angetrieben. Die Herrschaft des neuen Königs sollen sie als menschenfreundlich erfahren. Umfassender Friede, Recht und Gerechtigkeit für alle Zeit zeichnen die neue Herrschaft, die messianische Ära aus. „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“ sollen die Namen des Kindes sein. Und Namen sind nach biblischem Verständnis mehr und anderes als „Schall und Rauch“. Ein Name hat eine Wirkmächtigkeit in sich, die sich entfaltet, sobald dieser Name ausgesprochen wird.

Im Vertrauen, dass Gott selbst in diesem Kind und durch dieses Kind in den Dunkelheiten dieser Erde wirken wird, ist die absolute Macht der Dunkelheit schon gebrochen. Im Vertrauen auf das Licht dieses Kindes erfahren Menschen wunderbaren Rat in ausweglos erscheinenden Lebenskrisen, erleben Menschen Gott als ihren Retter in höchster Not, verzweifeln Menschen nicht an der Vergänglichkeit alles Irdischen, widerstehen Menschen dem Unrecht und der Gewalt.

Die ersten Christinnen und Christen haben sich in ihrer Deutung der Christusgeburt durch die Propheten inspirieren lassen. So klingen in allen Weihnachtserzählungen der Evangelien die Verheißungen der Propheten mit – auch die Verheißung des heutigen Predigttextes. Das „große Licht“ wurde der jungen Kirche zu einer Christusmetapher: In Jesus Christus scheint das himmlische Licht in alle Dunkelheit dieser Welt. Im Licht Jesu Christi wird Gott selbst für alles Volk und alle Menschen erkennbar und erfahrbar.

In Jesus Christus bindet Gott zusammen, was eigentlich gar nicht zusammenpasst:

  • Gott und Mensch,
  • Herrschaft und Liebe,
  • Macht und stellvertretendes Leiden,
  • Himmel und Erde!

„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“, diese Engelbotschaft der Heiligen Nacht vor mehr als zwei Jahrtausenden gilt uns auch heute!

Sie ist und bleibt wahr, auch wenn die Heilige Nacht damals das Leben und die Welt der Menschen nicht von aller Dunkelheit befreit hat.

Noch immer hören wir so manche Stiefel „mit Gedröhn“ dahergehen – Stiefel von gewalttätigen Söldnern, von Schergen der Unrechtsregime und Stiefel von verblendeten Rechtsradikalen. Noch immer werden „Mäntel durch Blut geschleift“ – auch in diesen Weihnachtstagen. Wir denken an Afghanistan, Syrien, Somalia und den Kongo.

Jesus Christus hat uns Menschen nicht das Ende aller Dunkelheiten versprochen, sondern hat mit seinem Leben, Sterben und Auferstehen bezeugt: Gott lässt Menschen nicht allein in den Dunkelheiten ihres Lebens, auch nicht in der Dunkelheit des Todes. Gott schenkt uns Vergebung und den Frieden mit ihm, so dass wir - in seiner Nähe und Liebe geborgen - für Frieden, Recht und Gerechtigkeit auf unserer Welt eintreten können. Dieses Weihnachtslicht erschließt sich in dieser Welt nur in dem Zusammenklang von Krippe und Kreuz. In diesem Zusammenklang aber vermag dieses Licht alle Dunkelheiten dieser Welt zu erhellen.

In seiner Weihnachtspredigt über den heutigen Predigttext hatte Martin Luther den beim Propheten Jesaja offenbarten vier Namen des Gottes-Kindes einen fünften Namen aus der Engelbotschaft des Lukasevangeliums hinzugefügt: „Große Freude“. Große Freude soll heute und an allen Tagen unsere Herzen bewegen. Große Freude über das Licht, das in Jesus Christus auf die Erde gekommen ist. Große Freude über das Licht, das Gottes Wort immer wieder neu in unseren Dunkelheiten erstrahlen lässt – auch heute Abend.

Gottes Wort hält auch heute für unseren Glauben, für unser Leben und für unsere Welt zusammen, was unsere logische Vernunft nicht zusammenbringen kann: den Himmel Gottes und die Erde der Menschen, das „Schon“ und das „Noch-Nicht“ des Gottesreiches auf Erden, die Erfüllung und die Erwartung der großen Friedensverheißungen Gottes.

In dieser Gewissheit lasst uns singen: „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich, in seinem höchsten Thron, der heut schließt auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn.“

Gesegnete Weihnachten!

Amen