Andacht anlässlich der Sitzung der Kammer für öffentliche Verantwortung, Römerbrief 14, 7-9

Prälat Dr. Bernhard Felmberg

Wohnst du noch oder lebst du schon?

Diesen Werbeslogan eines bekannten schwedischen Möbelhauses kennt fast jeder.

Die Frage enthält viele Botschaften.

Eine davon lautet: „Wohnen“, das ist etwas Biederes und Veraltetes, etwas, das nicht erstrebenswert ist. Wohnen klingt in dieser Frage fast wie Tot sein mitten im Leben. Wohnen fühlt sich wie Kerker, Zelle oder Knast an. Wohnlich will es demnach nur der haben, der zur „Couchpotatoe“ neigt. Wer wohnt, bleibt drin! Wer wohnt, verpasst die Welt, das Leben. Das findet sich draußen, weit weg. Die Aufforderung lautet: Hol das Leben zu dir, rein in deine vier Wände.

Dieses „Leben“ – inmitten der richtigen Möbel, versteht sich - ist modern, aufregend, abwechslungsreich. Wer lebt, der ist beweglich und erfüllt von den bunten Farben, die das Leben einem bietet.

Lebst du schon?

„Was für eine Frage!“, hätten wir vielleicht in jungen Jahren geantwortet. „Na klar und wie! Fühle meinen Puls und Du wirst sehen wie ich lebe.“ Jung zu sein, heißt neue Räume zu erobern, Leben zu erfahren, Neues zu entdecken und Normales schnell als alt abzutun. Das Leben heißt Wachstum in dieser Phase – scheinbar unendlich, unzerstörbar, leuchtend und klar. Jeder Tag gebiert neue Erfahrungen und Lust auf Unbekanntes.

Doch wenn das Leben voranschreitet, die Jugendlichkeit so langsam entschwindet und die Zeit naht, dass man es sich beim Blick in den Spiegel schließlich doch selbst eingestehen muss, dann hat die Himmelsstürmerei zu einer Flughöhe geführt, die das Zeichen: „Fasten seat belts“ verschwinden lässt. Die dadurch erlaubte Bewegungsfreiheit ermöglicht nun, dass man mehr sieht als sich selbst und den nächsten Karriereschritt.

Und in dieser Situation erwischt man sich bei der Frage:

Lebst Du? Lebst Du noch? Wie lebst Du? Bist Du mit Deinem Leben zufrieden? Wie gehst Du um mit den Höhen und Tiefen der zurück gelegten Jahre? Was tut Dir gut, was schadet Dir? Was gibt dir Halt?

In diese Fragen mischt sich die Einsicht, dass nicht allein das Leben mit seinen Sonnenseiten in den letzten Jahren, sondern auch das Erleben der kleinen und großen Tiefen das Leben bestimmt hat. Abschiede zum Beispiel, die sich am Wegesrand quasi „by the way“ einstellten. Manches Mal fast unbemerkt und hingenommen, andere Male mit unterdrückten oder echten Tränen begleitet.

Menschen, die Strecken unseres Lebens wichtig waren, gehen aus demselben. Beziehungen gehen in die Brüche, obwohl doch Ganzheitlichkeit und Heilsamkeit durch sie erwartet wurde. Hoffnungen, die einem ein erfülltes Herz bescherten, wurden jäh enttäuscht. Sie alle kennen viele weitere Beispiele solcher schmerzhaften Erfahrungen, die uns das Leben im wahrsten Sinne des Wortes manchmal schwer machen.

Auch die eigene Fitness weicht so mancher neuer Erfahrung körperlicher Grenzen. Das Wissen um Wunden und sich enger um uns ziehender Grenzen machen sich breit. In all dem zeigt sich der Tod. Er wirft seine Schatten voraus.

Die Sehnsucht, im Leben und im Sterben gehalten zu sein, lässt uns einsehen, dass wir uns diesen existenziellen Halt nicht selbst schenken können. Die Überwindung der Grenzen im Leben und das Überleben selbst im Sterben kennen nur einen zuverlässigen Grund:

„Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“ Röm 14,8-9

Diese Sätze sind von der Weisheit durchzogen, dass wir unser Leben weder im Erfolg noch in den Niederlagen, weder in den weiten noch in den engen Phasen unseres Lebens in der Hand haben. Ja viel mehr noch, im Leben und im Sterben ist unser Leben umfangen von Gott. Er hält es in der Hand. Durch seine Auferstehung hat er die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben. Das Ganze von Ewigkeit zu Ewigkeit gehört ihm und gilt ihm - und mich mit meinem Denken und Fühlen, mit meiner Kraft und Schwäche, ja in meinem Tod umfängt er. Er schenkt mir bei sich die Grenzenlosigkeit, die ich in der Enge des Alltags, in der Angst vor dem Ende kaum glauben kann. 

Wer in der Lage ist, die Grenze zwischen Leben und Tod aufzuheben, der gibt denen, die an diese Grenzöffnung glauben eine ungehörige, ja überwältigende Zuversicht. Es ist die Zuversicht, dass keine noch so hoch gebaute Mauer, kein noch so scharfer Stacheldraht uns auf Dauer von dem abhalten kann, was Leben heißt.

Gerade an diesem 9. November, der in der Geschichte unseres Landes mit so vielen Bedeutungen aufgeladen ist, zeigt sich auch, dass das Leben derer, die den Mut der Grenzenlosigkeit in sich tragen, immer wieder das Saatgut für andere ist, aus der jeweils eigenen Angst des Gehorsams und der Anpassung auszubrechen.

Wer einmal in der Nähe eines Menschen stand, der sein Leben in der Gewissheit lebt, dass Gott ein für alle Mal die Grenzen des Todes niedergedrückt hat, der kann nachvollziehen, welch ansteckende und befreiende Kraft ein solcher Glaube für das Leben bewirkt.

Und so ist ein Leben in Gott und auf Gott hin nie eines, das allein bei sich bleibt. Es ist eines, das sich für andere einsetzt und für andere wirkt. Der Fall der Berliner Mauer ist nicht von heute auf morgen vom Himmel gefallen. Vielmehr hat der Himmel die Erde bewegt. Der Glaube an den Auferstanden hat seinen Ort in Friedensgebeten gefunden. Diese Gebete haben die Menschen gestärkt und Gott berührt. Und sie haben dazu geführt, dass der Mut zur Tat gefunden wurde, wie es einst Jochen Klepper formulierte: Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat, und was der Hände Beter tun, geschieht nach seinem Rat.“ 

Solches ist möglich, weil Gott über unsere Zugehörigkeit zu ihm selbst ein für alle Mal entschieden hat. Wir sind sein! Wir selbst brauchen uns die Ewigkeit nicht mehr verdienen. Nicht derjenige, der selbst schreibt, der bleibt, sondern der, den er als sein Kind beschreibt, hat das Leben in Fülle. Dieses Bewusstsein macht frei. Es gibt die Kraft, in jeder Lebensphase auch loszulassen, was nicht mehr zu halten ist.

Und so lassen wir im Laufe unseres Lebens Menschen los im Vertrauen darauf, dass die Beziehungen, die wir als zu Gott Gehörende leben, nicht abbrechen.

Wir lassen im Laufe unseres Berufslebens Aufgaben los im Vertrauen darauf, dass alles, was wir als zu Gott Gehörende getan haben, nicht vergebens gewesen ist.

Wir halten nicht um jeden Preis an einer Meinung fest, denn das, was wir als zu Gott Gehörende gesagt haben, ist nicht ungehört verhallt.

Und am Ende unseres Lebens lassen wir unseren Körper los, im Vertrauen darauf, dass alles, was uns als Menschen ausgezeichnet hat, bei ihm gut aufgehoben ist.

Wohnst du noch oder lebst du schon?

Wenn Gott in mir Wohnung genommen hat, dann lebe ich. Ich lebe, egal auf welchem Stuhl ich sitze und welche Farbe meine Wände haben, denn mir ist zugesagt, dass ich am Tisch des Herrn sitzen darf. Und allein auf dieses Möbelstück kommt es mir an.

Amen.