Predigt am Buß- und Bettag, Kirche in Herrenhausen

Thies Gundlach

Gnade sei mit uns und Friede von Gott …

Liebe Gemeinde,

in den 90ger Jahren habe ich relativ viel mit Hollywoodfilmen gearbeitet; einer dieser Filmgottesdienste ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben; der Film "Dead Man walking" 1995 von Tim Robbins mit Susan Sarandon und Jean Penn inszeniert. Auf der ersten Ebene eine kritische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Todesstrafe, aber darein verwoben geht es um die Frage nach Schuld und Buße angesichts von Tod und Sterben. Der verurteilte Mörder und Vergewaltiger Poncelet sitzt in der Todeszelle und kämpft verzweifelt - nicht um sein Leben, dafür ist es zu spät, aber um seine Seele! Ich kenne viele Menschen, die kämpfen verzweifelt um ihren Erfolg, verzweifelt um ihre Anerkennung, um ihre Beachtung! Aber was es heißt, verzweifelt um seine Seele kämpfen zu müssen, das zeigt dieser Film. Er entfaltet  vor einem Millionenpublikum, dass Sterben und Sterben zweierlei sind, obwohl beides mit dem Tod endet! Denn hinter all den Schmerzen und der Angst vor körperlichen Leiden, hinter der Verzweiflung angesichts des endgültigen Abschiedes von der Familie, von den Freunden, von der eigenen Geschichte und der eigenen Zukunft, hinter all diesen Dimensionen zeigt der Film noch eine zweite, noch eine andere Schicht. Der Film erinnert daran, dass in, mit und unter allem Leid des physischen Sterbens noch eine Aufgabe liegt, die wir auch bestehen müssen. Es ist der Zugang zu uns selbst, zu unserer ganzen Wahrheit, es ist die Einsicht in unsere Schuld. Der Film zeigt die uralte Glaubenseinsicht, dass es Umkehr und Erlösung gibt, obwohl das Ende da ist! Natürlich, in der Regel handelt es sich bei uns normalen Menschen nicht um Mordtaten, der Todeskandidat Poncelet im Film ist ein extrem böser Mensch, er hat Furchtbares getan und darin ist er ein Extrem, eben eine dramatische Hollywood-Figur. Aber in dieser dramatischen Verdichtung zeigt der Film, was in uns Menschen angelegt und möglich ist. De entscheidende Szene des Films geht etwa so:

"Reden wir über diese Nacht", sagt Susan Sarandon als Schwester Helen durchs Sicherheitsfenster, auf dessen anderer Seite Sean Penn als Todeskandidat Poncelet sitzt. Schwester Helen kämpft gegen die Todesstrafe in den USA und für die Seele dieses Mörders. "Reden wir über dich und deine Wahrheit".

Poncelet reagiert auf dieses Ansinnen, wie vermutlich alle schuldbewussten Menschen reagieren: Er weigert sich! Er will nicht darüber reden! Und er ist einfallsreich bei seinen Versuchen, nicht hinschauen zu müssen: Erst weigert er sich stur, dann wird er aggressiv und bestreitet seine Taten, dann klagt er die anderen an, die Schuld hätten, er sei Opfer, er können gar nichts dafür. Die Angst vor der eigenen Schuld wendet sich als Aggression nach außen: Die anderen haben Schuld, sowohl die Opfer, - was machen die auch nachts auf diesem Grundstück? – als auch der Kumpel – der hat mich doch verführt – als auch die eigene Mutter - sie hat mir doch immer gesagt: Das warst nicht Du!  Und sogar die Eltern der Opfer haben Schuld, die wollen ihn ja nur sterben sehen. Kurz: Alle, alle anderen haben Schuld, nur ich nicht! Dieses Muster kennen wir vermutlich alle, zuerst natürlich von den anderen, dann aber eben auch von uns selbst, jedenfalls wenn wir ehrlich genug mit uns selbst sind.

Aber die Zeit läuft, die Uhr tickt, der Hinrichtungszeitpunkt rückt unveränderlich näher, und Poncelet kämpft um seine Seele. Und es ist ein echter Kampf, weil es um wirkliche Schuld geht, um eine tiefe, unversöhnte Schuld. Und weil es so ist, ist das Eingeständnis der Schuld auch keine Frage seines Wollens, seines Mutes, seines Heldentums vor sich selbst, sondern eine Frage der Angst. Das Gegenteil von Wahrheit ist nicht Lüge, sondern Angst, - Angst vor sich selbst und seiner Schuld. Das gibt es ja auch im kleineren, alltäglichen Format: Es gibt auch in meinem, deinem, unserem Leben Dimensionen, die kann man kaum je angucken, weil sie so dunkel und mir selbst fremd sind. Dann brechen plötzlich alle Selbstdefinitionen und alle Selbstbilder weg, da ist dann einfach nichts mehr hell und gut anzusehen, sondern häßlich und berechnend, gierig und neidisch, eingebildet und größenwahnsinnig. Das Verdrängen, das Weggucken, das Verleugnen ist in dieser existentiellen Tiefe keine Frage des guten Willens oder der teuren Therapie, weil wir uns im Nahbereich des Bösen bewegen, dessen wichtigste Kunst es ist, sich unsichtbar machen zu können. Es gibt diese dunklen Schatten über meinem rechten Herz, den die Alten Sünde genannt haben, und die gibt es auch dann, wenn es nicht um Mord und Vergewaltigung geht, sondern um Mobbing, Neid und Missgunst.

Deswegen aber glaube ich nicht, dass das Böse nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit sei, nur der guten Erziehung und der finanzierbaren Therapien. Es geht bei diesen Schatten in uns nicht um Harmlosigkeiten, nicht um diesen oder jenen Fehler, diese oder jene Schwäche, diese oder jene Ecke und Kante. Es geht um eine Wucht der Sünde, von der die Alten schon immer gesagt haben, dass man sie nicht tief genug bedenken kann: „Du hast noch nicht bedacht, wie schwer die Sünde wiegt“, sagt der mittelalterliche Theologie Amseln von Canterbury und entwirft deswegen seine sog. Satisfaktionstheorie. Denn niemand kann das Böse durch Arbeit oder Mühe, durch Anstrengung oder guten Willen überwinden; weswegen auch dieser schlichte, aber tiefe Grundsatz zutrifft, den Martin Walser jüngst in seinem kleinen Büchlein über die Rechtfertigung wieder erinnert hat: Wo es keine Rechtfertigung des Sünders gibt, gibt es nur noch Rechthaben!

Der Film „Dead men walking“ hält dieses biblische Tiefenniveau, weil er an der entscheidenden Stelle des Filmes eine Schwester Helen zeigt, die immer wieder  scheitert bei ihren Versuchen, Poncelet zum Eingeständnis seiner Schuld zu bewegen. Aber was macht sie dann? Sie rennt nicht zum Therapeuten, auch nicht zum Sozialarbeiter, sondern sie betet, sie schreit nach Gott, sie schreit nach Gottes erlösender Gegenwart, seiner Kraft, Stärke und Nähe. Das Böse, das Dunkle, die Schuld sind Dimensionen eines Jenseits, die größer sind als unser Tun und Lassen, und deswegen müssen auch die Gegenkräfte größer als wir selbst, sie müssen aus dem Himmel herabgerufen werden. Wenn es um das Böse, wenn es um wirkliche Schuld geht, dann kann nur Gott selbst helfen! Und weil dies so ist, deswegen kann Schwester Helen im Film diesen einen wunderbaren Satz sagen, der die Mitte des ganzen Filmes ist und der Grund, warum er gottesdiensttauglich ist:

"Es gibt einen Kummer, der so tief ist, das nur Gott an ihm rühren kann". Es gibt eine Schuld, die so unfassbar ist, dass nur Gott sie ertragen kann! Es gibt Abgründe in uns, die so dunkel sind, dass nur Christus sie erleuchten kann.

Natürlich, liebe Gemeinde, es ist ein Hollywood-Film! Poncelet kann sich dann doch selbst ansehen, er kann die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit über sich eingestehen, er kann sagen, wie klein, wie feige, wie häßlich er war, als er mordete, er kann eingestehen, dass er damals nur nicht den Mut fand, sich gegen seinen Kumpel zu wehren, dass er toll und cool sein wollte und dass er deswegen zum Vergewaltiger und Mörder geworden ist. So klein, so häßlich, so banal ist das Gesicht des Bösen. Anerkennung, pubertäres Nachäffen, billiges Mitmachen, mehr oder bessere Gründe hat die böse Tat nicht. Das muß Poncelet eingestehen, hier liegt sein Schmerz, seine Scham, die Tränen seiner Verzweiflung. Aber dann kann er im Film auch die Verantwortung übernehmen, er kann beten für die Opfer und die Leidtragenden. Und Schwester Helen kann nach diesem Bekenntnis, dieser Umkehr, nach dieser Buße Poncelet wieder so titulieren, wie Gott alle Menschen tituliert: „Du bist ein Sohn Gottes“, sagt sie, „und diese Würde kannst du niemals mehr verlieren, auch nicht durch das Sterben in der Todeszelle“. Und als über den Todeskandidaten auf dem Weg zur Hinrichtung das berüchtigte „dead men walking“ gerufen wird, wirkt Poncelet gefasst und still.

Liebe Gemeinde,
wir leben nicht in Hollywood, daher die Schlussfrage: Wie kommen wir zur Wahrheit? Wie kommen wir zur Umkehr auch im unseren Leben, in unserem Haus, in unserem Alltag? Das Erschrecken ist groß, wenn wir plötzlich einsehen müssen, auch es auch bei uns Dunkles, Böses, Abgründiges gibt, nicht nur anonyme Briefe, die einen zutiefst beschämen, sondern ernste Gefährdungen der Fahrsicherheit. Das Dunkle kommt uns näher als uns allen lieb sein kann, denn der Unterschied zwischen Mobbing mit Nägeln in Reifen und Mord ist m.E. ein gradueller, kein prinzipieller. Auch wir brauchen eine Umkehr, um endlich aus dieser elenden, aber unvermeidlichen Situation der gegenseitigen Verdächtigungen zu entkommen. Darum will ich auch dies noch einmal ausdrücklich sagen: Es gibt keine Verdächtigen bei uns im Haus, sondern nur Zeugen. Es handelt sich bei allen Gesprächen um Zeugenbefragungen, nicht um Anklageuntersuchungen. Aber es ist leider die reine Wahrheit, dass alles dafür spricht, dass dieses anonyme Mobbing aus der Mitte unseres Hauses stammt, und Mobbing ist immer beschämend, für ein christliches Haus aber geradezu unfassbar. Und wir müssen die Zahl der Zeugen einschränken, obwohl eigentlich alle befragt werden müssten, weil wir keine Ahnung haben, wohin wir schauen sollen. Deswegen ist es heute, an diesem Buß- und Bettag, meine Gewissenspredigt an uns alle:  Wir müssen diesen bösen Geist aus unserem Haus verbannen, wir müssen neues Vertrauen zueinander finden, wir müssen Schuld und Verantwortung zurechnen können, damit sich nicht alle und jeder ins Dunkle gestellt sieht. Helfen Sie mit, seien Sie Krieger des Lichts, vertreten und verteidigen Sie diese Befragungen als Weg zur Wahrheit, nicht als ungerechte Zumutung. Den „die Wahrheit macht uns frei“, sagt das Evangelium, frei von der Last, unsere Gemeinschaft mit der Suche nach dem Dunklen zu beschweren. Gott helfe uns.

Amen