Zur Präsentation der Luther-Bibel „Jerusalem“, Schlosskirche zu Wittenberg

Thies Gundlach

  • „Ich werf doch keine Perlen vor die Säue“, hat meine Mutter immer gesagt, wenn wir Kindern keinen Karpfen essen mochten.
  • “Den Politikern (oder auch Journalisten) sollte man mal die Leviten lesen“, ließ mein Stiefvater verlauten, wenn er sich wieder mal geärgert hatte.
  • „Und bei Behördengängen rennt man noch heute von Pontius zu Pilatus“, sage ich auch heute noch.

Mit diesen geflügelten Worten reden viele, aber nicht mehr alle wissen, dass diese in der Bibel ihre Wurzel haben, genauso wie jemanden „auf Herz und Nieren prüfen“ (Psalm 7,10), die „Hände in Unschuld waschen“ (Psalm 26,6) oder „Gift und Galle“ spucken (Dtn 32,33). Es ist wie in vielen Bereichen unserer Gesellschaft, die Vergesslichkeit nimmt zu: Fragen wir Jugendliche nach „Napoleon“, antwortet nicht wenige mit „Branntwein“; fragen wir nach evangelisch oder katholisch, antworten sie: „Ich bin normal!“ Eine Vergesslichkeitsgesellschaft gefährdet ihre Wurzeln, die Gegenwart wird absolut und mit der Erinnerung geht die Tiefenschicht verloren.

Deswegen begrüße ich es im Namen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und seines Vorsitzenden, Präses Dr. h.c. Nikolaus Schneider, außerordentlich, dass der Text der Martin-Luther-Bibel nun als Jerusalem-Bibel in einer besonderen Ausgabe erscheint. Denn die Lutherbibel gehört zu den großen Schätzen der Christenheit. Sie ist nicht nur für den Protestantismus von überragender Bedeutung, sondern sie hat auch entscheidend unsere deutsche Sprache geformt. Luthers Übersetzung prägt und trägt Lieder, Gedichte und Gebete bis heute. Der Rat der EKD nimmt deswegen die Pflege des Luthertextes mit seinem besonderen Klang und seiner einzigartigen Sprachkraft sehr ernst. Es gibt – und darüber freuen wir uns – viele andere Bibelübersetzungen, wissenschaftliche Übersetzungen, sprachlich aktuelle Übersetzungen, auch interessengeleitete Übersetzungen wie die Volxbibel oder die „Bibel in gerechter Sprache“.

Aber die Lutherbibel – das ist das Original! Das Premiumprodukt, das in seiner Bedeutung einzigartig ist; denn es wirkt seit fünf Jahrhunderten auf drei Ebenen:

  1. Zuerst ist die Luther-Bibel an Sprachkraft und Bildreichtum kaum zu überbieten. Lebendig und farbkräftig spricht es von der Geschichte des Volkes Gottes und der ersten Christen und hat damit die deutsche Sprache bis heute beeinflusst. Auch ein noch so säkularer Werbetext spielt mit biblischen Motiven, wenn es um die „zarteste Versuchung“ geht, seit es Schokolade gibt.
  2. Die Lutherbibel hat aber auch das gesamte abendländische Bildinventar geprägt; Sie können noch heute kaum einen Hollywoodfilm wirklich verstehen, wenn Sie nicht die Geburtsgeschichte Jesu in der Terminator-Trilogie wiedererkennen oder das Kreuzesopfer im Film „Titanic“. Und da man nur sieht, was man weiß, wird auch die abendländische Ikonographie der Malerei nur transparent, wenn man die Geschichte vom verlorenen Sohn erinnert. Denn sonst fragt man sich, was eigentlich dieser heruntergekommene junge Mann am Rockzipfel des Alten macht.
  3. Und zuletzt, aber für uns als Kirche am wichtigsten: Die Lutherbibel ist Gottes Wort in menschlicher Gestalt. Es ist das Geheimnis der Freiheit Gottes und das Mysterium der Gnade in der Geschichte des Gekreuzigten. Der Glaube hört in Luthers Bibel die Schwingen der Barmherzigkeit Gottes und die Flügel der Befreiung in Christus. Die Bibel nimmt unsere Seele, unser Herz und all unsere Sinne mit hinauf zu Gott, und führt uns immer neu zurück zum Nächsten, der uns braucht. Und dieses Wort Gottes hören wir alle, gemeinsam und ökumenisch, Gottes Wort vereint uns Christen jenseits aller Konfessionen und Konflikte. Deswegen bin ich nicht nur dankbar für die ökumenische Gemeinsamkeit, die wir heute Morgen in dieser berühmten Schlosskirche der Lutherstadt Wittenberg haben, sondern denke auch an die römisch-katholischen Geschwister, die mit dem Vatikanum II dieses gemeinsame Wort Gottes in die Mitte ihres Glaubens gerückt haben. Und ich freue mich ganz besonders, dass der Ökumenebeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Gerhard Feige, verschiedene Anliegen Luthers in der katholischen Kirche aufgenommen sieht, besonders eben diese gemeinsame Orientierung am Wort der Bibel. Bischof Feige sieht seine römisch-katholische Kirche auf dem Weg von der Gegenreformation zur Mitreformation, und diesen in der Bibel grundgelegten Weg gehen wir gerne zusammen bis 2017 und darüber hinaus!

Ich wünsche der Jerusalembibel viele neugierige Leser/innen aller Konfessionen und ebenso viele offene Herzen, und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit