Heilgabend-Predigt über Johannes 7, 28-29

Präses Nikolaus Schneider in der Johanneskirche zu Düsseldorf

Liebe Gemeinde!

In besonderen, in gesegneten Augenblicken ist das unseren Herzen ganz klar:

  • dass alles Leben in Gott geborgen ist,
  • dass auch wir ganz persönlich von Gott geliebt und gehalten sind, selbst in unsicheren und schweren Zeiten und auch wenn Krisen unser Leben immer wieder neu erschüttern.

In gesegneten Augenblicken erfüllt uns ein großes „Dennoch-Vertrauen“. Keine Fragen und keine Zweifel können unser Glauben, Hoffen und Lieben zerstören. Denn in gesegneten Augenblicken leuchtet die Klarheit Gottes mitten in unser Herz – in alle Dunkelheiten hinein und trotz aller Dunkelheiten. So wie es damals, vor mehr als 2000 Jahren, bei den Hirten auf dem Feld bei Bethlehem war. Als für sie der Himmel aufriss, als die Klarheit Gottes sie erleuchtete und als diese große und klare Weihnachtsbotschaft des Engels ihr Herz erfüllte:

„Fürchtet euch nicht!
Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;
denn euch ist heute der Heiland geboren,
welcher ist Christus, in der Stadt Davids.“

Die Hirten damals haben dieser Botschaft getraut. Sie haben sich auf den Weg gemacht, um die Geschichte zu sehen, die Gott ihnen kundgetan hatte.Und sie haben die klaren Gottesworte dieser Heiligen Nacht weitergetragen, zu Maria und zu allen Menschen, die ihnen in dieser Nacht begegneten.

In dieser Heiligen Nacht, in diesem gesegneten Augenblick, wurde es den Hirten und Maria klar: Dieses neugeborene Kind, das da in Windeln in einer Krippe in der Davidsstadt Bethlehem liegt, ist mehr als ein neugeborenes Kind: Gott selbst will sich den Menschen greifbar und begreifbar machen. Jesus von Nazareth, Marias Sohn, soll für alle Menschen und alle Völker zum Retter und Heiland werden.

Durch das Leben, Sterben und Auferstehen dieses einen Menschenkindes sollen alle Menschen erkennen und erfahren, was Jochen Klepper in seinem Adventslied so verdichtet:

„Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.
Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“

Maria, so erzählt uns der Evangelist Lukas, behielt die Worte der Engelbotschaft und bewegte sie in ihrem Herzen. Sie brauchte die Klarheit dieser gesegneten Nacht für die Wochen, Monate und Jahre „danach“. Für den banalen Alltag.

Und für alle unsicheren und schweren Zeiten, in denen Fragen und Zweifel so übermächtig werden, dass sie unseren Glauben, unser Vertrauen und Hoffen zu ersticken drohen. Denn auch Maria, die Mutter Jesu, hat es in den folgenden Jahren leidvoll erfahren müssen: Wir Menschen sehen in unserem irdischen Leben die Wahrheit Gottes nur fragmentarisch und wie ein undeutliches Bild.

Auch die gesegneten Augenblicke, in denen Gottes Klarheit uns erleuchtet, können das große Geheimnis Gottes für uns nicht auflösen. In dieser Bescheidenheit und Demut mussten sich Maria und auch die Weggefährten und Weggefährtinnen Jesu üben.

Und in dieser Bescheidenheit und Demut sollen und müssen auch wir Christenmenschen uns nach zwei Jahrtausenden christlicher Theologie- und Kirchengeschichte immer wieder neu üben. Zu dieser Bescheidenheit und Demut ruft uns auch der Predigttext aus dem Johannesevangelium:

„Da rief Jesus, der im Tempel lehrte:
Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin.
Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen,
sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat,
den ihr nicht kennt.
Ich aber kenne ihn:
denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.“

Für den Heiligabend diesmal also keine himmelhochjauchzende Weihnachtsgeschichte, sondern ein Wort, das der erwachsene Jesus im Jerusalemer Tempel spricht. Der, dessen Geburt wir heute feiern, hält gleichsam selbst eine kurze Geburtstagsansprache. Und er will dabei zwei Grundeinsichten in unseren Herzen verankern:

Erstens:
Zum christlichen Glauben gehört das Vertrauen, dass uns in Jesus Christus Gott selbst begegnet. Denn Jesus Christus ist „von Gott“ und Gott selbst hat Jesus Christus zu uns Menschen gesandt.

Und zweitens:
Zum christlichen Glauben gehört die Demut, dass niemand außer Jesus Christus Gott wahrhaftig und vollständig kennt. Der Absolutheitsanspruch des einen Menschen Jesus Christus darf nicht dazu benutzt werden, der eigenen Theologie, Religion oder Kirche die absolute Wahrheit zuzuschreiben.

Zum Ersten:
Christlicher Glaube braucht das Vertrauen, dass uns in Jesus Christus Gott selbst begegnet. Christlicher Glaube ist mehr und anderes als ein religiöser Festtagszauber oder ein liturgisches Sahnehäubchen auf besondere Anlässe und Tage unseres Lebens. Und die biblische Weihnachtsbotschaft ist mehr und anderes als menschliche Rührung und Freude über ein neugeborenes Kind.

Dieses Kind nämlich, das in der Heiligen Nacht damals in Bethlehem geboren wurde, kann nur dann zu unserem Heiland und Retter werden, wenn wir in ihm das Angesicht Gottes erkennen. Nachhaltige Weihnachtsfreude wird uns nur zuteil, wenn wir darauf vertrauen, dass in diesem Krippenkind Gottes Liebe und Gottes Wort menschliche Gestalt angenommen haben.

„Das Wort ward Fleisch“, so heißt es zu Beginn des Johannesevangeliums. Weihnachten heißt für Johannes: Gottes Liebe und Gottes Wort werden sichtbar, erfahrbar und erkennbar in einer menschlichen Lebens- und Liebesgeschichte, in der Geschichte des Jesus von Nazareth.

Und die Liebesgeschichte Gottes in diesem einen Menschen erweist sich als eine Geschichte von Gottes Machtverzicht und von Gottes ganz besonderer Nähe zu den Armen, Unterdrückten und Leidenden dieser Welt.

Sie beginnt in einem Stall in Bethlehem, setzt sich fort mit Verfolgung und Flucht, verbindet sich mit Kranken, Aussätzigen und Ausgestoßenen und spart selbst das Leiden und Sterben nicht aus.In Jesus Christus zeigt sich Gott als Liebhaber der Menschen,

  • der den Weg zu Sünderinnen und Sündern sucht,
  • der Kranke an Leib und Seele gesund macht,
  • der Hungernde an Leib und Seele sättigt,
  • und der die absolute Macht zerstörerischer Kräfte und Gewalten zu brechen vermag.

Vor allem aber:
In Jesus Christus erniedrigt sich Gott bis zum Tod am Kreuz. Nur dadurch kann sich Gott als der erweisen, dem alle Todesmächte dieser Welt letztendlich unterlegen. In seinem Sterben und Auferstehen wird Jesus Christus zum Grund der Auferstehungshoffnung für uns alle.

Für die Geburt wie für das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi gilt: Augenscheinliche Wahrnehmung und vordergründige Erkenntnisse sind nicht genug! Wer bei dem Kind in der Krippe nur seine augenscheinliche Herkunft wahrnimmt, verschließt sein Herz für die Weihnachtsbotschaft der Engel.

Wer in Jesus Christus nur vordergründig den Zimmermannssohn aus Nazareth erkennt, verschließt sein Herz für die große Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen. Christlicher Glaube braucht das Vertrauen, dass uns in Jesus Christus Gott selbst begegnet. Wenn wir in dem Kind in der Krippe Gottes Gegenwart und Liebe erkennen, dann wird unsere Weihnachtsfreude nicht in den Banalitäten unseres Alltages untergehen.

Dann erwächst aus unserer Festtagsfreude heute Abend ein „Dennoch-Vertrauen“, das uns auch in unsicheren und schweren Zeiten und selbst durch den Tod hindurch zu tragen vermag. Dieses Dennoch-Vertrauen schenkt uns einen langen Atem, Gottes Verheißungen weiter zu tragen und durch unser Reden und Handeln für unsere Gegenwart zu bezeugen. Deshalb lassen wir nicht nach, Armut, Hunger, Krieg und Gewalt zu ächten und zu bekämpfen. Damit alle Menschen die große Liebensgeschichte Gottes an Leib und Seele erfahren können.

Und zum Zweiten:
Zum christlichen Glauben gehört die Demut, dass niemand außer Jesus Christus Gott wahrhaftig und vollständig kennt. Zum gewohnten Alltag unseres Glaubens gehört immer auch die Erfahrung, dass Gott sich unserem Denken und Verstehen entzieht. Sein Tun und Wirken bleiben uns letztendlich unbegreifbar und unerklärbar.

Die Erkenntnis der absoluten Wahrheit Gottes gehört – leider! – nicht zu unserem menschlichen Maß. Menschliche Absolutheitsansprüche – seien sie theologisch oder säkular – führen letztendlich immer zur Unterdrückung der Freiheit und der Rechte anderer Menschen. Und nur zu oft hinterlassen Absolutheitsansprüche von Menschen eine Blutspur. Denn nur zu oft werden sie mit Terror und Gewalt durchgesetzt. Das zeigt uns der Blick zurück in die Geschichte – leider Gottes auch der Blick zurück in unsere eigene Kirchengeschichte.

Und das zeigt uns auch der realistische Blick auf die Krisenherde unserer Gegenwart. Das zeigt uns der realistische Blick auf Selbstmordattentate, Raketenbeschuss und Siedlungsbau in Israel und Palästina. Das zeigt uns der realistische Blick auf die Waffenlobby und die Verherrlichung der eigenen Wehrhaftigkeit in Amerika. Das zeigt uns der realistische Blick auf den rechten Terror im eigenen Land. Noch immer und immer wieder neu dünken sich Menschen im Besitz von absoluter Wahrheit und Gotteserkenntnis. Und noch immer und immer wieder neu gehen Menschen im Namen dieser angeblichen Wahrheit über Leichen. Noch immer ermächtigen sich Menschen zu Terror und Gewalt mit dem, was sie als Gottes Wort und Willen erkannt zu haben meinen.

„…es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich aber kenne ihn: denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.“, das sagte Jesus Christus, als er im Tempel lehrte, und macht damit deutlich: Er allein kennt Gott wahrhaftig und vollständig.

Kein anderer Mensch kann und darf sich im Besitz der absoluten Wahrheit und Erkenntnis wähnen – und auch keine Religion oder Kirche im Besitz der absoluten Erkenntnis Gottes. Die Klarheit Gottes, die in der Heiligen Nacht damals in Bethlehem um die Hirten leuchtete, mündete in den Gesang der himmlischen Heerscharen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Ehren wir Gott in der Höhe, auch heute, am Heiligen Abend, mehr als zwei Jahrtausende nach Christi Geburt. Geben wir Gott die Ehre hier auf der Erde, indem wir ihm für die gesegneten Augenblicke danken, in denen wir seinen offenen Himmel sehen und erleben.

Ehren wir Gott in der Höhe, indem wir uns in Demut und Bescheidenheit üben und allen menschlichen Absolutheitsansprüchen bei uns selbst und bei anderen widerstehen. Geben wir Gott die Ehre hier auf der Erde, indem wir die Liebesgeschichte Gottes in Jesus Christus weiterschreiben und weiterleben als eine Geschichte von Gottes ganz besonderer Nähe zu den Armen, Unterdrückten und Leidenden unserer Welt.

Ehren wir Gott in der Höhe, damit die Verheißung von Gottes Frieden auf Erden bei uns Menschen auch in unserer Gegenwart Wurzeln schlagen und Früchte tragen kann.

Gesegnete Weihnachten!
Amen.