Zum kirchlichen und theologischen Umgang mit Martin Luthers Judenfeindschaft

Margot Käßmann

Eröffnung der Ausstellung Martin Luther und die Juden in Hannover

2017 jährt sich die Veröffentlichung der 95 Thesen zum Ablass durch Martin Luther zum 500. Mal. Diese Jubiläen haben immer den Geist der Zeit gespiegelt, in der sie begangen wurden. Nie ist Erinnerung oder auch Gedenken objektiv. Drei Punkte werden das Jubiläum 2017 von anderen zuvor unterscheiden: Die internationale Ausrichtung, die ökumenische Perspektive und die Freiheit, den Reformator Martin Luther auch in seinen kritischen Seiten wahrzunehmen und ihn nicht nur zum Helden zu stilisieren. Letzteres gilt insbesondere mit Blick auf den Antijudaismus Martin Luthers.

Der Antijudaismus Martin Luthers hat der Kirche, die sich nach ihm benannte, ein fatales Erbe hinterlassen. Dabei finden sich in seiner 1523 veröffentlichten Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ für die damalige Zeit bemerkenswerte Ansichten: Stereotype Vorwürfe gegen die Juden, darunter den des Wucherzinses, weist der Reformator entschieden zurück. Dies seien alles „Lügendinge“. Es sei vielmehr das lieblose Verhalten der Christen gewesen, das die Juden bisher abgehalten habe, sich zu bekehren, wofür Luther durchaus Verständnis hatte: „Wir haben sie behandelt, als wären es Hunde“, schreibt er und unterstreicht in dem ihm eigenen drastischen Sprachduktus, auch er wäre an ihrer Stelle „eher eine Sau denn ein Christ geworden“. Durch jene Schrift Luthers entstand in jüdischen Kreisen die Hoffnung, es könne zu einem Neuanfang im Verhältnis zwischen Juden und Christen kommen.

Doch zwanzig Jahre später, 1543, erschien ein im Duktus völlig anderer Text Luthers. Schon der Titel „Von den Juden und ihren Lügen“ verrät, dass es sich um eine Schmähschrift handelt. Luther schlägt darin der Obrigkeit vor, dass sie jüdische Synagogen und Schulen „mit Feuer anstecken“, ihre Häuser „zerbrechen“ und die Juden „wie die Zigeuner in einen Stall tun“ solle. Zudem sollten ihnen ihre Gebetbücher genommen werden, worin „Abgötterei“ gelehrt werde, ihren Rabbinern sollte verboten werden, zu unterrichten. Furchtbar. Unerträglich. Diese so unfassbaren Äußerungen, die ich nur ungern zitiere, können nicht mit seiner Verbitterung, dass Juden nicht zur Kirche der Reformation übertraten, erklärt oder durch den „Zeitgeist“ gerechtfertigt werden. Sie werfen auf ihn und die Reformation insgesamt einen Schatten und sollten die Kirche, die sich nach ihm benannte, auf einen entsetzlichen Irrweg führen.

Die Schmähschrift von 1543 diente allzu oft der Rechtfertigung für Diskriminierung, Ausgrenzung und Mord. Luthers Pamphlet wurde in der NS-Zeit häufig nachgedruckt, zum Beispiel unter dem Titel „Martin Luther und die Juden – weg mit ihnen!“ Vor dem Nürnberger Gerichtshof bezieht sich der NS-Hetzer Julius Streicher auf sie, um dann zu sagen: „Dr. Martin Luther säße sicher heute an meiner Stelle auf der Anklagebank….“ Aus Luthers Spätschrift hatte Streicher für sein Hetzblatt „Der Stürmer“ den in der NS-Zeit sprichwörtlich gewordenen Satz „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud‘ bei seinem Eid“ entnommen.

Nun gibt es derzeit eine Debatte darüber, ob wir eine direkte Linie vom Antijudaismus Martin Luthers zum Antisemitismus der Nationalsozialisten ziehen können. Ich persönlich meine ja, insofern als unsere evangelische Kirche bis auf wenige Einzelne versagte in der Zeit des Nationalsozialismus, weil sie Menschen jüdischen Glaubens nicht schützte, sich dem Holocaust nicht vehement entgegenstellte. Erst nach 1945 begann sie – langsam -, den verhängnisvollen Weg des Antijudaismus zu verlassen, eine Lerngeschichte setzte ein.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat in einem Beitrag für die Zeitschrift CICERO gezeigt, dass die Lutherschrift von 1543 in allen Gesamtausgaben zugänglich war und Luthers Antijudaismus sich somit weit verbreiten konnte.

Dem widersprechen vehement der Historiker Johannes Wallmann und auch seine Ehefrau, die Theologin Dorothea Wendebourg. Wallmann erklärt, „Luthers antijüdische Spätschriften seien von der evangelischen Kirche seit dem Pietismus zugunsten seiner judenfreundlichen Schrift von 1523 abgelehnt worden“. Und nun streiten Wallmann und Pfeiffer, ob es viele oder wenige Pietisten gab in Deutschland. Wallmann jedenfalls erklärt, Luthers antijüdische Schriften seien in der Kirche, die sich nach ihm benannte, gründlich in Vergessenheit geraten, der Antisemitismus habe sich aus anderen Quellen gespeist. Erst die „braune Presse“, habe – zum Erschrecken und der Überraschung vieler Pfarrer – Luthers Schrift von 1543 neu verbreitet. Wer von Luthers Antijudaismus eine Linie ziehe zum Antisemitismus der Nazis, verhelfe ihnen zu einem späten Sieg.

So ein Streit über historische Abläufe ist immer interessant und gehört auch zur protestantischen Debattenkultur. Es ist aber auch befremdlich, welche Angst es offenbar davor gibt, dazu zu stehen, dass unsere Kirche erst in einem langen Lernprozess zum Dialog mit dem Judentum gefunden hat. Noch zu meinen Studienzeiten war das Buch von Pinchas Lapide „Der Jude Jesus“ für viele eine Sensation, weil sie Jesus nicht als Juden gesehen hatten.

Der jüdisch-christliche Dialog hat neu entdecken lassen, was der Apostel Paulus über das Verhältnis von Christen und Juden schreibt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Römer, 11,18). Das war für die evangelische Kirche ein Prozess, der Erschrecken über eigene Irrwege zutage treten ließ und Befangenheit auslöste. Mein Eindruck aber ist, dass immer öfter freie Begegnung möglich wird, die um das Vergangene, um Schuld ebenso wie um Opfererfahrung weiß, aber nicht dort verhaftet bleibt, sondern Wege ins Offene, in die Zukunft eines Dialogs auf Augenhöhe sucht.

Das Jahr 2013 hat die Evangelische Kirche in Deutschland im Rahmen der Lutherdekade auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 unter den Titel „Reformation und Toleranz“ gestellt. In vielen Diskussionen wurde deutlich: Es kann gerade nach der Realität des Holocaust kein Reformationsjubiläum geben, das bei aller Freude über die Errungenschaften der Reformation ihre Schattenseiten nicht benennt. Und gerade die bedrückende Geschichte der christlichen Judenfeindschaft hat in Martin Luther einen furchtbaren Zeugen, so sehr vieles an ihm hoch zu schätzen ist.

Und, oh ja, zu schätzen ist sein Impetus für Bildung! Luther übersetzte die Bibel insgesamt mit seinem ganz eigenen Gefühl für Sprache ins Deutsche. Jeder und jede sollte selbst lesen können, was da geschrieben steht. Ihm verdanken wir die Volksschule für alle Jungen und Mädchen gleich welcher sozialen Herkunft, wie er sie im Brief an den „christlichen Adel deutscher Nation“ gefordert hat.

Bildungsgerechtigkeit und Bildungsteilhabe – Martin Luther war der erste, der diese Themen öffentlich machte und sich vehement dafür einsetzte. Der Schwerpunkt Bildung gilt für alle Reformatoren: Melanchthon war Lehrer aus Leidenschaft, ja, wird auch aufgrund seiner Bemühungen um eine Universitätsreform als „Lehrer der Deutschen“ bezeichnet. Martin Bucer wird von Lutheranern wie von Reformierten als Kirchenlehrer angesehen. Ulrich Zwingli lernte Griechisch, um das Neue Testament im von Erasmus von Rotterdam mit Blick auf die lateinische Vulgata editierten Urtext lesen zu können. Zwingli besaß die für damals sehr große Zahl von 100 Büchern und gründete in seiner Glarner Pfarrei 1510 eine Lateinschule. Und dann das Genfer Kolleg – von Johannes Calvin gegründet –, das die reformierte Bildungsbewegung in viele Regionen Europas brachte!

Religion braucht Bildung, das ist eine entscheidende Grundüberzeugung. Sie wurde von deutschen Juden sehr wohl geteilt! Rabbiner wurden bis zum Beginn der Nazi-Diktatur ausgebildet in Deutschland. Doch diese Ausbildung konnte sich nicht an öffentlichen Universitäten etablieren, sondern fand in eigenen Seminaren statt: eins in Breslau, zwei in Berlin. Interessant fand ich beim Nachlesen für diese Rede, dass in Berlin beide Seminare in derselben Straße existierten, der heutigen Tucholskystraße. Sie hieß damals Artilleriestraße, weshalb im Volksmund von der „leichten Artillerie“ für das Institut des liberalen Judentums und der „schweren Artillerie“ für das traditionell orthodoxe Institut die Rede war. Ein bisschen Humor darf sein…

Auch gab es an evangelisch-theologischen Fakultäten Nischen für jüdische Theologie. Besonderes Gewicht hatte der Lehrstuhl von Hermann Leberecht-Strack in Berlin, der mit seinem Institutum Iudaicum hoch angesehen war. Seine „Einleitung in Talmud und Midrasch“ war ein Klassiker und mit dem orthodoxen Rabbinerseminar arbeitete er zusammen. Er hat sich – anders als andere protestantische Theologen – gegen jedweden Antisemitismus positioniert. In Leipzig gab es zudem das Institut am Lehrstuhl von Franz Delitzsch, nach 1945 wurde es nach Münster verlegt. Aber es waren christliche Lehrstühle, nicht jüdische, und das Berliner Institut hatte zudem den Untertitel „Institut zur Förderung der Judenmission“. Judaistik, jüdische Wissenschaft war ein Appendix. Es gab hier und da jüdische Lehrstuhlmitarbeiter – freie Forschung und Lehre des Judentums war das nicht.

Jüdische Theologie als eigenständiges Fach an einer deutschen Universität – das ist also etwas sehr Neues. Ich bin überzeugt: Das wird der Ausgangspunkt sein für eine Begegnung auf Augenhöhe. Uns allen ist doch bewusst, dass wir einen Dialog der Religionen brauchen. Und genau diesen Dialog kann und soll gerade die Theologie möglich machen. Sie gibt den menschlichen Begegnungen, die ebenso notwendig sind, die notwendige Substanz für das Gespräch. Alfred Grosser hat letztes Jahr im Tagesspiegel treffend geschrieben: „Eben weil die nichtjüdischen Deutschen ständig versucht sind, das deutsche Judentum als eine Trauergemeinschaft zu betrachten, sollte alles in die Zukunft Weisende unterstützt werden. Ein reger Austausch zwischen institutionalisierter jüdischer Theologie mit der katholischen und der evangelischen wäre ein schönes Zeichen einer ‚Normalisierung‘ des Judentums in der Bundesrepublik Deutschland.“[1]

Ich weiß nicht, ob es nach dem Holocaust je eine „Normalisierung“ geben kann. Aber es kann einen Dialog auf Augenhöhe geben, das finde ich entscheidend.

Zum anderen: In der Theologie geht es um Denken, Reflektieren, Nachdenken, verstehen können, fragen dürfen. Stattdessen wird der Religion immer wieder die Haltung unterstellt: Nicht fragen, schlicht glauben! Und das ist ja durchaus richtig: Fundamentalismus – ob jüdischer, christlicher, islamischer oder hinduistischer Prägung – schätzt Bildung und Aufklärung nicht. Gerade deshalb brauchen wir wissenschaftliche Theologie an öffentlichen Universitäten! Theologie ist notwendig in der Ausbildung von Rabbinerinnen und Rabbinern, Pfarrerinnen und Pfarrern sowie Priestern, weil kritische Reflexion der Texte, auf die wir uns beziehen notwendig ist. Dazu gehört heute auch, die Entstehung der biblischen Bücher wahrzunehmen, historisch-kritische Exegese zu betreiben. Letztes Jahr habe ich in einem ZDF-Fernsehgottesdienst aus Wittenberg gepredigt. Mit Blick auf den Epheserbrief habe ich erklärt, wir wüssten nicht genau, wer ihn geschrieben habe. Darauf erhielt ich von einem Theologiestudenten einen Brief, er könne mir da helfen, es sei ganz einfach, ganz am Anfang stehe doch: Paulus. Gut, er war erst im dritten Semester…

Jedweder Ausprägung von Fundamentalismus stellt sich das Theologietreiben entgegen, wenn es dazu auffordert: Selbst denken! Im Gewissen bist du niemandem untertan und unabhängig von Dogmatik, religiösen Vorgaben, Glaubensinstanzen. Es geht der universitären Theologie um gebildeten Glauben, einen Glauben, der verstehen will, nachfragen darf, auch was das Buch des christlichen Glaubens betrifft, die Bibel. Es geht nicht um Glauben allein aus Gehorsam, aus Konvention oder aus spirituellem Erleben.

Als ich 2010 für vier Monate an einer amerikanischen Universität in den Südstaaten gelehrt habe, konnte ich sehen, welche Bedeutung Theologie an einer Universität haben kann. 50 Prozent der Menschen, die sich in den USA „Pfarrer“ nennen, haben nie eine theologische Ausbildung genossen. Wir brauchen gebildete Religion, auch damit Religion nicht immer wieder benutzt wird oder sich verführen lässt, Öl in das Feuer politischer oder ethischer Konflikte zu gießen. Religion kann Faktor der Konfliktentschärfung werden, wenn sie beiträgt zum Dialog, zur Deeskalation.

Alfred Grosser hat wunderbar definiert, was ein Theologe, eine Theologin tut: Es sei „Jemand, der sein ganzes Leben lang spricht und schreibt über etwas, was er als unsagbar bezeichnet“[2]. Mir ist klar, dass manche Menschen auch fragen, ob Theologie damit überhaupt an die staatliche, öffentliche Universität gehört. Peter Strohschneider hat sehr trennscharf die Bedeutung von Theologie als Universitätswissenschaft beschrieben: „Insofern sie Wissenschaft ist, erzeugt auch die bekenntnisgebundene Theologie keine Glaubensgewissheiten, sondern wissenschaftliches Wissen – ein Wissen also, das allein im Modus der Selbstinfragestellung behauptet werden kann und das stets mit einem Zeit- und mit einem Ungewissheitsvorbehalt versehen ist. […] Und dieser besondere Anspruch an wissenschaftliches Wissen gilt für islamische Theologie nicht anders als zum Bespiel für die Theologien des Judentums und des Christentums. Theologie als bekenntnisgebundene Wissenschaft erzeugt ungewisses Wissen für Glaubensgewissheiten.“[3]

Deshalb ist es gut, dass der Wissenschaftsrat kürzlich noch einmal unterstrichen hat, dass das staatliche Hochschulsystem der zentrale Ort der Theologie sei. So manche stellen das ja heute in Frage. Fast scheint es, dass die Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften, den Ingenieurstudiengängen in die Defensive geraten. 18000 Bachelorstudiengänge gibt es heute! Da wird es schwer für die großen Klassiker, wenn du in Pferdewirtschaft oder Gesundheitswissen abschließen kannst. Das klingt alles einfach so viel praktischer als: Theologie! Aber das Ringen um Gott und die Welt, der wissenschaftliche Zugang zum Buch der Bücher, die systematische und praktisch-theologische ebenso wie die historische Durchdringung der Religion ist eine Herausforderung im Zeitalter der Aufklärung. Sie gehört an die Universität, um diskursfähig zu sein in der säkularen Welt und sich eben nicht in privat-religiöse Nischen zu verdrücken. Kurzum: Sie braucht Fakultäten. Und zwar nicht nur christliche, sondern auch jüdische und islamische.

Susanna Heschel hat in ihrem Vorwort zu Christian Wieses großer Abhandlung über die „Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland“[4] geschrieben: „Die wissenschaftliche Wirksamkeit eines Theologen unterliegt anderen Kriterien als jene anderer Forscher. Er ist nicht allein den höchsten Ansprüchen intellektuellen Strebens verpflichtet. Sondern man erwartet auch, daß seine Veröffentlichungen seinen persönlichen Glauben und moralischen Charakter wiederspiegeln. Das Verfassen theologischer Werke ist eine Antwort auf eine höhere Berufung, der man sein ganzes Leben widmet.“[5] Diese Spannung der Theologie zwischen persönlichem Glauben und wissenschaftlicher Reflexion des Glaubens wird immer Thema sein mit Blick auf die Verankerung der Theologie als Wissenschaft an der staatlichen Universität.

Seit 2008 gibt es in Osnabrück ein  Zentrum für Interkulturelle Islamstudien, das weiterentwickelt wurde zu einem Institut für Islamische Theologie und inzwischen einen Masterstudiengang Islamische Religionspädagogik anbietet. An der Universität Tübingen gibt es seit 2011 ein Zentrum für Islamische Theologie. Auch in Münster und Erlangen werden inzwischen in Deutschland Menschen ausgebildet, um islamischen Religionsunterricht zu geben, aber auch Imame. Das ist ein großer Fortschritt! Wie wichtig ist es, dass die rund 700.000 muslimischen Schülerinnen und Schüler Unterricht in ihrer Religion erhalten – und zwar wie im christlichen Religionsunterricht nicht als Mission, sondern mit der Möglichkeit, kritisch zu fragen, den eigenen Glauben nicht nur zu praktizieren, sondern zu reflektieren. Und es ist gut, wenn Imame deutsch sprechen, die deutsche Kultur kennen, an deutschen Universitäten ausgebildet werden. Nur so kann doch ein deutscher Islam entstehen – demokratiefähig, die Werte von Freiheit und Gleichheit, die unsere Gesellschaft prägen, vertretend.

Und: Abraham Geiger forderte schon Anfang des 19. Jahrhunderts die Einrichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät in Deutschland. Carsten L. Wilke schreibt: „Im Werk Geigers ist die Frage der interkulturellen Herausforderung an die Rabbinerausbildung, der Synthese von jüdischem und akademische[m] Wissen, ein wiederkehrendes Problem, für das er eine radikale Lösung vorschlug: Jüdische Religionslehre sollte zur akademischen Wissenschaft erhoben und an einer staatlichen jüdisch-theologischen Fakultät gelehrt werden.“ [6]

Das tat übrigens auch der evangelische Theologe Martin Rade, der 1912 erklärte: „Wir fordern eine jüdisch-theologische Fakultät im
Interesse der deutschen Kulturnation“.[7]  Das Judentum müsse „als eine lebendige Religion von 600.000 Reichsdeutschen“ begriffen werden, „hinter denen in der Welt eine Gemeinde von über elf Millionen steht“.[8] Das war weitsichtig, scheiterte aber am Antijudaismus und Antisemitismus, der schließlich seinen grauenvollen Höhepunkt im Holocaust fand.

Seit 1999 gibt es nun in Potsdam ein nach Abraham Geiger benanntes Ausbildungskolleg für Rabbiner in Deutschland. Seit 2013 gibt es erstmals an einer Deutschen Universität in Potsdam eine Fakultät für jüdische Thelogie mit insgesamt neun Professuren. Diese Ausbildung wird ausstrahlen weit über Deutschland hinaus. Darüber können wir uns freuen. Dafür können wir dankbar sein. Das ist bewegend, weist in die Zukunft und kann so zum Segen werden – für alle.

Insofern: Es gilt, für das Jubiläum 2017 den kritischen Blick zurück zu wagen, auf den Reformator Martin Luther und auf die Geschichte der Kirche, die sich nach ihm benannte. Es ist Gelegenheit, zu feiern, was an jüdisch-christlichem Dialog erreicht wurde. Angesichts der jüngsten Angriffe auf jüdisches Leben in unserem Land gilt es zudem, wachsam zu sein und unmissverständlich für unsere Geschwister im Glauben einzutreten. Gelernt haben wir aus der Geschichte nur, wenn wir heute als Christinnen und Christen glasklar für die Meinungs- und Religionsfreiheit von Jüdinnen und Juden in unserem Land eintreten. Ich wünsche mir, dass diese Ausstellung dazu einen Beitrag leistet.


Fußnoten:

  1. Alfred Grosser, Ein Zeichen der Normalisierung, Tagesspiegel 29.6.2012, S. 17.
  2. Ebd.
  3. Peter Strohschneider, Pluralisierung zwingt zum Vergleich von Weltorientierungen, in: Bildungswelten, 16.2.2012, S. 8.
  4. Vgl. Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1999.
  5. Ebd. S. VII.
  6. Carsten L. Wilke, Abraham Geigers Bildungsutopie einer jüdisch-theologischen Fakultät, in: Christian Wiese u.a. (Hg.), Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums, Berlin2013, S. 359ff.; S. 286.
  7. Zitiert nach: Walter Homolka, Geistliche an der Universität, in: Die Furche, 7. Juli 2011.
  8. Ebd.