Privatsache 2: Religion! Tatsächlich? Wozu Kirche?

Hans Ulrich Anke

3. Evangelischer Medienkongress in Leipzig
Daten - Medien - Religion

Sehr geehrte Damen und Herren, dieser Titel für das 2. Thema des Kongresses ist eine Herausforderung für den mündlichen Vortrag. Haben Sie schon mal versucht, nacheinander erst einen Doppelpunkt, dann ein Ausrufungszeichen gefolgt von gleich zwei Fragezeichen unfallfrei vorzutragen? Ich versuche es dennoch einmal.

Dieser Titel fällt jedenfalls erstmal mit der Tür ins Haus: Religion ist Privatsache -Ausrufezeichen!  Da ist sie wieder die altbekannte Forderung, Glauben und glaubensgeleitetes Handeln aus der Öffentlichkeit zu verbannen, raus aus dem öffentlichen Leben, ab ins stille Kämmerlein. Religionskritiker verschiedenster Couleur, von den Kommunisten bis zu Neoliberalen, meinen damit vor allem die Freiheit von Religion. Am liebsten wäre es ihnen, wenn man überhaupt ganz von religiösen Fragen verschont bliebe.

Aus Sicht der Kirche sind wir gewohnt, das Fragezeichen zu dieser These reflexartig aufzugreifen und mit dem Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Barmen VI und dem rechten Verständnis
positiver Religionsfreiheit kampfeslustig zu widerlegen. Dazu komme ich auch noch  - aber nicht sofort.

I. Die privat-persönliche Perspektive

Denn bei dieser reflexartigen Reaktion übersieht man leicht, dass an der These ja durchaus etwas dran ist, woran kirchliches, auch kirchenleitendes Handeln anknüpfen sollte. Kirchliches Handeln hat die Aufgabe, das Evangelium, Gottes frohe Botschaft, in Wort und Tat zu verkündigen und die Gemeinschaft untereinander an Christus auszurichten. Dabei ist der Auftrag groß formuliert: Denn Gott „will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Timotheus Kap. 2, V. 4). Deshalb lautet der Missionsbefehl bei Matthäus im 28. Kapitel, V. 19 ff.: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“. Wie aber das gelingen kann, dazu muss sich die Kirche immer wieder neu aufstellen. Oder um es reformatorisch zu sagen: ecclesia semper reformanda.

Dabei wissen wir, allemal als Evangelische, dass der Glaube ein Geschenk ist und an sich nicht verfügbar, nicht „instrumentell“ weitergebbar. Der Kirche muss es deshalb im Kern darum gehen, die Bedingungen zu befördern, unter denen die „Erkenntnis der Wahrheit“, der Glaube wachsen kann. Immer wieder schaut die ev. Kirche dazu auch empirisch darauf, was solche Bedingungen sein können. Ein wichtiges Instrument dafür ist die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.

Seit 1972 bittet die evangelische Kirche alle 10 Jahre Experten aus Sozialwissenschaft und Theologie im Rahmen großer repräsentativer Studien zum Blick von außen auf die Institution und ihre Mitglieder. Jetzt war mit der fünften Auflage, der KMU V, wieder ein aktueller Blick dran. Da Kernbestandteile der Befragungen seit 1972 bewusst gleich gehalten sind, haben die Tendenzaussagen eine gut abgesicherte Grundlage. Dieses Mal standen besonders im Fokus religiöse und kirchliche Praktiken als interaktives Beziehungsgeschehen: Mit wem tauschen sich Menschen über religiöse Themen aus? Welche kommunikativen Netzwerke gibt es dazu in oder neben der Institution Kirche?

Einige Ergebnisse sind für den Zusammenhang hier von besonderem Interesse. Etwa diejenige der Entdeckung oder besser Wieder-Entdeckung von Privatheit religiöser Kommunikation.

Existentiell-religiöse Themen werden zu allererst im engsten privaten Umfeld erörtert. Kirchenmitglieder sehen in diesen Fragen ein so persönliches, ja intimes Thema, dass sie es in der Regel mit dem Ehepartner (79 %), den engsten Freunden (58 %) und in der engsten Familie (53 %) besprechen – und zwar zu Hause im unmittelbaren Gespräch (89 %). In der Konsequenz spielt die religiöse Kommunikation in sozialen Netzwerken nur eine untergeordnete Rolle.

Diese Tendenz führt gerade in der jungen Generation zu wachsender Distanz. Denn die religiöse Sozialisation läuft im Wesentlichen über die Herkunfts-Familie. Und diese leistet immer weniger ihren Beitrag dazu. Die Generation der über 60jährigen gibt an, noch zu 83 % religiös erzogen worden zu sein. Die Generation der unter 30jährigen befürwortet nicht mal mehr zur Hälfte überhaupt das Ziel, Kinder religiös zu erziehen. Tatsächlich umsetzen können oder wollen es dann noch einmal signifikant weniger. Dass hier in Folge mangelnder eigener Erfahrungen und Kenntnisse im Umgang mit dem christlichen Glauben weitere Abbrüche drohen, ist geradezu offensichtlich.

So lässt sich als erstes zum Thema festhalten:

1. Der christliche Glaube ist entscheidend gerade auch in seiner persönlich-privaten Dimension wahrzunehmen und zu fördern.
II. Die Perspektive der Kirche

Natürlich ist das keine neue Erkenntnis. Schon aus den biblischen Texten wissen wir davon, dass für die religiöse Sozialisation am wirksamsten die unmittelbaren Bekehrungen sind. Nun sind nur wenigen Menschen leibhaftige Gottesbegegnungen vergönnt wie Saulus‘ Damaskus-Erlebnis oder der Gang der Emmaus-Jünger. Hilfreicher ist da für kirchliches Handeln schon, was zu den ersten Gemeinden in der Apostelgeschichte steht: „Sie blieben beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“ (Apg 2, 42). Oder was von Philippus berichtet wird, als er mit dem Kämmerer aus Äthiopien ins Gespräch kommt und ihn am Ende tauft (Apg 8, 26 ff.).

Erweckungserlebnisse sowie persönliche Wege zum Glauben sind heute nur noch selten Thema breiter öffentlicher Berichterstattung. Sie schimmern allenfalls bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben einmal durch oder wenn ehemals hochgestellte Persönlichkeiten medial inszeniert ins Taumeln geraten und anschließend tief stürzen. Aber Glaube als in der Normalität prägendes Faktum spielt kaum eine Rolle. Gefragter sind die Kirchen in der Berichterstattung, wenn ihr Handeln Neuigkeitswert verspricht, mit echten oder vermeintlichen Skandalen, mit Voten zu den großen gesellschaftlichen Themen oder im Hinblick auf die Persönlichkeiten.

Und so drehen sich darum auch die Medienanfragen an die Kirche: Warum Waffen liefern an die kurdischen Rebellen in den Irak? Wie steht Ihr als Kirche zu der Verteilung von Reichtum? Warum seid Ihr in der Sozialinitiative so ausgewogen, warum desorientiert Ihr mit Eurer Schrift zu Ehe und Familie die Gemeinden?

Wer dieses dann debattiert, gehört idR doch zu denjenigen, die gar nicht zu desorientieren sind. Vielmehr ringen sie im engagierten Meinungsstreit mit ihrer je für sich festen Vorstellung, was die Kirche zu aktuellen Themen sagen soll.

Zu oft gerät dabei aus dem Blick, dass kirchliche Texte zu ethischen Streitfragen wie auch zu Kernfragen christlichen Lebens in den Gemeinden und bei den Mitgliedern gar nicht wirklich ankommen. Das mag mal tröstlich sein, etwa wenn man merkt, dass der intensive Streit um die Orientierungshilfe 2013 „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ auch an eigentlich gut Informierten einfach vorbeigerauscht war. Aber in der Regel ist es ein Kummer, wenn gute, sorgfältig ausgearbeitete Schriften nicht in der Breite der gemeindlichen Arbeit wirksam werden, etwa die Reihe zu Taufe (2008), Abendmahl (2008), Gottesdienst (2009) und demnächst zum Kreuzestod Christi. Oder ganz frisch die Schrift „Rechtfertigung und Freiheit“, eine Grundlegung zu dem, was wir aus Anlass von 500 Jahren Reformation im Jahre 2017 als evangelische Kirche eigentlich zu feiern haben. Haben die Gemeinden, in denen Sie Gottesdienst feiern, davon etwas aufgenommen? 

Wir führen sehr aufwendige, oft hitzige Debatten in sehr kleiner Runde für einen sehr kleinen Adressatenkreis. Die Auflagen der genannten EKD-Texte liegen zwischen 5.500 und 31.000
Exemplaren. Wenn es gut geht, kommt also ein Text auf rd. 2000 Gemeindeglieder. [Den besten Absatz mit über 100.000 Exemplaren erzielen wir derzeit mit unserem Flyer „Die evangelische Kirche und das Geld“.]

Ähnlich verhält es sich bei den Debatten zu den kirchenleitenden Personen. Breit wird in den Medien schon lange im Vorfeld von Personalentscheidungen darüber diskutiert und spekuliert, wer was wird, welche Einflüsse dabei eine Rolle spielen. Und dann natürlich, wer was bringt und wer nicht so. Selbstverständlich kommt es darauf an, möglichst die besten ehrenamtlichen und hauptamtlichen Personen an der Spitze der Kirche zu haben. Darauf wird zu recht viel Zeit und Kraft verwandt.  Aber für das geistliche Leben spielt das idR eine untergeordnete Rolle! Die KMU V hat vielmehr gezeigt, dass die Schlüsselperson, die für die Gemeinde steht, der Ortspastor ist (wird von etwa einem Drittel so benannt). Mehr als drei Viertel der evangelischen Kirchenmitglieder kennen einen Pfarrer. Die Ebene der Landeskirchen, die Bischöfe und Kirchenpräsidenten, und auch die Ebene der EKD werden dagegen kaum genannt, ausgenommen natürlich Margot Käßmann, die assoziieren von sich aus 10 % mit der ev. Kirche.

Aus diesen Erkenntnissen der KMU V folgt nun nicht einfach, alle Arbeit auf die Gemeinde zu fokussieren. Denn auch das lehren kirchliche Gottesdienststatistiken und die KMU V aufs Neue: das gottesdienstliche Leben erreicht bei Weitem nicht die Breite der Kirchenmitglieder, selbst wenn die Ergebnisse der KMU V besser als die 3,7 % durchschnittlicher ev. Gottesdienstbesuch nach den Zählsonntagen der EKD sind. So geht die Hälfte der unter 45jährigen höchstens einmal im Jahr zum Gottesdienst. Bei den unter 30jährigen gibt ein Drittel an, gar nicht in die Kirche zu gehen. 

Will man hier entgegenwirken, sollten wir auf allen Ebenen die Familien darin unterstützen, die religiöse Erziehung der Kinder selbst als eigene Aufgabe wahrzunehmen. Und durch die Generationen hindurch gilt es, das Gespräch über Glauben und Religion im persönlich-privaten Bereich zu stärken. Beides ist vernachlässigt worden. Es geht natürlich auch nicht durch direkte Begleitung  der privaten religiösen Kommunikation. Weder ist flächendeckend leistbar noch angesichts des privat-persönlichen Charakters überhaupt sinnvoll.  Deshalb geht es darum, solche Kommunikation anzuregen und zu qualifizieren. Dazu muss die Alltagsrelevanz von Glaubensfragen und ethischen Themen deutlich werden. Und es braucht passende Angebote der Kirche für eigenes Engagement. Denn auch das zeigt die KMU V: wer in der Kirche ist, zeigt deutlich überdurchschnittlich Gemeinsinn: Mit steigender Religiösität wächst das Engagement für andere und die Gemeinschaft – und ganz nebenbei bemerkt: auch die Lebenszufriedenheit.

Im Kern heißt das als Zweites aus der Perspektive der Kirche:

2. Das öffentliche Wirken der Kirche ist stärker auf die Wirksamkeit in privater religiöser Kommunikation auszurichten. Denn die private religiöse Kommunikation braucht Anregung durch öffentliche Verkündigung der Kirche. Das umfasst herausfordernde Anlässe, griffige Themen, adressatengerechte Materialien und überzeugende Personen, die zusammen möglichst auch den hinreichenden Neuigkeitswert für mediale Aufmerksamkeit mit sich bringen.
III. Die Perspektive des Staates

Auch von staatlicher Seite ist ein solches öffentliches Wirken von Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem Grundgesetz geradezu gewollt. Denn ein freiheitliches Gemeinwesen lebt von dem Engagement seiner Bürger und den sie prägenden Überzeugungen. In Abkehr von der totalitären Gleichschaltung in der Nazidiktatur stellt das Grundgesetz deshalb die unveräußerliche Freiheit des Menschen und seine unantastbare Würde als den bestimmenden Maßstab für das staatliche Handeln heraus. Daraus folgt, dass der Verfassungsstaat des Grundgesetzes sein eigenes Handeln ganz in den Dienst der freien Entfaltung der einzelnen für sich und in Gemeinschaft mit anderen stellt. Er sichert dies, indem er im Sinne des Subsidiaritätsprinzips eigenes Handeln zu Gunsten des Wirkens freier gesellschaftlicher Akteure zurücknimmt.

In besonderer Weise gilt das für den Bereich der Religion. Hier kann und darf der religiös-neutrale Staat nicht selbst für eine bestimmte Religion oder Weltanschauung als verbindliche Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens eintreten – auch nicht für eine religionslose. Er erkennt aber das existenzielle Bedürfnis der Menschen an, ihr Leben nach ihrem Glauben auszurichten. Dem dient der Schutz der Glaubensfreiheit und der damit zusammenhängenden Rechte, die aus der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz übernommen sind. Dazu gehört ganz wesentlich die Gewährleistung der öffentlichen Religionsausübung. Denn immer wieder zeigt sich, wie rasch und wie schutzlos Menschen wegen ihrer Religion in Bedrängnis, Not und Verfolgung geraten, wenn umfassende, auch öffentlich wirksame Religionsfreiheit nicht konsequent gesichert wird.

Angesichts zunehmender Pluralisierung des religiösen Lebens gilt es, diese Freiheitsgewährleistungen immer wieder zu plausibilisieren. Aus Sicht der Kirchen führt dieses zu Prozessen der Selbstvergewisserung. Diese können wie z.B. im kirchlichen Arbeitsrecht heilsame Neujustierungen erbringen. Oft aber werden in die öffentlichen Debatten auch unsachliche und unzutreffende Argumente eingetragen. Das können wir gern in der gleich anschließenden Diskussion vertiefen. Zur Anregung reiße ich gern einmal meine persönliche Liste der besten Missdeutungen des deutschen Religionsverfassungsrechts an – wohl wissend dass ich als ZDF-Fernsehratsmitglied mit Listen zu Deutschlands Besten sehr sorgfältig umgehen muss:

  1. Endlich zu einer richtigen Trennung von Staat und Kirche kommen!
  2. Nur wo Kirche selbst die Kosten trägt, darf sie auch nach ihren Grundsätzen verfahren.
  3. Wenn die Kirchen Mitglieder verlieren, müssen sie auch weniger Verfassungsrechte haben.
  4. Weg mit den ungerechtfertigten Privilegien für die Kirche!
  5. Die Kirchenfinanzierung über eine staatliche Steuer gehört abgeschafft!

Die Liste ist fast beliebig verlängerbar. Sie kommen in Sendungen vor, die schon im Titel erkennen lassen, dass nicht die sachliche Information im Vordergrund steht, z.B. „Wie gnadenlos ist der Konzern Kirche?“ oder „Gott hat hohe Nebenkosten“.[1]

Deshalb ist es umso wichtiger festzuhalten:  Das geltende Religionsverfassungsrecht hat sich auch angesichts religiöser Pluralisierung bewährt. Die Verfassung setzt aus gutem Grund darauf, dass Religion auch in öffentlichen Einrichtungen wirksam wird, wie z.B. bei der Militärseelsorge, im Religionsunterricht, bei den Theologischen Fakultäten oder in der Medienaufsicht. 
 
Für unser Thema „...Wozu Kirche?“ lässt sich nun Drittens aus der Perspektive des Staates sagen:

3. Mit ihrem öffentlichen Wirken nimmt die Kirche die religiösen Freiheitsrechte als Angebot und Aufgabe an. Die beiden großen Kirchen leisten mit ihren rd. 47 Millionen Mitgliedern einen wesentlichen Beitrag für die Gestaltung unserer Gesellschaft, im Wohlfahrtswesen, in der Kultur, der Medienarbeit, im Bildungswesen und in der Wissenschaft. Sie setzen dabei auch vielfältiges ehrenamtliches Engagement frei, allein rd. 1,1 Mio. Menschen in der ev. Kirche.
IV. Die Perspektive der Medien

Wie sieht nun die Perspektive der Medien aus? Einiges habe ich dazu en passant schon angesprochen, z.B.

  • die medialen Missdeutungen des Religionsverfassungsrechts,
  • das Spannungsverhältnis zwischen medialem Personalisierungsdrang und evangelischem Verständnis vom Priestertum aller Getauften
  • oder wie sich die Alltagsrelevanz von Glaube und Kirche in ihrer Normalität weitgehend jeglicher  - zumindest überregionaler - Medienwirksamkeit entzieht. Hier betrachten wir mit Sorge die Turbulenzen der deutschen Regionalzeitungen. Denn deren liebevolle Lokalberichterstattung nimmt das örtliche Gemeindeleben teilweise noch wahr.

Mit Blick auf die begrenzte Zeit will ich mich auf drei weitere Aspekte für das Gespräch beschränken:

(1) Zum Einen vor allem gerichtet an die Journalisten der „weltlichen“ Medien die Frage nach dem derzeitigen Bild von Religion in der Öffentlichkeit:
Religion zeigt sich in den Medien vor allem in Terror und Hass, in Pleiten, Pech und Pannen, mal geldgierig, mal missbrauchend, mal desorientierend, mal lau, unentschlossen, zeitgeisthörig, aggressiv, ja militant ... Selbst Papst Franziskus dringt dagegen kaum mehr durch. Mir geht es nicht darum, die dem zu Grunde liegenden Skandale und Verfehlungen zu marginalisieren. Aber stimmt auf das Ganze gesehen das Verhältnis? Dazu nur ein Beispiel: Wenn eine Handvoll halbstarker Muslime in Warnwesten mit der Aufschrift „Scharia-Polizei“ vor Wuppertaler Kneipen postieren, rauscht es wochenlang im Blätterwald rauf und runter. Auf allen Kanälen streiten Journalisten tapfer gegen islamistische Paralleljustiz in Deutschland und für das Gewaltmonopol des Staates. Und am meisten freut sich die Wuppertaler Männertruppe über die gelungene PR-Aktion für ihre Ziele.
(2) Der zweite Hinweis geht an die eigene Adresse kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit: Wenn wir nach den Erkenntnissen der KMU V verstärkt die private religiöse Kommunikation in den Ehen und Familien unserer Mitglieder befördern sollten, dann brauchen wir dazu neue Formate, die es bis in die Haushalte der Mitglieder schaffen. Gefragt sind deshalb Überlegungen zum Ausbau direkter Mitgliederkommunikation, auf der gemeindlichen Ebene wie auf der Ebene der Landeskirchen im Verbund der EKD. Hier sind auf Seiten der Mitglieder die Erwartungen an eine direkte Ansprache gestiegen. Das haben wir jüngst deutlich bei der Verfahrensumstellung der Kirchensteuer auf Kapitalerträge erfahren. Man erwartet von seiner Kirche eine Information zu wesentlichen Steueränderungen lieber per Brief als auf dem Kontoauszug. Das trifft besonders auch auf diejenigen zu, die einmal im Jahr in die Kirche kommen, denen aber eine Mitgliedschaft weiterhin am Herzen liegt.
(3) Und die dritte Bemerkung richtet sich vor allem an die evangelische Publizistik: Vor zwei Jahren hatte ich in einem Festschrift-Beitrag für konzertierte Aktionen im Verbund von evangelischer Publizistik, EKD und Landeskirchen votiert. Das hat bei einigen evangelischen Publizisten für Widerspruch gesorgt, u.a. auch weil ich nach dem Beitrag der kirchlich getragenen Publizistik für den Verkündigungsauftrag der Kirche gefragt und weil ich mich dafür ausgesprochen habe, dass Verantwortliche auf Trägerseite zusammen mit den Produktverantwortlichen mehr als bisher gemeinsam Themen setzen und Zieldimensionen für publizistische Aktivitäten definieren. Selbstverständlich sind dabei die wechselseitigen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zu respektieren. Denn eine überzeugende evangelische Publizistik braucht kreative Freiräume. Angesichts der großen Herausforderungen, die in der KMU V ein weiteres Mal deutlich geworden sind, sehe ich nach wie vor, ja mehr denn je den Bedarf, hier zu einer Bündelung der Kräfte zu kommen. Und Anlässe wie das Reformationsjubiläum 2017 bieten dazu hervorragende Möglichkeiten. Das zeigt das Erfolgs-Beispiel von Chrismon spezial: Das Gemeinschaftswerk Ev. Publizistik und die EKD legen seit 2012 gemeinsam zum Reformationstag ein Sonderheft des evangelischen Magazins auf. Das Sonderheft liegt über 40 Tages- und Wochenzeitungen bei und erscheint in einer Auflage von 6, 7 Millionen Druckexemplaren. .. So können wir gemeinsam private religiöse Kommunikation anregen.

Wozu nun Kirche? Ich schließe wie in dem angeführten Beitrag. Denn das Wichtigste „ist und bleibt, dass sich die Kirche mit allen ihren Gliedern aufmacht, über die Märkte zieht und predigt (Lk 9,6) in klarer verständlicher Sprache, dass es ‚die Mutter im Haus, die Kinder auf der Gasse und der gemeine Mann auf dem Markt‘ verstehen [Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, 1530].“


Fußnote:

[1] „Gott hat hohe Nebenkosten“ ARD, 26.11.2012 von Eva Müller, deren gleichnamiges Buch gerade erschienen ist, „Arbeiten für Gottes Lohn“ ARD, 28.1.2013, „In Gottes Namen – wie gnadenlos ist der Konzern Kirche?“ Günther Jauch, ARD, 3.2.2013.