Reformation und Ökumene - eine Herausforderung

Margot Käßmann

Zu Besuch in Luxemburg

Im Jahr 2017 jährt sich zum 500. Mal der so genannte Thesenanschlag in Wittenberg. Kann das ein Grund zum Feiern sein? Historisch ist inzwischen höchst zweifelhaft, ob Luther seine 95 Thesen tatsächlich an die Tür der Schlosskirche nagelte, ob es ein anderer war oder sie lediglich vervielfältigt wurden. Zudem wird der Beginn der Reformation eher auf die Verbrennung der Bannbulle 1520 festgelegt, 1517 war Luther – wie wir heute sagen würden – ein „Reformkatholik“. Seine Thesen zum Ablasshandel könnten die meisten römischen Katholiken im 21. Jahrhundert unterschreiben!

Und: Ist die Feier eines Reformationsjubiläums überhaupt angemessen? Kann denn eine Spaltung gefeiert werden? Müssen wir uns nicht die Schattenseiten der Reformation bewußt machen, etwa Luthers Antijudaismus? Sollte eine Kirche, die mit zurückgehenden Mitgliedszahlen, Spar- und Strukturdebatten zu kämpfen hat, überhaupt feiern? Darf es einen „Event“ geben, wo eher wissenschaftliche Debatten angesagt sind?

Das sind einige von vielen Anfragen an das Reformationsjubiläum, die mich immer wieder erreichen. Persönlich bin ich zutiefst überzeugt, dass wir Grund haben, nicht nur historisch zu gedenken, sondern aktuell zu feiern, und dass wir das Jubiläum nutzen können für Zukunftsorientierung. Im Folgenden will ich Ihnen zunächst einen kleinen Überblick über den Stand der ganz konkreten Planungen geben. Anschließend werde ich neun Punkte benennen, die mir für 2017 entscheidend scheinen. Und als eigenen zehnten Aspekt werde ich die römisch-katholisch/evangelische Ökumene aufgreifen.

1. Planungen

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich ja entschlossen, in Kooperation mit staatlichen Stellen und Tourismusverbänden eine Lutherdekade ins Leben zu rufen, die in den Jahren 2008 bis 2016 auf das Reformationsjubiläum hinführt und es vorbereitet.

Das Jahr 2009 hatte „Reformation und Bekenntnis“ als Schwerpunktthema mit besonderem Akzent auf dem Reformator Johannes Calvin.

2010 widmete sich dem Thema „Reformation und Bildung“ mit besonderem Akzent auf dem Reformator Philipp Melanchthon.

2011 fragte das Themenjahr „Reformation und Freiheit“ nach den Wurzeln der Freiheit.

2012 „Reformation und Musik“. In diesem Jahr wurde in der Thomaskirche in Leipzig das 800-jährige Jubiläum von Kirche, Chor und Schule gefeiert – an dem Ort, an dem Johann Sebastian Bach als Kantor wirkte. Die Reformation wurde als Singebewegung wiederentdeckt.

2013 lautete das Schwerpunktthema: „Reformation und Toleranz“. Damit wurde der Blick auch auf die Schattenseiten des Reformationszeitalters mit seinen zum Teil irritierend scharfen Abgrenzungen gelenkt.

2014 war auf das Verhältnis von „Reformation und Politik“ konzentriert.

2015 widmete sich anlässlich des 500. Geburtstags von Lucas Cranach dem Jüngeren dem Thema „Reformation – Bild und Bibel“. Die Bilder aus der Cranachschen Werkstatt hatten für viele Menschen eine große Wirkung – gerade in einer Zeit, in der viele nicht lesen konnten.

2016 hat die „Reformation und die Eine Welt“ zum Thema, also die Frage danach, was Reformation bedeutet in einer globalisierten Welt und in einem Zeitalter der weltweiten Ökumene.

Für das Jubiläumsjahr selbst sind bisher fünf Säulen erkennbar:

  • Als erstes am 31.10.2016 die feierliche Eröffnung des Festjahres.
  •  Dieser Reformationstag wird auch der Startpunkt für den sog. Stationenweg sein. In vielen Reformationsstädten Deutschlands und Europas werden die Erinnerungen an die je lokale Reformationsgeschichte verbunden mit einer Aktualisierung, die die gegenwärtige Bedeutung des reformatorischen Themas andeutet.
  • Zum Dritten mündet der Stationenweg in einen großen Festgottesdienst, der vor den Toren Wittenbergs am 28. Mai 2017 gefeiert wird als Abschluss des Berliner Kirchentages sowie der regionalen Kirchentage, die als „Kirchentag auf dem Wege“ in einigen Städten Mitteldeutschlands vorbereitet werden.
  • Kurz zuvor, am 20. Mai 2017, beginnt offiziell die „Weltausstellung der Reformation – Tore der Freiheit“ in und um Wittenberg, wobei die Lutherstadt Wittenberg selbst das „Ausstellungsgelände“ werden wird. Was auf dem internationalen Stationenweg wahrgenommen und eingesammelt, gelernt und erkannt wurde, wird ebenso ausgestellt werden wie andere Beiträge aus anderen Kirchen, aus dem Bereich der Kultur und der Zivilgesellschaft.
  • Zu dieser „Weltausstellung“ gehört ein Jugendcamp, denn am Ende geht es darum, dass die junge Generation die Reformation und auch die Städte der Reformation entdeckt. Dort wird es Konzerte und Filmfestivals geben, auch Gottesdienste und Gebete und natürlich Diskussionen über Gott und die Welt. Ein Sommerlager mit Tanzen und Beten, Singen und Reden, Lachen und Lieben wird für Jugendliche ein unvergessliches Reformationserlebnis werden.

Am 31. Oktober 2017 werden national und international an vielen reformatorisch gewichtigen Orten offizielle und öffentliche Festakte begangen werden, die dem Symboldatum angemessene Aufmerksamkeit geben. In Deutschland hat sich schon (fast) die Meinung durchgesetzt, dass dieser Tag einmalig ein gesetzlicher Feiertag werden sollte, sodass auch auf diese Weise die besondere Bedeutung unterstrichen wird.

Soweit ein Einblick in die bisherigen Vorbereitungen und Planungen. Aber nun zu den inhaltlichen Punkten: Was gibt es da zu feiern? Im Folgenden will ich zehn Aspekte aufgreifen, die ich für relevant halte.

2. Inhaltliche Schwerpunkte 2017

2.1. Kritischer Rückblick

Die Reformationsjubiläen und das Luthergedenken in Deutschland waren stets von ihrer Zeit geprägt[1]. 1617 diente der konfessionellen Selbstvergewisserung. 1717 wurde Luther einerseits zum frommen Mann der Pietisten, andererseits als Frühaufklärer gegen mittelalterlichen Aberglauben stilisiert. 1817 wurde als religiös-nationale Feier inszeniert in Erinnerung der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, Luther wurde zum deutschen Nationalhelden. Der 400. Geburtstag 1883 ließ Luther zum Gründungsvater des Deutschen Reiches avancieren und 1917 wurde er schließlich mit Hindenburg gemeinsam zum Retter der Deutschen in Zeiten großer Not. Das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 umgab Luther zu seinem 450. Geburtstag mit der Aura des gottgesandten Führers bzw. dessen Vorboten. Und als Tröster der Deutschen wurde er an seinem 400. Todestag gesehen – 1946, als Trost bitter notwendig war. 1983 zu seinem 500. Geburtstag gab es eine Art Wettbewerb um das Luthererbe in Ost und West. In der DDR war Luther nun nicht mehr Fürstenknecht, sondern Vertreter der frühbürgerlichen Revolution.

Ein solcher Rückblick muss sensibel dafür machen, dass Reformationsjubiläen heikle Zeitpunkte sind. Wie werden die Generationen nach uns urteilen über 2017? Werden sie sagen, die Protestanten wollten Profil gewinnen auf Kosten anderer? Wird es heißen, es wurde versucht, Öffentlichkeit für den christlichen Glauben zu gewinnen? Oder wird deutlich: Hier wurde sich kritisch und gestaltend, gut protestantisch also, mit dem eigenen Erbe auseinandergesetzt?

Ich bin überzeugt: Es wird keinen „Kult um Luther“ geben, wie manche befürchten. Der Protestantismus in Deutschland und das Luthertum weltweit sind souverän genug, die Schattenseiten ihres großen Vorbildes nicht auszublenden und vor allem, die Reformation nicht auf ihn und seine Person zu beschränken. Denn offensichtlich ist: Die Reformation war eine Bewegung, die viele Jahrzehnte umfasste, 1517 ist ein Symboldatum. Und die Reformation wurde von vielen Menschen betrieben, Martin Luther ist die Symbolfigur. Sehr schön zeigt das ein Altarbild des italienischen Künstlers Gabriele Mucchi, das in der kleinen Kirche von Alt-Staaken am Rande Berlins zu sehen ist. In diesem Wandgemälde sind unter dem gekreuzigten Christus 12 historische Persönlichkeiten versammelt, die im 16. Jahrhundert bei der Erneuerung der Kirche und des Weltbildes eine wichtige Rolle gespielt haben: Nikolaus Kopernikus, Ulrich Zwingli, Johannes Calvin, Ignatius von Loyola, Thomas Morus, Katharina von Bora, Martin Luther, Thomas Müntzer, Johannes Bugenhagen, Philipp Melanchthon, Lucas Cranach, Erasmus von Rotterdam. Das ist ein großartiges Zeichen dafür, dass es um eine breite Bewegung ging, einen enormen Aufbruch. Anrührend finde ich, dass sie alle versöhnt sind unter dem Kreuz auf diesem Bild. Mir war es daher auch wichtig, nicht „Lutherbotschafterin“, sondern Botschafterin für das Reformationsjubiläums zu sein! Wir müssen deutlich machen, dass es hier um eine vielfältige Bewegung geht, die Staat und Kirche verändert hat, ja wirksam ist bis heute.

►Es wird wichtig sein, den kritischen Rückblick zu wagen und Reformation als Gesamtgeschehen wahrzunehmen. Dass wir das heute können, ist ein Grund zum Feiern.

2.2. Dialog der Religionen

2017 ist das erste Gedenkjubiläum des Thesenanschlags nach dem Holocaust. Das Versagen der Christen gegenüber den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus hat eine Lerngeschichte eingeleitet.

Leider ist auch Martin Luther ein abschreckendes Beispiel christlicher Judenfeindschaft. Dabei finden sich in seiner 1523 veröffentlichten Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ für die damalige Zeit bemerkenswerte Ansichten: Stereotype Vorwürfe gegen die Juden, darunter den des Wucherzinses, weist der Reformator entschieden zurück. Dies seien alles „Lügendinge“. Es sei vielmehr das lieblose Verhalten der Christen gewesen, das die Juden bisher abgehalten habe, sich zu bekehren, wofür Luther durchaus Verständnis hat: „Wir haben sie behandelt, als wären es Hunde“, schreibt er und unterstreicht, auch er wäre an ihrer Stelle „eher eine Sau denn ein Christ geworden“. Durch diese Schrift Luthers entstand in jüdischen Kreisen die Hoffnung, es könne zu einem Neuanfang im Verhältnis zwischen Juden und Christen kommen.

Doch zwanzig Jahre später, 1543, erscheint ein im Duktus völlig anderer Text Luthers. Schon der Titel „Von den Juden und ihren Lügen“ verrät, dass es sich um eine Schmähschrift handelt. Luther schlägt darin der Obrigkeit vor, dass sie jüdische Synagogen und Schulen „mit Feuer anstecken“, ihre Häuser „zerbrechen“ und die Juden „wie die Zigeuner in einen Stall tun“ soll. Zudem sollten ihnen ihre Gebetbücher genommen werden, worin „Abgötterei“ gelehrt werde, ihren Rabbinern sollte verboten werden, zu unterrichten. Furchtbar. Unerträglich. Diese so unfassbaren Äußerungen, die ich nur ungern zitiere, können nicht mit seiner Verbitterung, dass Juden nicht zur Kirche der Reformation übertraten, erklärt oder durch den „Zeitgeist“ gerechtfertigt werden. Sie werfen auf ihn und seine Reformation einen Schatten und sollten die Kirche, die sich nach ihm benannte, auf einen entsetzlichen Irrweg führen.

Die Schmähschrift von 1543 dient der Rechtfertigung für Diskriminierung, Ausgrenzung und Mord. Luthers Pamphlet wurde in der NS-Zeit häufig nachgedruckt, zum Beispiel unter dem Titel „Martin Luther und die Juden – weg mit ihnen!“ Vor dem Nürnberger Gerichtshof bezieht sich der NS-Hetzer Julius Streicher auf sie, um dann zu sagen: „Dr. Martin Luther säße sicher heute an meiner Stelle auf der Anklagebank.“ Aus Luthers Spätschrift hatte Streicher für sein Hetzblatt „Der Stürmer“ den in der NS-Zeit sprichwörtlich gewordenen Satz „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud‘ bei seinem Eid“ entnommen.

Bis auf wenige Einzelne versagte die evangelische Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, weil sie Menschen jüdischen Glaubens nicht schützte, sich dem Holocaust nicht vehement entgegenstellte. Erst nach 1945 begann sie, den verhängnisvollen Weg des Antijudaismus zu verlassen. Der jüdisch-christliche Dialog hat neu entdecken lassen, was der Apostel Paulus über das Verhältnis von Christen und Juden schreibt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Römer, 11.18). Das war eine lange und bittere Lerngeschichte für die evangelische Kirche. Heute sagt die Evangelische Kirche in Deutschland: Wer Juden angreift, greift uns an. Die Reformatoren selbst haben gesagt, die Kirche müsse sich immer weiter reformieren, dies ist ein entscheidender Punkt, der sich in der Lerngeschichte bewahrheitet hat.
Das gilt auch mit Blick auf Muslime. Wetterte Luther wider die Türken, so leben wir heute gemeinsam in einem Land. Gleichzeitig sind Christen in aller Welt die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft. Wir brauchen einen Dialog und er muss theologisch gegründet sein.

►Zum Reformationsjubiläum 2017 ist offensichtlich, dass der Dialog der Religionen Anliegen des Protestantismus ist. Diese Lerngeschichte kann gefeiert werden.

2.3. Die Soli – Konzentration in säkularer Zeit

2017 werden wir ein Reformationsjubiläum in einer Zeit der Säkularisierung feiern. Dabei können die vier „Soli“ hilfreich sein zur Konzentration und Vermittlung des Glaubens.

Die Säkularisierung macht es schwerer, zu erklären, was Glauben bedeutet. Viele Menschen haben sich abgewendet, ein immenser Glaubens- und auch Traditionsverlust ist im Land der Reformation zu verzeichnen. Viele Menschen haben keinerlei Bezug mehr zu Religion.

Diese Herausforderung sollten die Kirchen der Reformation offensiv annehmen. Sie haben sich ja aus dem geistlichen Leben und biblischen Nachdenken entwickelt. Luthers Klostererfahrung war für ihn ebenso wichtig wie sein Bibelstudium, Zwingli begann 1518 nach einer Zeit im Kloster in Zürich zu predigen. Dabei ist es entscheidend, eine Sprache zu finden, die den Glauben in die heutige Zeit vermittelt, so wie es Luther und auch Zwingli auf je eigene Weise vermochten. Die Übersetzung der Bibel als Gesamtwerk in die deutsche Sprache, die Messe in der Sprache des Volkes, Schriften in deutscher Sprache waren Luther ein zentrales Anliegen, damit Menschen selbst von ihrem Glauben sprechen konnten. Dem „Volk aufs Maul schauen“ bedeutete dabei nicht, ihm nach dem Mund zu reden.

Auch wenn umstritten ist, wie viele „soli“ es waren und wann sie in dieser Kombination entstanden sind: Die Konzentration war hilfreich, um die zentralen Glaubensanliegen zu vermitteln.

Solus Christus – allein Jesus Christus ist entscheidend. Er, nicht die Kirche, hat Autorität für Gläubige.

Sola gratia – allein die Gnade Gottes rechtfertigt dein Leben, nichts, was du tust oder leistest.

Sola scriptura – allein die Schrift, die Bibel, ist Grundlage des Glaubens, nicht Dogmen oder Lehren der Kirche.

Sola fide
– allein der Glaube ist entscheidend, wiederum nichts, was du tust, schaffst und auch nicht, woran du scheitern magst im Leben.

►In säkularer Zeit ist es für die Kirchen wichtig, an die Sprachkraft als reformatorisches Erbe anzuknüpfen, um Glauben zu vermitteln. Feiern können wir, wo das gelingt.

2.4. Frauen

Es ist das erste Jubiläum, bei dem die große Mehrheit der evangelischen Kirchen in aller Welt Frauen im ordinierten Amt und auch als Bischöfinnen akzeptiert.

Für Martin Luther wurde immer klarer: Die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakrament. Hier sagt Gott einem Menschen Gnade, Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu. Und alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können das nicht rückgängig machen. Gehen wir zur Taufe zurück, brauchen wir keine Buße, kein Bußsakrament: Wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Gottes. „Baptizatus sum“ – ich bin getauft. In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und daran Halt gefunden.

Und: Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst, hat Luther erklärt. Von daher hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind getauft und damit stehen sie auf gleicher Stufe. Das war in seiner Zeit eine ungeheuerliche Provokation! Frauen galten als unrein, wenn sie nicht Jungfrau waren, Hexenwahn grassierte – von dem sich Luther allerdings leider nicht entschieden distanzierte. Erst nach langen Debatten wurde Frauen überhaupt eine unsterbliche Seele zugestanden. In solcher Zeit zu sagen: Wir sind getauft und damit vor Gott gleich, war ein theologischer Durchbruch und zugleich eine gesellschaftliche Revolution. Aus diesem Taufverständnis entwickelte sich durch die Jahrhunderte die Überzeugung, dass Frauen in der Tat jedes kirchliche Amt wahrnehmen können. Mir ist es wichtig, die theologischen Hintergründe deutlich zu machen, gerade da, wo von anderen Kirchen die Ordination von Frauen in Pfarr- und Bischofsamt angefragt wird.

Zölibatäres Leben galt als vor Gott angesehener, der gerade Weg zum Himmel sozusagen. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Signal, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern, Mönchen und Nonnen, war ein theologisches Signal. Die Theologin Ute Gause erklärt, sie sei eine Zeichenhandlung, die „etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens“[2].  Nun wird ja den Evangelischen im Land eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren aber wollten gerade deutlich machen: Weltliches Leben ist nicht weniger wert als priesterliches oder klösterliches. Es geht darum, im Glauben zu leben im Alltag der Welt.

Das hat viele Konsequenzen. Eine ist beispielsweise, dass in den ersten Kirchenordnungen der Reformatoren Hebammen aufgewertet werden als Kirchendienerinnen. Eine Frau, die geboren hat, wird nicht mehr als unrein angesehen, sondern sie soll umsorgt und betreut werden.

Luther konnte dabei übrigens ungeheuer modern sein. Es geht darum, ob gestandene Mannsbilder sich lächerlich machen, wenn sie Windeln waschen. Hören wir also mal kurz original Martin Luther:

„Wenn ein Mann herginge und wüsche die Windeln oder täte sonst an Kindern ein verachtet Werk, und jedermann spottete seiner und hielte ihn für einen Maulaffen und Frauenmann, obwohl er‘s doch in […] Christliche[m] Glauben täte; Lieber, sage, wer spottet hier des anderen am feinsten? Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturen, nicht, weil er die Windeln wäscht, sondern weil er‘s im Glauben tut. Jener Spötter aber, die nur das Werk sehen und den Glauben nicht sehen, spottet Gott mit aller Kreatur als der größten Narren auf Erden; ja sie spotten nur ihrer selbst und sind des Teufels Maulaffen mit ihrer Klugheit.“[3]

Das heißt: Es kommt nicht auf das Geschwätz der Leute an. Es kommt darauf an, dass ich weiß, wer ich bin, dass ich mein Leben vor Gott und in Gottvertrauen lebe und damit Rechenschaft gebe von der Hoffnung, die in mir ist. Und: Es ist Teil der Schöpfung Gottes, Kinder großzuziehen, es ist Teil der Existenz von Mann und Frau. Oder: „An der Art, wie beide im Vollzug täglicher Aufgaben miteinander umgehen, zeigt sich, ob sie glauben, was sie bekennen.“[4]

►Beim Jubiläum 2017 ist deutlich: Kennzeichen der evangelischen Kirche ist es, dass aus theologischer Überzeugung Frauen Pfarrerin sein können und auch Bischöfin.
Es kann ein Fest werden, wenn das frohgemut sichtbar wird.

2.5. Überwinden von Spaltung

Das Reformationsjubiläum 2017 ist das erste nach der Leuenberger Konkordie von 1973.

Die reformatorische Bewegung selbst hat sich gespalten und immer wieder gab es im Protestantismus Abspaltungen wie etwa jüngst in der Lutherischen Kirche in den USA über die Frage der Homosexualität.

In Europa gab es mit der Leuenberger Konkordie 1973 ein starkes Signal, dass und auch wie solche Spaltung überwunden werden kann. Trotz aller Differenzen können sich Reformierte, Lutheraner und Unierte auf der Grundlage der Konkordie gegenseitig als Kirchen anerkennen, die Ämter anerkennen und miteinander Abendmahl feiern. Auch wenn diese Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen manches Mal als „Minimalökumene“ diskreditiert wurde und Kardinal Kasper erklärt hat, die römisch-katholische und die orthodoxe Kirche könnten dieses Modell nicht mitvollziehen: Es ist ein gelebtes Modell, Spaltung zu überwinden. Das Verschiedene muss nicht trennend sein.

Eine Lerngeschichte zeigt sich auch mit Blick auf die sozialen Bewegungen und die Auseinandersetzung zwischen Luther und Thomas Müntzer. Die Frage des Widerstandes zwischen dem Gebot, der Obrigkeit untertan zu sein und dem Gebot, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, wird seit der Zeit des so genannten Dritten Reiches offen und kontrovers diskutiert.

Und mit Blick auf die als Täufer und Schwärmer Verfolgten der Reformationszeit hat es 2010 einen Bußakt und eine Bitte um Versöhnung durch den Lutherischen Weltbund gegenüber den Mennoniten als ihren geistlichen Erben gegeben.

►Das Reformationsjubiläum 2017 kann die Leuenberger Konkordie als gelebtes Modell Spaltung zu überwinden hervorheben, das ist ein Grund zum Feiern.

2.6. Bildung

Das Reformationsjubiläum 2017 ist das erste, das in einer Zeit gefeiert wird, in der die historisch-kritische Methode der Bibelexegese weitgehend anerkannt ist.

Die Vorstellungen des Mittelalters hinter sich lassend ging es Luther in der Wahrnehmung der „Freiheit eines Christenmenschen“ darum, dass jede Frau und jeder Mann eigenständig den Glauben an den dreieinigen Gott bekennen kann und verstehend das Bekenntnis zu Jesus Christus bejaht. Die Voraussetzung für einen mündigen Glauben war für Luther, dass jede und jeder selbst die Bibel lesen konnte und so gebildet war, dass er den Kleinen Katechismus, das Bekenntnis für den alltäglichen Gebrauch, nicht nur auswendig kannte, sondern auch weitergeben konnte und damit sprachfähig im Glauben war. Grundlage dafür war eine Bildung für alle und nicht nur für wenige, die es sich leisten konnten oder durch den Eintritt in einen Orden die Chance zur Bildung erhielten.

Bildungsgerechtigkeit und Bildungsteilhabe – Martin Luther war der erste, der diese Themen öffentlich machte und sich vehement dafür einsetzte. Er hatte dafür theologische Gründe: Glaube war für ihn gebildeter Glaube, also ein Glaube nicht aus Konvention und nicht aus spiritueller Erfahrung allein, sondern durch die Bejahung der befreienden Botschaft des Evangeliums. Dass Glauben immer gebildeter Glauben ist, ist in seiner eigenen Biographie tief begründet. Nur durch das intensive theologische Studium der Bibel, aber auch von Augustinus-Schriften ist er zur befreienden Rechtfertigungseinsicht gelangt. Glaube ist für Luther immer eigenverantwortlicher Glauben: Der einzelne Christ muss sich vor Gott verantworten und ist als einzelner von Gott geliebt. Die Kirche ist die Gemeinschaft der Getauften, aber nicht mehr die Heilsmittlerin für den Einzelnen. Glauben als gebildeter und eigenverantwortlicher Glaube ist der wesentliche theologische Beweggrund dafür, dass Luther sich vehement für eine öffentliche Bildung einsetzte, damit alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit zur Bildung erhielten. Luther verdanken wir in Deutschland die Volksschulen als „Schulen für alle“ – es ist interessant, aber von seinem theologischen Ansatz her nur konsequent, dass er sich selbstverständlich auch für die Bildung von Mädchen einsetzte.

Der Schwerpunkt Bildung gilt für alle Reformatoren: Melanchthon war Lehrer aus Leidenschaft, ja, wird auch aufgrund seiner Bemühungen um eine Universitätsreform als „Lehrer der Deutschen“ bezeichnet. Martin Bucer wird von Lutheranern wie von Reformierten als Kirchenlehrer angesehen. Ulrich Zwingli lernte Griechisch, um das Neue Testament im von Erasmus von Rotterdam editierten Urtext lesen zu können. Er selbst besaß die für damals sehr große Zahl von 100 Büchern und gründete in seiner Glarner Pfarrei 1510 eine Lateinschule. Und dann das Genfer Kolleg, von Johannes Calvin gegründet, das die reformierte Bildungsbewegung in viele Regionen Europas brachte!

Das war und bleibt reformatorisches Anliegen: Denken, Reflektieren, Nachdenken, Verstehen können, Fragen dürfen. Stattdessen wird der Religion bis heute die Haltung unterstellt: nicht fragen, schlicht glauben! Fundamentalismus – ob jüdischer, christlicher, islamischer oder hinduistischer Prägung – mag Bildung und Aufklärung nicht. Jedwede Ausprägung von Fundamentalismus stellt sich eine Kernbotschaft der Reformation entgegen: selbst denken! Frei bist du schon durch die Lebenszusage Gottes. Im Gewissen bist du niemandem untertan und unabhängig von Dogmatik, religiösen Vorgaben, Glaubensinstanzen.

Vielleicht ist einer der wichtigsten Beiträge der Reformation, dass es ihr um gebildeten Glauben geht, einen Glauben, der verstehen will, nachfragen darf, auch was das Buch des christlichen Glaubens betrifft, die Bibel. Es geht nicht um Glauben allein aus Gehorsam, aus Konvention oder aus spirituellem Erleben. Sondern es geht um das persönliche Ringen um einen eigenen Glauben.

Heute können wir sagen, dass dieses Bibellesen auch beinhaltet, die Entstehung der biblischen Bücher wahrzunehmen, historisch-kritische Exegese zu betreiben. Kürzlich schrieb mir ein Student, nachdem ich in Wittenberg in einer Fernsehpredigt gesagt hatte, wir wüssten nicht genau, wer den Epheserbrief geschrieben habe, er könne mir da helfen, es sei ganz einfach, am Ende stehe doch: Paulus.

►Beim Reformationsjubiläum 2017 muss deutlich sein: Den Kirchen der Reformation geht es um gebildeten Glauben, und der schließt auch den historisch-kritischen Blick auf den biblischen Text ein. Diese Horizonterweiterung lässt sich feiern.

2.7. Freiheit

2017 wird das erste Reformationsjubiläum sein, bei dem es in Deutschland, ja in den meisten Staaten der Welt eine klare Trennung von Kirche und Staat gibt und ein klares Bekenntnis zu Verfassung und Menschenrechten.

Luthers Freiheitsbegriff hat in der Weiterentwicklung zu mancher Freiheit heute geführt. „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ als Schlagworte der französischen Revolution haben im Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen durchaus Wurzeln, auch wenn die Aufklärung oftmals gegen den Widerstand der Kirche als Institution durchgesetzt werden musste. Die Frage wird sein, ob Christinnen und Christen sich ihres Erbes bewusst genug sind, um energisch für die Freiheit einzutreten – für die eigene, aber vor allem auch für die Freiheit des und der Anderen. Es geht zuallererst um die Freiheit, die uns Christus schenkt. In der Konsequenz geht es immer auch um Freiheit des Gewissens, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit.

Wir können heute als zentrale Leistung der Reformation sehen, dass Glaube und Vernunft beieinander bleiben und auch den Weg zur Aufklärung vorbereitet haben, so sehr sich die Kirchen lange gegen sie gesträubt haben. Wir sagen heute: Es ist gut, dass Staat und Religion getrennt sind – für beide Seiten! Eine Art „Gottesstaat“ oder auch „Diktat der Religion“ fördert die Freiheit nicht. Gott sei Dank leben wir in einer freien Gesellschaft, in der Menschen Mitglied einer Religionsgemeinschaft sein können oder nicht. Das entspricht der „Freiheit eines Christenmenschen“.

Das hat auch politische Konsequenzen. Nach der Erfahrung des Versagens der Kirche und auch ihrer Verführbarkeit in der Zeit des Nationalsozialismus wurde gelernt, dass Kirche zum freien Wort greifen muss, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Das sind Erfahrungen der Kirche in der DDR. Das sind auch Erfahrungen in aller Welt: in Südafrika, in Argentinien, im Iran etwa.

►Das Reformationsjubiläum 2017 muss auch die politische Dimension des reformatorischen Freiheitsbegriffes aufzeigen. Wir können feiern, dass sie heute lebendig ist.

2.8. Rechtfertigung

2017 feiern wir Reformationsjubiläum in einer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft.

Luthers Frage nach dem gnädigen Gott verstehen viele Menschen auf Anhieb heute nicht. Aber die Frage, ob ihr Leben Sinn macht, treibt sie um. Was, wenn ich nicht mithalten kann, weil ich keinen Arbeitsplatz habe, nicht genug verdiene, nicht gut genug aussehe? Die Lebenszusage, die Luther gefunden hat: Gott hat dir schon lange Sinn zugesagt, ganz gleich, was du leisten kannst. Dies gilt es für unsere Zeit zu übersetzen.

Luther entdeckte, dass es nicht die menschliche Leistung ist, die vor Gott einen Anspruch auf Heil erwirtschaftet. Vielmehr ist es Gottes Zuwendung aus Gnade. Was das bedeutet, können wir noch heute mit der Redewendung „Gnade vor Recht“ verstehen. Ein Mensch, der nach Recht und Gesetz zu verurteilen ist, darf doch auf Gnade oder auch Begnadigung hoffen. Das verstehen wir auch heute sehr wohl. Für Martin Luther war die entscheidende Erkenntnis, dass durch Jesus Christus diese Gnade allen, die an ihn glauben, zugänglich wird. Gerade wenn der Mensch begreift, dass er selbst nicht in der Lage ist, ein vollkommenes Leben nach den Geboten Gottes zu führen, kann er ganz auf Jesus Christus vertrauen. Das bedeutet, auch da wo Recht und Gesetz verurteilen, was der Mensch tut, redet, denkt, verurteilt doch Gott nicht. Diese Erfahrung nennt Luther Rechtfertigung allein aus Glauben. Ein solcher Mensch ist für ihn ein Gerechtfertigter. In der Konsequenz ist das eine Erfahrung der Freiheit, der Befreiung aus der Angst vor Hölle und Verdammnis. Und aus dieser Freiheit heraus wird der Mensch nun tun, was er kann, um so zu leben, wie es Gottes Gebote vorgeben, wohl wissend, dass er daran immer wieder scheitern kann.

Was kann das für uns heute bedeuten, sind wir doch kaum von Ängsten vor der Hölle geplagt, es sei denn, es wäre die Hölle auf Erden? Vielleicht können wir uns mit in unserer Zeit gebräuchlichen Begriffen Luthers Rechtfertigungslehre annähern:

Liebe: Viele Menschen dürfen erleben, was es bedeutet, geliebt zu werden. Eine wunderbare Erfahrung. Jemand liebt dich, trotz deiner Schwächen, obwohl du Fehler machst. Eine junge Frau sagte kürzlich strahlend: „Dass er mich überhaupt ansieht, hätte ich niemals erwartet.“ Dieses Strahlen des Geliebtseins, scheinbar grundlos, aber doch zuverlässig, vertrauensvoll, bringt jedem, der es sieht, ein Lächeln ins Gesicht. So ist Liebe! Wir verstehen es nicht, aber sie trägt uns, macht uns glücklich.

Ganz ähnlich erfährt das ja auch ein Kind. Der Schriftsteller Martin Brussig sagte, überwältigt von der Erfahrung der Gefühle für seinen kleinen Sohn, er liebe ihn so sehr, dass er ihn auch lieben würde, wenn er ein Schwerverbrecher werden würde. In genau diesem Sinne bezeichnen sich Christinnen und Christen oft als „Kinder Gottes“. Wie die Liebe der Mutter oder des Vaters auch Tiefpunkte der Beziehung oder des Fehlverhaltens überdauert, so bleibt Gottes Liebe zu uns bestehen. Wenn wir uns vorstellen, dass Gott uns so liebt, dass Gott uns überhaupt ansieht, obwohl wir so viele Schwächen und Fehler haben, löst das mehr als ein Lächeln aus. Es führt zu Lebensfreude, Glück und einer Haltung der Dankbarkeit. Wir wollen Gott dafür ein Loblied singen, die Freude mit anderen teilen – deshalb feiern wir miteinander Gottesdienst. Eine überwältigende Erfahrung von Liebe kann dein Leben verändern. Du siehst dich und dein Leben plötzlich in einem ganz neuen Licht. Das Leben macht Sinn, weil dir diese Liebe zugesagt ist.

Ein zweiter Begriff, der Luthers Erfahrung übersetzen kann, ist Anerkennung. Gott erkennt den Menschen an, unabhängig von seiner Leistung. Wie wichtig Anerkennung im Leben ist, erfährt jeder Mensch. Von anderen respektiert werden, ist ein Bedürfnis. „Respekt“ ist auch in der Jugendkultur ein gewichtiger Begriff. Anerkannt zu sein, obwohl ich für diese Anerkennung nichts getan habe, sie unverdient erhalte, ist eine zwischenmenschlich seltene Erfahrung. Wo das geschieht, entsteht eine tiefe Beziehung. Erfährt der Mensch also Anerkennung durch Gott, wird ihm das Wort von dieser Anerkennung gesagt, kann das zur überwältigenden Erkenntnis werden: Ich bin anerkannt, auch wenn ich es nicht verdient habe. Einfach so. Geschenkt. Theologisch gesprochen: aus Gnade. „Weil Gott dich ansieht, bist du eine angesehene Person“ – mit diesem Bild wird das heute gern beschrieben. Die Antwort des Menschen darauf ist, dass er sich Gott anvertraut, glaubt.

Ein dritter Versuch der Beschreibung kann durch den Begriff Würdigung erfolgen. „Niemand würdigt, was ich leiste!“, das ist eine alltägliche Erfahrung. Aber auch: „In Würdigung seiner Verdienste verleihen wir ihm...“. Gewürdigt werden heißt, erleben dürfen, dass einem Menschen von anderen Respekt zugesprochen wird. Unter Menschen wird Würdigung wohl nie ohne eine Vorleistung erfolgen. Wenn Gott aber den Menschen würdigt, einfach so, unverdient, dann zeigt das Gottes Haltung zu ihm. Solche Würdigung führt dann in der Tat zu unantastbarer Würde, wie sie unsere Verfassung aussagt. Dies tut sie ja gegen die Erfahrung, dass Würde immer wieder angetastet wird, durch Gewalt, Zurücksetzung, Enttäuschung, Benachteiligung, Ungerechtigkeit. Gottes Zusage dagegen ist unverbrüchlich, weil sie aus Freiheit erfolgt und Freiheit erzeugt.

Allen drei Annäherungen an Luthers Rechtfertigungslehre gemeinsam ist: Der Mensch wird nicht bemessen nach dem, was er nach außen hin darstellt oder wie er persönlich dasteht, sondern er ist von Gott geliebt, anerkannt, gewürdigt ganz unabhängig von Bildungsstand, Einkommen, Ansehen. Die Zuwendung Gottes ist nicht abhängig von dem, was der Mensch tut oder denkt. Das hat Martin Luther als so befreiend empfunden. Und solche Befreiungserfahrungen können wir auch heute nachvollziehen, gerade in einer Gesellschaft, die Menschen beurteilt nach ihrer Leistung.

In einer ökonomisch ausgerichteten Welt lässt sich die befreiende Erfahrung Luthers so beschreiben: Das Lebenskonto des Menschen ist vor Gott in den schwarzen Zahlen. Nichts, was der Mensch tut, denkt, beabsichtigt, kann es in die roten Zahlen versetzen. Mit der Taufe befindet sich der Mensch als Kind Gottes in einem Segenskreis und kann gar nicht mehr herausfallen. Die Antwort des Menschen auf diese befreiende Erfahrung ist der Glaube.

Die Würde des Einzelnen wird auch durch eigenes Scheitern nicht in Frage gestellt. Daraus entsteht eine Kraft des Glaubens, deren Erfahrung die Bedeutung der Religion heute wieder lebendig werden lässt. Das kann gerade in einer Zeit entscheidend sein, die, geprägt von einer Konsum- und Ablenkungskultur, oberflächlich zu werden scheint.

►Das Reformationsjubiläum 2017 wird die Herausforderungen der Leistungs- und Erfolgsgesellschaft deutlich formulieren können.

2.9. Globalisierung

2017 wird das erste Reformationsjubiläum in globalisierter Perspektive gefeiert.

Wir leben in einer globalisierten Welt. Aber das war durchaus auch im 16. Jahrhundert schon der Fall. Wer etwa die Unterlagen über den Reichstag zu Worms 1521[5]  näher betrachtet, begreift, dass Luthers Auftritt dort zwar ein gewichtiges, aber nur eines der Themen war. Kaiser Karl V. strebte eine Reichsreform an. Belgrad war durch Sultan Süleyman I. erobert worden, die so genannte „türkische Bedrohung“ war ein entscheidendes Thema. Die Sicherung der Herrschaft im Bereich Spaniens war entscheidend auch mit Blick auf die Kolonien. Im Königreich Valencia war es zu sozialrevolutionären Bewegungen gekommen. Der Blick war auch auf Großbritannien, Frankreich und Italien gerichtet. Wir können sehen, dass angesichts der europäischen Expansion vor allem durch die iberischen Gesellschaften Luther selbst eine sehr eingeschränkte Weltsicht hatte. Heinz Schilling schreibt in seiner neuen Biografie: „Das Weltbild des Reformators [blieb] bis zu seinem Tod kontinental und von den neuen Welten seltsam unberührt“[6]. Und doch war die Reformation ein europäisches Ereignis, das bald internationale Ausmaße annahm.

►Das Reformationsjubiläum 2017 ist in einer globalisierten Perspektive zu sehen. Wir können feiern, dass die Wiederentdeckung des Evangeliums sich in alle Welt verbreitet hat.

3. Ökumene

Die zehnte Besonderheit 2017 will ich als eigenen Punkt hervorheben: Es ist das erste Jubiläum nach 100 Jahren ökumenischer Bewegung. Das betrifft einerseits den römischen Katholizismus. Die Kirchen der Reformation verstehen sich ebenso wie die römisch-katholische Kirche als Erben der Alten Kirche (Luther, Wider Hans Worst 1541) und so geht es um eine gemeinsame Geschichte. Die Reformationsepoche hat alle verändert. Es handelt sich nicht um eine Spaltung, sondern um eine Ausdifferenzierung der abendländischen Kirche, die sich im ganzen 15. und 16. Jahrhundert andeutete und notwendig war in einer Zeit, in der auch im staatlichen Bereich der Universalismus etwa eines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nicht mehr zu halten war.

Die römisch-katholische Kirche heute ist nicht dieselbe wie die, mit der der Luther und die anderen Reformatoren im 16. Jahrhundert in einen so tiefen Konflikt gerieten. Schon das Konzil zu Trient etwa verabschiedete sich von einem Ablass gegen Zahlung von Geld und das Zweite Vatikanische Konzil im letzten Jahrhundert führte die Messe in der Volkssprache ein. Natürlich, viele der reformatorischen Anfragen etwa an Papsttum, Heiligenverehrung und Amtsverständnis bleiben bestehen. Martin Luther aber wollte seine eigene Kirche reformieren und nicht spalten. Ein rein abgrenzendes Reformationsjubiläum wäre daher nicht sinnvoll.

Weihbischof Hans-Jochen Jaschke aus Hamburg hat erklärt, Luthers 95 Thesen würden heute auch von römisch-katholischer Seite akzeptiert, und gesagt, er teile Luthers Kritik am damaligen Ablasshandel.[7] Und 1999 wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung der römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes zur Rechtfertigung unterzeichnet. Es wurde festgehalten: So wie die beiden Kirchen ihre Lehre heute formulieren, werden sie von den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts nicht getroffen. Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Gemeinsamen Erklärung in Augsburg am 31. Oktober war ein feierliches Ereignis. Es bedeutet nicht – und das war allen Beteiligten klar –, dass nunmehr die Lehrbegriffe der unterschiedlichen Traditionen auf einem gleichen Verständnis beruhen. Aber die Unterzeichnung wurde begrüßt als ein Schritt auf einem notwendigen Weg der Annäherung. Ein Durchbruch schien nahe nach dem Motto: Diese Erklärung wird die Unterschiede nicht beseitigen, hoffentlich aber zur Möglichkeit führen, einander gastweise zum Abendmahl einzuladen. Dass es gelungen ist, zumindest gemeinsame Formulierungen zu finden zu einer theologischen Frage, an der einst die Einheit zerbrochen ist, dafür können wir dankbar sein. 

Und dann: Die römisch-katholische Kirche hat im Jahr 2000 mit der Erklärung „Dominus Iesus“ durch die Glaubenskongregation ein klares Zeichen gesetzt. Sie selbst sieht sich weiterhin, trotz aller ökumenischen Fortschritte, allein als die eine, wahre, heilige Kirche an. Die einzige Kirche, die wahre Kirche Jesu Christi ist. „Die kirchlichen Gemeinschaften hingegen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn; die in diesen Gemeinschaften Getauften sind aber durch die Taufe Christus eingegliedert und stehen deshalb in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der Kirche.“

Natürlich könnten wir uns jetzt zurücklehnen und verzweifeln und sagen, wir sind evangelisch bzw. römisch-katholisch, wir wissen warum und das aus gutem Grund. Lasst uns zurückkehren zu den feinen aber klaren Trennungen: orthodox, römisch-katholisch, reformatorisch. Das halte ich allerdings für einen Kurzschluss. Wir leben in einer Situation, in der Europa entsteht. Europa ist für Christinnen und Christen eine Chance und eine Herausforderung. Gewiss gibt es das christliche Abendland nicht mehr in Reinkultur. Davon müssen wir uns verabschieden. (Wobei ich daran zweifle, ob es dieses so überhaupt je gegeben hat...). Von den 720 Millionen Menschen in Europa sind allerdings immerhin mehr als 500 Millionen Christinnen und Christen! Ich halte es für vollkommen falsch, in das große Lamento über die Säkularisierung einzustimmen und sich zurückzuziehen. Christinnen und Christen haben in Europa Werte gesetzt, die diesen Kontinent prägen. Lange genug haben sie darum gerungen, sind selbst durch viele Irrtümer und Versuchungen gegangen.

Und schließlich gibt es ja auch Aufbruchszeichen, denken wir etwa an die Charta Oecumenica, die von den europäischen Kirchen 2001 beschlossen wurde oder auch an die Ökumenischen Kirchentage in Berlin 2003 und in München 2010, die ökumenisch gestaltet wurden – da zeigte sich deutlich: Uns verbindet mehr als uns trennt. Dazu trägt auch das säkulare Umfeld bei. Salopp gesagt: War es für unsere Familie vor 30 Jahren noch eine Katastrophe, als eine lutherische Cousine einen Katholiken heiratete, ist heute jede christliche Familie froh, wenn die Kinder christlich orientierte Ehepartner bzw. – partnerinnen finden!

Der Magdeburger Bischof Dr. Gerhard Feige, Vorsitzender der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz, hat im jüngsten Kirchenmagazin mit Blick auf 2017 geschrieben: „Insgesamt wäre es entgegen sonst oftmals üblicher Selbstbespiegelungs- oder Profilierungstendenzen für katholische und evangelische Christen auf allen Ebenen sicher entkrampfend, sich gegenseitig noch mehr im Lichte Jesu Christi zu betrachten und neidlos ins Wort zu fassen, was man aneinander schätzt und vielleicht sogar bewundert, worin man spezielle Begabungen erkennt und den Geist Gottes eindrucksvoll am Wirken sieht. Dabei würde bestimmt auch auffallen, was an der evangelischen Kirche katholisch und an der katholischen Kirche evangelisch ist, was man bewahrt, im Gegen- und Miteinander seit der Reformation wiederentdeckt oder von der anderen als Bereicherung empfangen hat.“[8] Das klingt doch hoffnungsvoll nach vorn gerichtet.

Um solche gegenseitige Bereicherung oder auch die kreative Kraft der konfessionellen Differenz erfahrbar zu machen, braucht es für 2017 Zeichen und Symbole. Der derzeitige Papst ist genial darin, sie zu finden. Wie wäre es mit gemeinsamen ökumenischen Pilgerwegen? Pilgern ist nicht rückwärts orientiert, sondern nach vorn gerichtet! Da könnte der Rat der EKD mit der Deutschen Bischofskonferenz auf ökumenischen Pfaden pilgern, aber auch die Gemeinden vor Ort könnten sich beteiligen. So wie am 29. März 2014 stattfindende Earth Hour weltweit ins Internet gestellt wurde, während der für eine Stunde die Lichter ausgingen, um auf die Klimafrage aufmerksam zu machen, könnten wir im Internet austauschen, wer wo miteinander pilgert und welche ökumenischen Erfahrungen wir machen! Vor allem aber: Es besteht die Chance, dem Reformationsjubiläum auch eine deutlich ökumenische Dimension zu geben. Gerade der jüngste Aufruf prominenter römisch-katholischer Laien ermutigt dazu. Denn das ist doch glasklar: Bei aller Differenz und dem je eigenen Profil verbindet uns mehr als uns trennt. Und: In einer säkularisierten Gesellschaft ist ein gemeinsames Zeugnis der Christinnen und Christen von großem Gewicht: Je stärker wir gemeinsam auftreten, desto eher werden wir gehört.

Zudem: Im 20. Jahrhundert haben die Kirchen Europas gelernt: Diese christliche Kirche, die wir jeden Sonntag im apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen, ist eine. Eine heilige, christliche Kirche. Sie ist die Kirche, die wir glauben, die in Jesus Christus vorgegeben ist. Diese Kirche manifestiert sich in vielen Kirchen weltweit. In der Vielfalt der Kontexte und Denominationen ist die Una Sancta, die eine heilige christliche Kirche zu finden. Jede Kirche ist nur eine Provinz der Weltchristenheit (Ernst Lange). Inzwischen gibt es Kirchen, die sich vollkommen loslösen von den dogmatischen Differenzen der europäischen Mutterkirchen. Nehmen wir die Kirche des Evangelisten Simon Kimbangue in Zaire, eine der größten Kirchen Afrikas. Diese ist allerdings noch Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen. Es gibt inzwischen Schätzungen, dass nahezu die Hälfte aller Christinnen und Christen auf der Welt nicht mehr einer der traditionellen konfessionellen Kirchen – römisch-katholisch, reformatorisch oder orthodox – angehören, sondern einer der großen freien christlichen Bewegungen im Pfingstbereich.

►2017 wird ein Reformationsjubiläum mit ökumenischer Dimension sein. Das ist neu und ein Grund zum Feiern.

Zuletzt:

Das sind zehn Hinweise, welche Akzente das Reformationsjubiläum 2017 für Kirche und Gesellschaft setzen können: Vielfalt, Ökumene, Dialog der Religionen, Konzentration in säkularer Zeit, die Rolle der Frauen, Spaltung, Bildung, Freiheit, Rechtfertigung in der Leistungsgesellschaft und Globalisierung. Die Lutherdekade als Weg dorthin kann dazu beitragen, das zu entfalten. Die Evangelische Kirche in Deutschland freut sich, dass es kein innerprotestantisches Jubiläum sein wird, sondern eines, das offen ist für die weltliche Beteiligung, die ökumenische Dimension und den internationalen Horizont. Das ist neu. Und der richtige Akzent, um im 21. Jahrhundert einen Auftakt zu setzen für die beständig notwendige Erneuerung der Kirche. Denn wie sagten schon die Reformatoren: Ecclesia reformata semper reformanda.


Fußnoten:

  1. Vgl. Hartmut Lehmann, Die Deutschen  und ihr Luther, FAZ 26.08.08, Nr. 199, S.7.
  2. Ute Gause, Antrittsvorlesung, unveröffentlichtes Manuskript, S. 2.
  3. EL WA 10, 296f. (Scharffenorth. S. 219)
  4. Gerta Scharffenorth, Freunde in Christus, in: „Freunde in Christus werden…“, hg.v. Gerta Scharffenorth und Klaus Thraede, Gelnhausen 1977, S. 183ff.; S. 220.
  5. Vgl. Der Reichstag zu Worms von 1521, hg. v. Fritz Reuter, Worms 1971.
  6. Heinz Schilling, Martin Luther, München 2012, S. 26.
  7. Vgl.: Weihbischof kritisiert Ablasshandel zu Luthers Zeiten – Jaschke: Katholiken akzeptieren Luthers Thesen, in: epd Zentralausgabe 212/31.10.2008, S.11f.
  8. Dr. Gerhard Feige, Ökumenische Bereicherung, in: Der Kirchentag. Das Magazin, 01/2014, S. 16f. S. 16.