Grußwort auf dem ökumenischen Empfang auf der Berlinale am 12. Februar 2017 in der Katholischen Akademie

Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter des Rates der EKD

Man tut es viel zu selten. Man kommt irgendwie nicht dazu, weil ständig sich anderes vordrängelt. Dabei sollte man genau dies immer tun und nie vergessen: Sich fragen, inwiefern das eigene Tun auch gut für andere ist; ob das, was man beruflich so zuwege bringt, auch einen Beitrag für die Allgemeinheit leistet und nicht nur für das eigene Weiterkommen.

Man fragt sich das viel zu selten, weil die Frage, ob das eigene Tun für einen selbst gut und förderlich, schon schwierig genug ist. Menschen zum Beispiel, die in der Filmindustrie arbeiten, sind mit einer Vielzahl epochaler Herausforderungen konfrontiert, die sie manchmal an den Rand dessen treiben, was sie zu leisten vermögen. Dabei haben sie beneidenswerterweise nicht das Problem, dass ihr Produkt an sich nicht mehr gewollt wäre. Die Menschen wollen immer noch und immer mehr Geschichten erzählt bekommen und beim Betrachten bewegter Bilder ins Staunen geraten. Nur wie wird aus diesen filmbedürftigen Menschen ein Publikum, das sich ansprechen, für das eigene Werkt begeistern, an einen bestimmten Ort locken und dann sogar zur Bezahlung der kinematographischen Dienstleistung motivieren lässt? Wie soll das gelingen, wenn das Kino nur noch eine Abspielstätte neben anderen ist – mit abnehmender Bedeutung –, wenn die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten institutionell zwar noch unangefochten sind, aber die Jüngeren zu wenig erreichen, wenn sich zwar langsam finanziell einträgliche Filmdienste im Internet etablieren, aber noch unklar ist, wie kleinere Filmproduktionen davon profitieren, wenn schließlich die großen Firmen aus den Vereinigten Staaten den Markt noch mehr dominieren, als dies früher schon der Fall war? Das sind keineswegs neue Fragen, aber sie stellen sich inzwischen mit einer Dringlichkeit, die einige ratlos machen kann.

Um noch eine heitere, aber ebenfalls ziemlich epochale Herausforderung anzufügen, die mich zurzeit beschäftigt: Was bedeutet es eigentlich für das Filme-Machen, wenn Jugendliche heutzutage Filme vor allem im Liegen, im Bett, intim und warm, ganz nah vor kleinen Bildschirmen anschauen? Es ist ja für Eltern adoleszenter Kinder – eine klassische Hauptzielgruppe des Kinos – ein vollkommen unverständliches Phänomen, dass diese Jugendlichen von heute immer so herumliegen. Sie stehen auf, gehen los, kommen zurück und legen sich sofort hin, um alles Weitere dann in eben dieser Position zu tun: Hausaufgaben machen, mit Freunden kommunizieren, essen, Filme schauen – ich nenne das die „Generation vertikal“. Man hat sich angewöhnt, angesichts der vielen guten Serien vom vertikalen Erzählen zu sprechen. Aber was bedeutet eigentlich das vertikale Zuschauen für die Produktion wie für die Rezeption von Filmen? Ob darüber schon einmal jemand nachgedacht hat?

All diese Fragen sind so groß und bedrängend, dass sie die andere Frage, inwiefern nämlich das eigene Filmschaffen einen guten gesellschaftlichen Beitrag leistet, normalerweise in den Hintergrund schiebt. Nun aber leben wir nicht mehr in normalen Zeiten, sondern steuern auf einen globalen Ausnahmezustand zu. Das hat sein Gutes darin, dass man der Fragen nach dem „gut für andere“ nicht mehr ausweichen kann. Diese Frage stellt sich jetzt unüberhörbar allen gesellschaftlichen Gruppen und hervorgehobenen Individuen – also auch den Filmmenschen (den Kirchenmenschen natürlich sowieso). Es ist ein gutes Zeichen, dass viele von ihnen dies erkannt haben und Stellung beziehen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hat dafür kürzlich Meryl Streep geliefert – ein Beispiel allerdings, das zugleich die ganze Fraglichkeit eines solchen Engagements offenkundig gemacht hat. Mit ihrer Rede bei den „Golden Globes“ hat sie ein Zeichen für die offene Gesellschaft und ihre Kultur gesetzt. Berufszyniker machen sich ja gern lustig über politisierende und moralisierende Film-Stars – manchmal nicht zu Unrecht. Aber so lange viele andere Meinungsführer den Mund nicht aufmachen (man denke nur an die sonst so selbstbewusst auftretenden Wirtschaftsführer, die sich mehrheitlich in vorauseilender Feigheit üben – aber vielleicht ändert sich daran gerade etwas) oder aber keine Aufmerksamkeit erhalten (man denke an die meisten Statements von kirchlichen Leitungsfiguren), ist es unerlässlich, wenn berühmte Schauspielerinnen nicht nur funkelnde Roben über rote Teppiche schieben, sondern den Wert der Demokratie öffentlich bekräftigen.

Zugleich aber stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit solcher Interventionen. Vor wenigen Wochen veröffentlichte die „New York Times“ eine Reihe von erschreckenden Grafiken. Diese zeigten, wie das Wahl- und Schauverhalten der Nordamerikaner zusammenhängt. Blaue Flächen an West- und Ostküste sowie um einige Großstädte herum hieß: Hier wird Clinton gewählt und „Big Bang Theory“ oder „Modern Family“ geschaut. Rote Flächen im Süden und in ländlichen Gegenden bedeutete: Hier wird der andere gewählt und „CSI“ oder „America‘s Got Talent“ geschaut. Wie soll da die Rede eines blauen Stars, und sei sie noch so gut, ein rotes Publikum erreichen? Oder wird sie nur die eigene blaue Gemeinde stabilisieren, zugleich aber die Gegner in ihre Gegnerschaft verhärten?

Diese Frage stellt sich auch für die Filme selbst (denn diese sind ja die eigentlichen Statements der Filmmenschen): Wie müssen Filme gedacht und gemacht, beworben und vertrieben werden, dass sie auf eine solche Weise gut für das Gemeinwesen sind, dass sie sogar diejenigen erreichen und überzeugen, die jetzt den Feinden der offenen Gesellschaft folgen? Wie sprechen wir die „anderen“ an und gewinnen sie für unsere gute Sache, wenn wir doch selbst so in unser eigenes Milieu und die eigenen weltanschaulichen Selbstverständnisse verstrickt sind? Diese Frage stellen wir Kirchenmenschen uns mit Blick auf unsere Gemeindearbeit, unsere Gottesdienste und unser gesellschaftliches Engagement. Diese Frage stellen sich aber offenkundig auch die Filmmenschen.

Natürlich ist das Kino keine moralische Anstalt. Kino ist Phantasie und Marketing, Geschäft und Traum, Wahrheit und Lüge, Sinn und Schein, Technik und Herz, Seele und Maschine, Skript und Märchen, Liebe und Gewalt, Eitelkeit und Kunst. Dennoch, es gibt so etwas wie ein „Kino der humanistischen Aufhellung“ (Georg Seeßlen, epd-film), und dieses gewinnt gerade jetzt eine neue Plausibilität und Dringlichkeit. Es ist gut für uns alle und besitzt höchste Zeitgenossenschaft, wie der Blick auf sein Gegenteil beweist: Denn was soll in diesen Tagen noch ein Film des von mir sonst sehr geschätzten Quentin Tarantino, wenn im Weißen Haus tatsächlich „Inglorious Basterds“ herrschen und „Pulp Fiction“ das neue Regierungsprogramm geworden ist? Ist da nicht ein „Kino der humanistischen Aufhellung“ viel aktueller? Es manifestiert sich in bewusst politischen Filmen wie „I, Daniel Blake“ und „Selma“, „Spotlight“ oder „Big Short“, auch in den (von mir etwas weniger geliebten) Culture-Clash-Comedies. Selbst ein Traum-Film wie „La La Land“ lässt sich heute als Zeugnis dafür betrachten, dass es im Leben um gute Gefühle und schöne Träume geht, dass die Liebe und nicht der Hass, Sehnsucht und nicht Gewalt wirklich der bessere Stoff für das Kino und auch für unser Leben ist.

Ich wünsche uns, dass diese Berlinale die unendliche Fülle dieses „Kinos der humanistischen Aufhellung“ vorstellt – mit Filmen aus aller Welt, dass sie sich über alle Hassgrenzen hinwegsetzt und die Armseligkeit von Einreisebeschränkungen beweist – und darin ein gutes Festival wird – für die Filmindustrie und darüber weit hinaus für unsere globale Gesellschaft und ihre Kultur. Und da passt es ganz wunderbar, dass wir heute unter uns Amir Esfandiari vom Fajr International Film Festival Teheran begrüßen können: Herzlich Willkommen!