Laudatio für Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Heinz-Horst Deichmann anlässlich der Verleihung des Karl-Barth-Preises der UEK, Herrenhäuser Kirche in Hannover

NIkolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Prof. Deichmann, sehr geehrte Familie Deichmann, sehr geehrte Damen und Herren,

„Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes“ (1. Petr 4,10). Mit diesem Wort hat die Union Evangelischer Kirchen in der EKD zu dieser festlichen Stunde eingeladen. Wahrscheinlich gibt es kein Bibelwort, das sich besser eignen würde als Losung für das, was wir jetzt vorhaben: Ihnen, lieber Herr Prof. Deichmann, den Karl_Barth-Preis der UEK zu verleihen. Sie selbst haben einmal erklärt: „Das ist die Leitlinie für mein Handeln als Christ und Unternehmer.“1 Den Menschen dienen als Zeuge des Herrn Jesus Christus in Wort und Tat. „Wortundtat“ ist, in einem Wort untrennbar zusammengeschrieben, der Name des von Ihnen gegründeten internationalen Hilfswerks.

Die Begegnung mit Karl Barth im Jahr 1946 hat Sie für Ihr Leben geprägt. Was Sie als knapp zwanzigjähriger Student bei ihm hörten, hat Sie im Rückblick auf den bis dahin gegangenen Lebensweg vergewissert und hat ihrem weiteren Lebensweg bis heute festen Grund und Richtung gegeben.[2]

Karl Barth hielt im Sommersemester 1946 als Gastprofessor in Bonn eine Vorlesung über das Apostolische Glaubensbekenntnis für Hörer aller Fakultäten. Die Vorlesung erschien ein Jahr später unter dem Titel „Dogmatik im Grundriss“ als Buch.[3] Im Vorwort schildert Barth die näheren Umstände dieses Kollegs: „Diese Vorlesungen wurden in den Halbruinen des einst so stattlichen Kurfürstenschlosses in Bonn, in dem sich später die Universität niedergelassen hatte, gehalten: morgens um sieben Uhr, nachdem wir jeweils zu unserer Ermunterung einen Psalm oder ein Kirchenlied gesungen. (…) Die Zuhörerschaft bestand zur Hälfte aus Theologen, zur stärkeren Hälfte aus Studenten der übrigen Fakultäten. Die meisten Menschen im heutigen Deutschland haben je in ihrer Weise und an ihrem Ort fast über die Maßen viel mitgemacht und durchgemacht. Das war auch meinen Bonner Studenten anzumerken. So waren sie mit ihren ernsten Gesichtern, die das Lächeln erst wieder lernen mußten, nicht minder eindrucksvoll, als ich ihnen als (von allerhand Gerüchten aus älterer Zeit umgebener)Fremder merkwürdig sein mußte. Die Situation wird mir unvergeßlich bleiben. Es war zufällig mein fünfzigstes Dozentensemester. Und als es vorbei war, stand ich unter dem Eindruck, es sei für mich bis jetzt das schönste gewesen.“[4]

Auch Sie, lieber Herr Deichmann, beschreiben dieses Semester einmal mit Worten, die den zentralen Inhalt der Vorlesungen benennen: „Während meines Studiums der Medizin besuchte ich 1946 (…) in Bonn die theologischen Vorlesungen des großen Theologen Karl Barth, die morgens um 7 Uhr mit Lied und Gebet begannen“ und in denen er „uns in immer neuen Variationen den Namen Jesus Christus in seiner personalen und universalen Bedeutung erläuterte. Unvergesslich!“[5]

Barth beschließt sein Vorwort zur „Dogmatik im Grundriss“ so: „Wenn ich das Buch Jemandem widmen wollte, so würde ich es meinen Bonner Studenten und Zuhörern vom Sommer 1946 widmen, mit denen ich – das ist unzweideutig sicher – über dieser Vorlesung eine gute Zeit gehabt habe.“]6]

Längst ist also Ihnen, lieber Herr Deichmann, zusammen mit Ihren damaligen Kommilitonen diese Vorlesung von Karl Barth selbst gewidmet worden. Die heutige Verleihung des Karl-Barth-Preises bestätigt sozusagen die bereits vor mehr als 67 Jahren ausgesprochene anonyme Widmung.

Von der Vergewisserung über Ihren bisherigen Lebensweg, die Sie als Hörer Karl Barths empfingen, haben Sie selbst einmal berichtet: „Ich fühlte mich sozusagen zu Hause bei dem, was ich da hörte. Die eigene Bibelkenntnis, die ich ja von zu Hause mitbrachte, wo die Bibel immer offen lag und gelesen wurde, wurde auf einmal in diesen Zusammenhang gestellt. Das war eine umwerfende Erkenntnis, das beschäftigt mich bis heute.“[7]

Für Karl Barth als theologischen Lehrer wie für Sie als theologischen Schüler war gleichermaßen wichtig, dass die Vorlesungen jeweils mit dem Hören auf die Tageslosung und dem Singen eines Liedes begannen. „Was Sie da so machen, was Sie da so sagen“, so haben Sie dem Herrn Professor bei einem persönlichen Besuch erklärt, „das kenn ich von der Versammlung her sehr gut.“[8] Sie erlebten nun bei Karl Barth im akademischen Ambiente: Das Reden von Gott – „Theologie“ – entspringt dem Hören auf Gott und dem Reden zu Gott: aus dem Wort Gottes und dem Gebet.

Was war es nun aber, was Sie bei Barth hörten und worin Sie Ihre eigene Existenz als Christ verstanden und beschrieben fanden? Ich nenne ein paar Aspekte.

Aufgewachsen in einer freikirchlichen Gemeinde, hörten Sie bei Barth als Erklärung des Satzes „die heilige christliche Kirche“ etwa dies: „Es wäre viel gewonnen, wenn das dringende Anliegen Luthers sich durchgesetzt hätte und an die Stelle des Wortes Kirche das Wort Gemeinde getreten wäre. (…) Ekklesia heißt sicher Gemeinde, Zusammenkunft (…) Gemeinde ist die Zusammenkunft derer, die durch den Heiligen Geist mit Jesus Christus zusammengehören.“[9] In der ecclesia, also in der Gemeinde, ganz konkret: in der „Versammlung“, gehören und kommen die Menschen zusammen, die jede und jeder für sich in einer besonderen Zugehörigkeit zu Jesus Christus stehen. Diese besondere Zugehörigkeit, so Karl Barth, „wird da Ereignis, wo Menschen durch den Heiligen Geist aufgerufen sind zur Teilnahme an Christi Wort und Werk“[10].

Sachlich wäre hier von der Taufe zu reden gewesen. Bekanntlich hat Barth die Tauflehre der „Kirchlichen Dogmatik“ mit der Option für die Mündigentaufe erst gut zwanzig Jahre später publiziert. Aber vielleicht haben Sie, lieber Herr Deichmann, schon die Andeutungen, bei denen Barth es 1946 bewenden lassen musste, an den Ruf „zur Teilnahme an Christi Wort und Werk“ erinnert, den Sie 1937 als Elfjähriger gehört hatten und dem Sie mit dem Entschluss, sich taufen zu lassen, gefolgt sind.

Soweit wir es recherchieren konnten, haben Sie in Ihren zahlreichen veröffentlichten Äußerungen zu Karl Barth nicht unmittelbar aus der Vorlesung „Dogmatik im Grundriss“ zitiert. Wohl aber aus dem Vortrag, den Barth im Sommer 1947 in mehreren deutschen Großstädten hielt: „Christus und wir Christen“.[11] Auch dieser Vortrag, den Sie vielleicht live gehört haben und den Sie vor einigen Jahren sogar nachdrucken ließen, ist wie die Vorlesung von 1946 von geradezu atemberaubender rhetorischer Wucht.

„Wir sind Christen, indem es geschieht, daß Christus uns dazu beruft, Christen zu sein.“[12]
Und dann folgt eine Kaskade von Verneinungen: „Wir sind also nicht etwa Christen, indem wir Menschen des sog. christlichen Abendlandes sind. Wir sind auch nicht Christen, indem wir Glieder eines sog. christlichen Volkes sind. Wir sind es auch nicht, weil wir in einer sog. christlichen Familie und Umgebung aufgewachsen sind.“[13] Usw. usf. Sondern: „Wir sind Christen, indem es geschieht, daß Christus uns dazu beruft, Christen zu sein.“[14]

Barth interpretiert mit diesen Ausführungen ein Wort Luthers: „Ein Christ steht nicht im Gewordensein, sondern im Werden.“[15] Nicht religiöse Veranlagung und christliche Prägung, sondern Jesus Christus, das Wort Gottes als „Anrede und Aufruf und Berufung: ‚Folge mir nach!‘“[16] macht uns zu Christen. Das haben Sie bei Karl Barth gehört, und das hat Sie auf Ihrem persönlichen Lebensweg vergewissert.

Ein weiterer Aspekt! In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war auch in Ihrem Elternhaus, in dem das Schuhgeschäft Ihres Vaters untergebracht war, eine Glasscheibe zersplittert. Ihr Vater war bekannt und bewährte sich in dieser Zeit als Freund von Juden. Als Zwölfjähriger kriegten Sie das hautnah mit.[17] Acht Jahre später, 1946, hören Sie Karl Barth, der sagt: „Jesus Christus wäre nicht, was er ist, wenn er nicht der Christus wäre, der Amtsträger, der aus Israel kommt, der der Jude Jesus ist. Aber wiederum wäre dieser Jude Jesus nicht der, der er ist, wenn er nicht Gottes Amtsträger, wenn er nicht Christus wäre, der das, was Israel ist und bedeutet, als Licht leuchten läßt in der Völkerwelt und in der ganzen Menschheit.“[18]

Über mehrere Seiten in der gedruckten Vorlesung entfaltet Barth den Leitsatz: „Der Name Jesus und der Titel Christus sprechen die Erwählung, die Person und das Werk des Menschen aus, in welchem die prophetische, priesterliche und königliche Sendung des Volkes Israel offenbart und ausgeführt ist.“[19] Was Ihnen durch Elternhaus und Versammlung vertraut war, das hörten Sie nun bei Karl Barth in der Universität. Endlich war es an der Universität zu hören, nachdem es auch in der Bekennenden Kirche weithin unerkannt und selbst in Barmen 1934 unausgesprochen geblieben war.

Sie, lieber Herr Deichmann, erzählen gelegentlich von einem Tag in Jerusalem, an dem Ihnen die Überzeugung von der unauflöslichen Verbundenheit der Christenheit mit dem Volk Israel und dem Judentum geradezu neu offenbart worden ist. An jenem Tag besuchten Sie nacheinander die Shoa-Gedenkstätte YadWaShem, das Museum „The Shrine of the Book“, in dem die Schriftrollen von Qumran aufbewahrt werden, und die Grabeskirche.[20] Sie schildern dies als eine geistliche Erleuchtung. Diese Erfahrung ist vielleicht auch der eigentliche Quellort für den nicht versiegenden Strom der mit Ihrem Namen verbundenen finanziellen Unterstützung der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva.

Neben medizinischen und naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und -projekten erwähne ich namentlich eine Forschungsstelle für die Literatur des Judentums zur Zeit des zweiten Tempels und des frühen Christentums – gegründet mit dem Ziel, genauere Kenntnis zu gewinnen über den gemeinsamen Boden, in dem Judentum und Christentum verwurzelt sind.

„Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat …“
Welche der vielen Gaben, die Sie von Gott empfangen haben, sollten Sie zu Ihrer Profession ausbilden? Aus dem Krieg kehrten Sie mit dem Plan zurück, Theologie und Medizin zu studieren. Ich zitiere aus einem inneren Gespräch, das Sie einmal mitgeteilt haben: „Du bist in Gottes Hand. Dir ist dein Leben noch einmal geschenkt worden, und wenn du hier rauskommst, dann muss dein Leben der Hilfe für Menschen gewidmet sein“[21]. Allerdings: „Meine Mutter“, so erinnern Sie sich später, „meine Mutter hat nichts dazu gesagt, als ich mit dem Theologiestudium anfing, und auch nicht, als ich dann noch zusätzlich Medizin studierte. Die wusste: Der Junge wird doch ins Geschäft gehen!“[22]

Wirklich und wahrhaftig ist der Junge dann ins Geschäft gegangen. Zunächst parallel zum Studium, einige Jahre lang auch parallel zur beruflichen Tätigkeit als Facharzt für chirurgische Orthopädie – dann aber ganz und gar! Diese Erfolgsgeschichte erzähle ich hier nicht. Vielmehr will ich mit Worten Karl Barths, die Sie 1946 gehört haben, die geistliche Perspektive bezeichnen, in der Sie selbst Ihr Engagement und Ihren Erfolg als Unternehmer und als Wohltäter wahrnehmen und wahrgenommen wissen wollen.

In seiner „Dogmatik im Grundriss“ entfaltet Karl Barth das „Ich glaube“ des Apostolischen Glaubensbekenntnisses dreifach: „Glauben heißt [1.] Vertrauen“, „Glauben heißt [2.] Erkennen“, „Glauben heißt [3.] Bekennen“.[23] Und zu diesem Dritten – Glauben als Bekennen – formuliert Barth diesen Leitsatz: „Der christliche Glaube ist die Entscheidung, in der Menschen die Freiheit haben, ihr Vertrauen auf das Wort Gottes [= 1.] und ihre Erkenntnis der Wahrheit Jesu Christi [= 2.] in der Sprache der Kirche, aber auch in weltlichen Stellungnahmen und vor allem auch in den entsprechenden Taten und Verhaltensweisen öffentlich zu verantworten.“[24]

Als Arzt, auch als Unternehmer und Wohltäter, konnten Sie den christlichen Glauben öffentlich verantworten und haben es in größtem Stil getan: als Unternehmer durch die Entwicklung einer beispielhaften inneren und äußeren Unternehmenskultur; und als Wohltäter durch Engagements im Dienst Zigtausender Menschen nah und fern, in Deutschland und Europa wie in Asien und Afrika.

Wir als Evangelische Kirche in Deutschland danken Ihnen besonders dafür, dass durch eine großzügige Spende Ihrer Stiftung die Realisierung des EKD-weiten Glaubenskursprojektes möglich wurde.

Zum Schluss noch einmal Karl Barth: „Christus ist der Herr. Wir Christen sind Menschen, die Christus gewürdigt hat, sie als seine Boten und Zeugen an seinem eigenen Dienst zur Ehre Gottes und zum Heil aller Menschen zu beteiligen.“25 Ich darf diese Worte aus dem Vortrag „Christus und wir Christen“ auf Sie anwenden – so, dass die Laudatio auf Heinz-Horst Deichmann als Lob Christi erklingt:
Christus hat Sie gewürdigt, Sie als seinen Boten und Zeugen an seinem eigenen Dienst zur Ehre Gottes und zum Heil vieler Menschen zu beteiligen. Dafür danken wir Christus.
Und Ihnen, lieber Herr Deichmann, danken wir dafür, dass Sie beherzigt haben, was Ihnen Christus durch seinen Boten Karl Barth hat ausrichten lassen und was Sie oft zitiert haben: „Was wir als Christen empfangen, empfangen wir als Ausrüstung zur Beteiligung am Dienst Christi.“26

Fußnoten:

  1. Heinz-Horst Deichmann, Mir gehört nur, was ich verschenke. Christ und Unternehmer, Witten 20082, S. 264.
  2. Vgl. ebd., S. 225: „Er hat mich tief beeindruckt, beschäftigt mich bis heute, beinahe täglich.“
  3. Karl Barth, Dogmatik im Grundriss im Anschluß an das apostolische Glaubensbekenntnis, Stuttgart 1947.
  4. Ebd., S. 5.
  5. Heinz-Horst Deichmann, Mir gehört nur, was ich verschenke. Christ und Unternehmer, Witten 20082, S. 121.
  6. Karl Barth, Dogmatik im Grundriss im Anschluß an das apostolische Glaubensbekenntnis, Stuttgart 1947, S. 6.
  7. Andreas Malessa und Hanna Schott, Warum sind Sie reich, Herr Deichmann? Die Deichmann-Story: über den Umgang mit Geld und Verantwortung, Wuppertal 2006, S. 43f.
  8. Ebd., S. 44.
  9. Karl Barth, Dogmatik im Grundriss im Anschluß an das apostolische Glaubensbekenntnis, Stuttgart 1947, S. 187f.
  10. Ebd., S. 188.
  11. Karl Barth, Christus und wir Christen, Zürich 1947 (hiernach im Folgenden zitiert), ebenfalls TEH NF 11, München 1948.
  12. Ebd., S. 3.
  13. A.a.O.
  14. A.a.O.
  15. A.a.O.
  16. Ebd., S. 4.
  17. Vgl. z.B. Heinz-Horst Deichmann, Mir gehört nur, was ich verschenke. Christ und Unternehmer, Witten 20082, S. 229.
  18. Karl Barth, Dogmatik im Grundriss im Anschluß an das apostolische Glaubensbekenntnis, Stuttgart 1947, S. 93f.
  19. Ebd., S. 93.
  20. Vgl. Heinz-Horst Deichmann, Mir gehört nur, was ich verschenke. Christ und Unternehmer, Witten 20082, S. 64f. und S. 128.
  21. Ebd., S. 233.
  22. Andreas Malessa und Hanna Schott, Warum sind Sie reich, Herr Deichmann? Die Deichmann-Story: über den Umgang mit Geld und Verantwortung, Wuppertal 2006, S. 45.
  23. Vgl. Karl Barth, Dogmatik im Grundriss im Anschluß an das apostolische Glaubensbekenntnis, Stuttgart 1947, S. 17-26. S. 27-33 und S. 34-42.
  24. Ebd., S. 34 (Hervorhebung hinzugefügt).
  25. Karl Barth, Christus und wir Christen, Zürich 1947, S. 10.
  26. Ebd., S. 11.