"Wissen - Werten - Handeln. Welches Orientierungswissen gehört zur Bildung?"

Statement des EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Dr. Wolfgang Huber beim Bildungskongress

Berlin

Orientierungswissen in Evangelischer Perspektive

Bildungskongress der EKD

I.

Bildung gehört zu den großen Themen der Gegenwart. Kritische Untersuchungen und Studien (PISA, IGLU u.a.) haben dem Bildungswesen in Deutschland kein gutes Zeugnis ausgestellt. Die demographische Entwicklung des Landes lässt die Alarmglocken läuten. Nach Möglichkeiten der Abhilfe wird auf vielerlei Weise gesucht. So wird gefordert, vom frühest möglichen Zeitpunkt an die „Bildungsreserven“ der deutschen Bevölkerung auszuschöpfen. Gesellschaftliche Anforderungen bestimmen diese Betrachtungsweise. Sie hat ein unverkennbares Gewicht. Individueller Bildungsstand und berufliche Perspektive stehen genauso in einem engen Verhältnis zueinander wie gesellschaftliches Bildungsniveau und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft. Das zu verkennen, wäre naiv. Und doch stellt sich die Frage, ob die Ökonomisierung von Bildungszielen und Bildungsinhalten die angemessene Antwort auf die Herausforderungen unserer Gegenwart darstellt.

In einer solcher Ökonomisierung von Bildungszielen und Bildungsinhalten spiegelt der gegenwärtige Diskurs über Bildung die allgemeine Ökonomisierung des Denkens und Handelns wider, für die generell der Prozess der „Globalisierung“ als verantwortlich betrachtet wird. Das Argument der Globalisierung gilt folgerichtig als eines der stärksten Argumente dafür, dass Bildung zukunftsfähig werden soll - eben im globalen Horizont. Weithin wird eine Internationalisierung von Bildung gefordert, die den Herausforderungen der Globalisierung gerecht wird.

Der Begriff Globalisierung bleibt dabei reichlich vage. Gelegentlich wird daran erinnert, dass es sich ursprünglich um einen religiösen Begriff handele - als Ganzes sei die Welt Schöpfung Gottes, sie werde theologisch als der „ganze bewohnte Erdkreis“ (Ökumene) und als die „eine Welt“ angesprochen, und damit verbinde sich die Hoffnung auf weltweite Verständigung, Gerechtigkeit und Kooperation. Im heutigen Bildungsdiskurs wird aber weniger an solche Aspekte von Globalisierung gedacht als vielmehr an eine globale Ökonomie, an den internationalen Wettbewerb sowie an die Standortsicherung, zu der sich jedes Land durch die Globalisierung herausgefordert sehe. Das Idealbild globalisierungsgerechter Bildung zielt so gesehen auf die Verbindung von Technologie, Ökonomie und internationaler Kommunikationsfähigkeit, die Fähigkeit zur Verständigung in mindestens zwei Fremdsprachen eingeschlossen.

Die beschriebenen Entwicklungen und der entstehende Konkurrenzdruck führen zu einer Dynamik, die immer stärker in das Leben der Einzelnen eingreift. Wissensmanagement und lebenslanges Lernen werden als unumgängliche Voraussetzungen für ein erfülltes und erfolgreiches Leben sowie als Grundlage für eine wissensbasierte Wirtschaft hervorgehoben: Jeder müsse lernen, mit neuen Technologien umzugehen, um sich mit deren Hilfe Fachwissen oder allgemeine Bildung anzueignen. Wer sich diesem Anliegen verschließe, sei vom „sozialen Abstieg“ bedroht. Außerdem wird von jedem verlangt, selbst zu entscheiden, was das Richtige sei, das es zu lernen gilt, und wann der Zeitpunkt gekommen sei, dies auch zu tun. Wichtiger denn je werde es sein, das Lernen zu erlernen und Methoden zu entwickeln, aus der Fülle der Wissensangebote auszuwählen, ohne die begrenzten Kräfte an Überflüssiges und Belangloses zu vergeuden. Aus dem längst unüberschaubar gewordenen Angebot des Wissens soll der Einzelne das für ihn jeweils Bedeutsame, Unverzichtbare, Nützliche oder auch nur Gefällige herausfiltern können. Dazu muss er in der Lage sein, selbständig zu denken, Fragen zu erkennen und darauf Antworten zu suchen sowie den Fragen, Antworten und Lösungen auf den Grund zu gehen. Vor allem soll er lernen - das wird immer wieder betont -, dass einmal erworbenes Wissen nicht mehr ausreicht, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Er wird vielmehr aufgefordert, sich in einem lebenslangen Lernprozess immer neues Wissen anzueignen. Wissen soll dabei vergleichbar werden, abrufbar, messbar, denn es gilt als Verteiler von Lebenschancen und Berechtigungen.

II.

Die Notwendigkeiten und die Chancen des auf europäischer und nationaler Ebene als dringend erforderlich betrachteten lebenslangen Lernens werden in vielen bildungspolitischen Programmschriften beschrieben. Niemand wird die positiven Möglichkeiten lebenslangen Lernens bestreiten. Es spielt auch in der Kirche eine Rolle. Auch in der evangelischen Tradition hat die Vorstellung vom lebenslangen Lernen einen hohen Rang. Für Martin Luther gilt, dass Christen ihr Leben hindurch Schüler des Katechismus bleiben sollten. Lernen vor Gott und in der Lebenswirklichkeit ist unerschöpfbar. „Lebenslanges Lernen“ trägt zur beruflichen und allgemein-menschlichen Bildung und Reife des Menschen bei. Mit dem Akzent auf die Bildung der Person folgt die Kirche allerdings einem umfassenderen Verständnis von "lebenslangem Lernen".

Die evangelische Kirche hat sich deshalb in den vergangenen Jahren intensiv um die Wiedergewinnung eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses bemüht und versucht, daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Den Anfang machte die Denkschrift zum Religionsunterricht, die 1994 unter dem Titel „Identität und Verständigung“ veröffentlicht wurde. Die Grundpositionen, die vor einem Jahrzehnt in dieser Denkschrift niedergelegt wurden, haben sich seitdem bewährt. Sie wurden in den Folgejahren in einer Reihe von Richtungen konkretisiert, beispielsweise in Beiträgen zum Problem des islamischen Religionsunterrichts, zu den Veränderungen im Grundschulbereich oder auch zum Verhältnis von Konfirmation und Jugendweihe – einem im Osten Deutschlands nach wie vor hochaktuellen Problem. In einem nächsten Schritt, motiviert auch durch die PISA-Studien, hat die EKD sich noch umfassender um die Darlegung eines evangelischen Bildungsverständnisses bemüht. Im Jahr 2003 ist das Ergebnis in Gestalt der Denkschrift „Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft“ vorgelegt worden. Um einen evangelisch profilierten Bildungsbegriff ging es dabei, der an der menschlichen Biographie, an der Selbstbildung des Menschen in den verschiedenen Phasen seines Lebenslaufs orientiert ist.

Eine solche ganzheitliche Bildungsvorstellung sieht sich allerdings heute neuen Herausforderungen gegenüber. Wir leben heute nicht (mehr) in einer einheitlich strukturierten Lebenswelt. Als modern zeichnen sich die Verhältnisse dadurch aus, dass sie sich rasch verändern. Das, was als modern gilt, ist daher selbst einem Prozess der andauernden Entwertung unterworfen. Erneuerung ist der Imperativ. Der Fortschritt ist nur noch formal durchs Neue definiert. Er ist ein offener Raum, kein Ziel, das irgendwann erreichbar wäre. Niemand kann mehr sagen, wohin die Reise geht; dafür sind alle gehalten, sich dauerhaft und intensiv anzustrengen, um schneller dort zu sein. Die zunehmende Beschleunigung des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens – insbesondere die Veränderung der Arbeitsverhältnisse – entwertet immer schneller und immer massiver die traditionellen kulturellen Muster der Lebensführung. Alle Personen haben fortwährend Veränderungs- und Handlungsbedarf. Beschleunigung und Unübersichtlichkeit und deren unaufhaltsame Zunahme sind die auffälligsten Merkmale dieses Prozesses. Dies führt unter anderem zu Sinn- und Orientierungsverlusten – und den entsprechenden individuellen und gesellschaftlichen Suchbewegungen, diese zu reduzieren.

"Orientierung ist darum heute ungemein wichtig geworden, aber ihr Fehlen wird vielfach nicht als Krise gedeutet oder als existenzbedrohend empfunden. Nicht die Orientierungskrise, sondern die Normalität eines hohen, stetig wachsenden Orientierungsbedarfs ohne stabile Orientierungsdaten ist darum gegenwärtig zentraler Ausgangspunkt von Bildungsarbeit." (Orientierung in zunehmender Orientierungslosigkeit, EKD 1997)

Der Philosoph Jürgen Mittelstraß hat die Konsequenzen in einem Vortrag mit dem Titel "Bildung und ethische Maße" (2001) näher erläutert: "Bildung ist Ausdruck einer Kultur und entsteht - ebenso wie eine Kultur – durch Erfinden und Gestalten. Bildung ist also nichts Theoretisches, sondern eine Lebensform und im Humboldtschen Sinne ein tätiges Begreifen der Welt. Der Begriff Bildung schließt im klassischen wie im modernen Sinne auch den Begriff der Orientierung mit ein."

Weil Bildung Ausdruck einer Kultur ist, müssen wir uns mit dem Verständnis von Kultur auseinandersetzen. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat das im Rahmen eines Konsultationsprozesses "Protestantismus und Kultur" in den Jahren 1999 bis 2002 intensiv getan. Das geschah auch in dem Bewusstsein, dass das Christentum und unsere europäische Kultur von Beginn an miteinander verwoben sind. Immer wieder wurde der Versuch unternommen, die kulturelle Relevanz des christlichen Glaubens neu zu bestimmen und umgekehrt neue kulturelle und künstlerische Entwicklungen für die Deutung des christlichen Glaubens fruchtbar zu machen. Religion wird als Teil der Kultur wahrgenommen; aber sie ist zugleich mehr als Kultur. Sie prägt Kultur; aber sie muss zu diesem Zweck auch kulturelle Entwicklungen wahrnehmen und verarbeiten. Sie braucht kulturelle Ausdrucksformen; aber sie muss zugleich die Autonomie der kulturellen Sphären, insbesondere der Kunst, achten. Religion thematisiert ein bestimmtes Gottesverhältnis; aber sie muss sich zugleich damit auseinandersetzen, dass es Kultur nur im Plural gibt. So lässt sich das Spannungsverhältnis beschreiben, in dem wir das Verhältnis zwischen Religion und Kultur in evangelischer Perspektive sehen.

Der Protestantismus beharrt darauf, dass das neuzeitliche Verständnis wissenschaftlicher Welterkenntnis nicht etwa eine Abwendung vom Glauben, sondern ein Ausdruck des christlichen Glaubens selbst ist. Diese Bejahung der Weltlichkeit der Welt und ihrer wissenschaftlichen Entschlüsselung hat für das Verhältnis von Protestantismus und Kultur eine zentrale, kaum zu überschätzende Bedeutung. Evangelische Theologie hat deshalb zum wissenschaftlichen Umgang mit der Welt und zum Fortschritt in den Wissenschaften ein grundsätzlich positives Verhältnis. Das schließt die Kritik bestimmter Entwicklungen nicht aus, sondern ein. Aber mir liegt sehr viel daran deutlich zu machen: Die kritische Auseinandersetzung mit bestimmten wissenschaftlichen Entwicklungen – die Lebenswissenschaften sind dafür derzeit das herausragende Beispiel – vollzieht sich im evangelischen Bereich auf der Grundlage einer grundsätzlichen Bejahung des forschenden Eindringens in die Geheimnisse der Natur. Denn darin liegt ein Ausdruck menschlicher Freiheit. Diese Freiheit soll nicht bestritten werden. Wie man mit ihr verantwortlich umgeht, ist die Frage, die im Streit steht. Wie Freiheit verantwortet werden kann, ist überhaupt ein Schlüsselthema, wenn es um den Beitrag des Christentums zur kulturellen Oriemtierung in unserer Gegenwart geht.

III.

Doch dieser Beitrag ist umstritten. Denn die Präsenz des Christlichen im öffentlichen Raum, seine Bedeutung für unser kulturelles Selbstverständnis, sein möglicher Beitrag zur Ausbildung einer gegenwartsbezogenen Ichidentität verstehen sich nicht mehr von selbst. Traditionelle Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse haben sich aufgelöst. Die christlichen Prägungen unserer Kultur werden allenfalls noch in ihrem ethischen Gehalt geahnt. “Irgendwie”, so heißt die Auskunft, sei unser aller Ethik christlich geprägt, wir mögen der Kirche angehören oder nicht.

Die These von einer nachlassenden Verbindung zwischen Christentum und Kultur in der Gegenwart bedarf jedoch der Korrektur: Denn die Besonderheiten der west- und mitteleuropäischen Entwicklung dürfen nicht verallgemeinert werden. Und sie dürfen auch nicht unbesehen in die Zukunft hinein verlängert werden. In vielen Regionen der Erde erleben wir derzeit einen Trend zur Religion; Trendforscher sagen voraus, dass dieser “Megatrend Religion” über kurz oder lang auch Mittel- und Westeuropa erreichen wird. Viele haben es als befreiend empfunden, als Jürgen Habermas darauf mit der Rede von einer „post-säkularen Epoche“ reagierte. Damit war keine Rückkehr in überlieferte oder gar überholte Formen eines Öffentlichkeitsanspruchs der Großkirchen gemeint. Denn der Vorschlag, religiös motivierten Minderheiten das Recht zu einem aufschiebenden Veto in politischen Fragen von existentieller Bedeutung einzuräumen, weist deutlich in eine andere Richtung. Aber eindrücklich macht dieses Plädoyer eines Menschen, der sich selbst für „religiös unmusikalisch“ hält, deutlich, dass sich heute – angesichts der wissenschaftlichen Entwicklung ebenso wie angesichts der politischen Konstellation – elementare Fragen neu stellen, für deren Beantwortung man auf das Potential der Religion schlechterdings nicht verzichten kann.

Dass Religion zur allgemeinen Bildung gehört, gilt also nicht nur deshalb, weil sie für die geschichtliche Entwicklung unserer Kultur eine prägende Bedeutung hat. Es gilt zugleich, weil für den Umgang mit den großen gesellschaftlichen Zukunftsfragen wie auch für die Beantwortung persönlicher Existenzfragen auf ihr Potential nicht verzichtet werden kann. 

Deshalb tritt das Phänomen der Religion überall dort auf den Plan, wo nach den Maßstäben zur Deutung und Beherrschung der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung gefragt wird. Auch von denen wird dann nach der Religion und den von ihr vermittelten “Werten” gefragt, die für sich selbst von einer bestimmten religiösen Bindung Abschied genommen haben oder Abstand halten. Gerade in der Lern- und Wissensgesellschaft gewinnen Werteinstellungen und Haltungen an Bedeutung, wenn Mündigkeit das Leitziel bleiben und nicht als Umschreibung lebenslangen Lernens substanzarm ins Leere laufen soll. Ohne eine Orientierung an Werten wird die sich immer schneller ändernde Lebenswirklichkeit mit ihrer Fülle stets neu verfügbaren Wissens zu einer Welt ohne Richtung und ohne Ziel - sie verliert ihr menschliches Maß.

Welche Werte aber brauchen wir? Freundlichkeit, Treue, Pünktlichkeit, Humor, Kinder und Familie, Wahrhaftigkeit, Freiheit, Streitkultur, Gottesfürchtigkeit, Solidarität, Gerechtigkeit? Es gibt eine große Zahl unterschiedlicher Werte, aber sie sind in vielerlei Hinsicht subjektiv. Meine grundlegenden Werte kann ich nicht wechseln wie ein Paar Schuhe. Sie sind Teil meines Lebens, auch wenn sie Veränderungen unterliegen. Sie hängen eng mit dem zusammen, was meine Person, meine Identität ausmacht. Ihre Entstehung ist ein kommunikativer Vorgang. Immer wieder erfolgt ein Abgleich der eigenen Werte mit denen anderer. Entwicklungspsychologische Studien zeigen, wie wichtig dieser Vorgang für die Identitätsbildung gerade bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist. Gleichzeitig liegt darin ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial. Wer meine Werte infrage stellt, stellt mich infrage. Es ist wichtig, dieses Konfliktpotenzial konstruktiv und nicht destruktiv zu wenden.

In den Zusammenhang von Werten und Normen gehört schon allein phänomenologisch die Religion. Religiöse Orientierungen spielen bei der Ausbildung und der Kritik von Werten und Wertsystemen eine wichtige Rolle. Was können nun die Kirchen zur Werteorientierung beitragen? Sie verwalten keinen Schatz von Werten, an dem die Gesellschaft nur durch ihre Vermittlung teilhaben kann. Evangelische Theologie kann sich dem Wertediskurs geradezu verweigern. Die Gerechtigkeit allein aus dem Glauben stellt die menschlichen Bemühungen um ein gutes und gerechtes Leben radikal infrage. Vielmehr soll die Wahrheit und die Erfahrung des Evangeliums zu einer Freiheit verhelfen, die vom Zwangscharakter derartiger Bindungen und Verpflichtungen erlöst. Auf diese Weise kommt es zu einer Kritik der Werte, allerdings auf dem Hintergrund der grundlegenden Erfahrungen christlichen Glaubens. Und natürlich bleiben durch diese Erfahrungen die Werte und das Handeln der Menschen nicht unverändert.

Nach evangelischen Beiträgen zur „Werteerziehung“ zu fragen, bedeutet deshalb mehr, als nur nach „Werten“ zu fragen. Es heißt nicht nur, sich zu Fragen des Religionsunterrichts, der Kindertagestätten in evangelischer Trägerschaft oder anderen bildungspolitischen Einzelfragen zu äußern – so wichtig sie sind. Es geht vielmehr darum, sich der Frage nach einer Konzeption von Bildung selbst zu stellen. Das Bündnis von Glauben und Bildung, das für den Protestantismus charakteristisch ist, muss sich heute in der Arbeit an einer evangelischen Bildungskonzeption bewähren. Es geht um ein Konzept von Bildung, das sich an dem christlichen Bild des Menschen orientiert, das jeden Menschen als Geschöpf Gottes, als Gott entsprechenden Menschen, als Ebenbild Gottes ansieht. Es geht davon aus, dass jeder Mensch kraft dieser Berufung dazu bestimmt ist, selbst Subjekt seiner Lebensgeschichte und seines Bildungsprozesses zu sein.

IV.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich acht – genauer muss ich sagen: mindestens acht – Kriterien für unaufgebbare Elemente eines evangelischen Bildungsverständnisses:

1. Bildung, Erziehung und Gerechtigkeit

Zum einen geht es darum, Bildung und Erziehung im Zusammenhang zu sehen. Dieser Zusammenhang wird in der gegenwärtigen Bildungsdebatte meist vollständig vernachlässigt. Erziehung, die sich ja wesentlich in den stärker informellen Bereichen der Familie oder der peer-groups abspielt, ist vielmehr weithin durch Bildung abgelöst worden, für die man die Institutionen von Staat und Gesellschaft für verantwortlich ansieht. Und diese Bildung wird zum andern überwiegend als formale Bildung angesehen, die diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, die Heranwachsende brauchen, um für die Informationsgesellschaft fit zu sein. Diese Dominanz formaler, technischer, instrumenteller Bildungsziele entspricht nur einem Teil von meist kurzfristigen ökonomischen Erfordernissen und übersieht den gesamtgesellschaftlichen Bildungsbedarf. Dieser kritische Blick ist durch die PISA-Debatte oder jetzt die IGLU-Debatte keineswegs obsolet geworden. Vielmehr muss man feststellen: Auf das beunruhigende Abschneiden Deutschlands oder einzelner deutscher Bundesländer in diesen Studien reagierte man vorwiegend mit der Frage, welche Kompetenzen stärker entwickelt werden müssen und wie sie durch entsprechende Tests auch überprüft werden können, um so eine Steigerung des Bildungsniveaus unter Beweis zu stellen – wiewohl auch andere Konsequenzen gezogen werden können, ja nach meiner Überzeugung gezogen werden müssen.

Sicherlich ist es notwendig, die Erfolge einzelner Bildungsanstrengungen und die Effizienz des Einsatzes erheblicher gesellschaftlicher Ressourcen auf möglichst objektive Weise zu prüfen. Aus der Sicht der Kirchen viel aufrüttelnder sind allerdings die von den genannten Studien aufgezeigten strukturellen Ungerechtigkeiten und Ausgrenzungsprozesse im Bildungsbereich. Dass das Ziel einer durchgreifenden Chancengerechtigkeit noch immer in weiter Ferne steht, ist ein Skandal, und darauf aufmerksam gemacht zu haben, wäre für alle Schulleistungsvergleiche schon Grund und Bestätigung genug. In einer differenzierten und pluralen Gesellschaft, die von zunehmender Vielfalt und Differenz geprägt ist und in der Lebenschancen ungleich verteilt sind, muss sich Bildung der Frage nach Gerechtigkeit stellen. Ein evangelisches Bildungsverständnis orientiert sich am Recht auf gleichen Zugang zu Bildung.

Studien, wie sie unter den Kürzeln PISA oder IGLU bekannt geworden sind, können also nur der Auslöser für Anstrengungen zur permanenten Reform des Bildungswesens sein. Sie dürfen sich nicht darauf beschränken, den Erwerb von sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen und Wissensbeständen zu prüfen. Blieben wir dabei stehen, würden wir Bildung verkürzen und beschädigen.

2. Der Zusammenhang von Verfügungs- und Orientierungswissen

Damit komme ich zu einem zentralen Begriff dieses Kongresses, dem Orientierungswissen. In seinem bereits erwähnten Vortrag aus dem Jahr 2001 hat Jürgen Mittelstraß Folgendes ausgeführt: "Wo sich Wissen, Information und Orientierung auseinanderbewegen, wo der Markt das Maß aller Dinge zu werden und der Mensch hinter seinen ökonomischen Werken zu verschwinden beginnt, wird Bildung zu einer konkreten Utopie und zur Zukunft einer Wissensgesellschaft, die wieder über einen intakten Wissensbegriff verfügt. ... In der modernen Welt hält die Zunahme an Orientierungswissen nicht mehr Schritt mit dem Anwachsen des Verfügungswissens. Der wissenschaftlich-technische Verstand ist stark, die praktische Vernunft schwach. Der Streit um einen Wertewandel versperrt den Blick auf die Zukunft der praktischen Vernunft."

Mittelstraß war es auch, der in den 90er Jahren bereits Verfügungs- und Orientierungswissen so beschrieben hat: „Verfügungswissen ist ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel; es ist das Wissen, das Wissenschaft und Technik unter gegebenen Zwecken zur Verfügung stellen. Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele; gemeint sind Einsichten, die im Leben orientieren (z.B. als Orientierung im Gelände, in einem Fach, in persönlichen Beziehungen), aber auch solche, die das Leben orientieren (und etwa den „Sinn“ des eigenen Lebens ausmachen).“

Ich bin davon überzeugt, dass von Bildung nur dann die Rede sein kann, wenn damit nicht nur Verfügungswissen, sondern auch Orientierungswissen gemeint ist. Ich glaube, dass wir die Ganzheitlichkeit von Bildung nicht nur darin sehen sollten, Körper, Seele und Geist in der Balance zu halten. Sie liegt auch darin, im Blick auf den menschlichen Geist nicht nur auf diejenigen Bildungsinhalte zu setzen, die jemand braucht, um für die Informationsgesellschaft fit zu sein. Vielmehr sind mit dem gleichen Gewicht diejenigen Bildungsinhalte zur Sprache zu bringen, die jemand braucht, um sich in seiner Welt orientieren und ethisch verantwortlich handeln zu können. In einer Schule, die dieser Vorstellung gerecht würde, wäre Ethik so wichtig ist wie Englisch, Religion so wichtig wie Mathematik, Geschichte so wichtig wie Informatik.

Wir erleben gegenwärtig eine äußerst paradoxe Entwicklung. Auf der einen Seite verstärkt sich die Tendenz, Bildungsprozesse auf verwertbares Wissen oder anwendbare Fertigkeiten auszurichten. Auf der anderen Seite lässt sich beobachten, dass immer neue Versuche unternommen werden, die dadurch entstehende Einseitigkeit zu kompensieren. Auch solche Kompensationsversuche haben ihren Wert. Auf eigentümliche Weise sind beispielsweise Sport- und Religionsunterricht dadurch miteinander verbunden, dass sie für solche Kompensationsversuche immer wieder auf je spezifische Weise in Anspruch genommen werden. Vom Sport verlangt man Bewegung, von der Kirche Werte. Doch Kompensation genügt nicht. Eine Neuausrichtung unseres Bildungsbegriffs ist nötig.

In der Diskussion um Verfügungswissen und Orientierungswissen ist ferner zu beachten, dass es zwischen beiden nicht zu falschen Abgrenzungen kommen darf: Auf der einen Seite stünde dabei ein Verfügungswissen, das sich „lernen“, „erwerben“ und empirisch prüfen lässt. Auf der anderen Seite fände sich ein Orientierungswissen, das als Konglomerat sogenannter „weicher Bildungsziele“ nebulös und wenig fassbar ist, sich sowohl einer gezielten „Aneignung“ als auch einer kriterienbezogenen Prüfung weithin entzieht.

Mit einer solchen Gegenüberstellung kann man sich deshalb nicht zufrieden geben, weil es doch um Orientierungs-Wissen geht. Es geht um ein Wissen, das in die Lage versetzt, sich in einer modernen und pluralen Welt zurechtzufinden. Dazu gehören bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Kenntnis von Sachverhalten und Zusammenhängen, das Verständnis der Folgen von Handlungen. Sie lassen sich durchaus in Lernprozessen organisieren und evaluieren. Darum geht es allerdings nicht allein. „Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele.“ Dazu braucht man einen Horizont von Werten und moralischen Kategorien sowie ein Urteilsvermögen, das sich außerhalb der verhandelten Sache gründet und begründet. Damit ist Orientierungswissen, theologisch gesprochen, letztlich auf die Fähigkeit des Menschen bezogen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Ein solches Urteilsvermögen ist aus evangelischer Perspektive ohne den Bezug auf Gott nicht konsequent begründbar.

3. Integrative Bildung

"Wissen - werten - handeln" so heißt das Motto dieses Kongresses. Aber um über die richtige Wertung des Wissens zum Handeln zu kommen, muss das "Können" hinzukommen, wie das auch im modernen Ausdruck der Kompetenz anklingt. Ohne Können brechen Wissen und Handeln auseinander. In der Bildungsdenkschrift der EKD heißt es deshalb: "Was nützen politische Programme und moralische Parolen, die Solidarität und Gemeinsinn im Staat, Streitkultur und Verständigungsfähigkeit in der Bevölkerung sowie Beiträge zu weltweiter sozialer Gerechtigkeit und Frieden betreffen, wenn das Wissen davon, wie es sein sollte, wegen mangelnden Könnens nicht zum Handeln führt? Ohne Können produziert eine Wissens- und Lerngesellschaft Enttäuschungen, die das Handeln lähmen. Bildung meint den Zusammenhang von Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltung, Handlungsfähigkeit und Sinn. Zurzeit wird meist addierend gedacht. An kognitive Leistungen werden der Erwerb sozialer Kompetenzen und die Erschließung von Wertbewusstsein angehängt. Dies ist nicht sachgemäß und darum auch nicht zeitgemäß, wenn damit gemeint ist, was unsere Zeit braucht: ein integrierendes Verständnis von Bildung und Erziehung" (Maße des Menschlichen, S. 70f.). Bildung als Integrationsprozess muss Sachwissen und Selbstwissen, Qualifikationswissen und Orientierungswissen, ästhetische Wahrnehmung, Intuition und Phantasie und die Fähigkeit zum Umgang mit technischen Mitteln im Detail miteinander verschränken.

4. Orientierungswissen und kulturelles Gedächtnis

Jede Gesellschaft ist auf ein “kulturelles Gedächtnis” angewiesen.  Eine Gesellschaft braucht nicht nur einen gemeinsamen Bestand an Themen, die kurzfristig in aller Munde sind: gestern das letzte Fußballspiel, heute die neusten Entdeckungen der Biowissenschaften.  Sie kann sich auch nicht mit Elementen der Alltagskommunikation begnügen, die von etwas längerer Dauer sind – den Gesprächen darüber beispielsweise, was die neuesten Ergebnisse der Jugendforschung sagen oder warum plötzlich Elite-Universitäten gefordert werden. Eine Gesellschaft braucht neben solchen Erinnerungselementen von großer Alltagsnähe und aktuellen Wahrnehmungen auch ein kollektives Gedächtnis für alltagstranszendente Inhalte. Dazu gehören außerordentliche Ereignisse der Vergangenheit, große Erzeugnisse der Kunst, aber auch religiöse Überlieferungen und prägende Riten. Keine Gesellschaft kommt ohne solche Erinnerungsfigurationen aus. Denn an ihnen bildet sich die Identität einer Gesellschaft wie die Identität der einzelnen. Grundelemente des kulturellen Gedächtnisses sind ein wichtiges Potential der Erneuerung, der Selbstkritik oder der Reform. Ja, auch noch der Umsturz speist seine Legitimität aus der Anknüpfung an Bestände des kulturellen Gedächtnisses.

Mit dem “kulturellen Gedächtnis” bewahrt eine Gemeinschaft nicht nur gemeinsame Bilder der Vergangenheit auf. Sondern im kulturellen Gedächtnis sind zugleich die Potentiale zur Deutung der Gegenwart wie zum Entwurf der Zukunft enthalten. Eine Verständigung über die Wahrnehmung der eigenen Zeit gelingt ohne Grundbestände eines kulturellen Gedächtnisses ebenso wenig wie eine Vision der Zukunft. Natürlich ist das kulturelle Gedächtnis auf beständige Erneuerung angewiesen. Über die Deutung der großen Ereignisse, die Interpretation der Klassiker, das Verständnis der religiösen Tradition, die Gestalt der prägenden Riten muss immer wieder gestritten werden. Doch zumeist geschieht das in einer Form, in welcher der Rahmen und der Inhalt des kulturellen Gedächtnisses als solcher nicht in Frage gestellt wird. Nur in besonderen Umbruchszeiten entstehen Zweifel am Inhalt und an den Maßstäben des kulturellen Gedächtnisses selbst. Davon muss man schließlich diejenige Situation unterscheiden, in welcher das Bewusstsein dafür verloren geht, dass es überhaupt eines Kanons für das kulturelle Gedächtnis bedarf.

In aller Regel bleibt das kulturelle Gedächtnis so lange relativ unbeachtet, so lange es selbstverständlich eingelebt und vorvertraut ist. Es wird zum Thema, wenn es gefährdet, bedroht oder umstritten ist. “Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt”, heißt ein viel zitierter Satz von Pierre Nora. So wie man sich um ökologische Nachhaltigkeit erst bemüht, seit sie durch die Auswirkungen menschlichen Handelns massiv gefährdet ist, so tritt auch die Notwendigkeit einer kulturellen Nachhaltigkeit erst in den Blick, wenn die Bestände des kulturellen Gedächtnisses einer massiven Erosion ausgesetzt sind. Erst relativ spät werden wir sensibel für die Gefahren einer kulturellen Umweltzerstörung. Erst allmählich erkennen wir, dass Menschen nicht nur auf natürliche Umweltbedingungen angewiesen sind, sondern dass sie auch kulturelle Räume brauchen, um sich entfalten und eine eigene Identität entwickeln zu können.

Die Regeln der Informationsgesellschaft  stehen zu dieser Aufgabe in großer Spannung. Denn die Informationsgesellschaft konzentriert die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt. Sie rückt das Erleben in den Vordergrund; Erinnerung und Erwartung treten dagegen zurück.

Es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren die Frage nach einem Kanon des kulturellen Gedächtnisses neue Aufmerksamkeit gefunden hat. Es ist aber kaum darauf geachtet worden, warum in dieser Debatte der Begriff des Kanons eine Schlüsselbedeutung erlangt hat. Ein kulturelles Gedächtnis kommt ohne die Bestimmung gemeinsamer, auch und gerade dann strittiger Bezugsgrößen nicht aus. Aus der Geschichte des Christentums ist diese Erfahrung vertraut. Deshalb kam es zum Kanon der heiligen Schriften. Daher stammt die Rede vom kulturellen „Kanon“; damit ist ja nicht das mehrstimmige Singen der gleichen Melodie gemeint, sondern der feststehende Maßstab, an dem sich bemisst, welche Inhalte sich in ein bestimmtes kulturelles Paradigma einfügen. Grundlegend für den Prozess der Kanonbildung in diesem Sinn ist der Vorgang, in dem festgelegt wurde, welche Schriften zum Alten und zum Neuen Testament gerechnet werden. Natürlich ist dieser Kanon und darüber hinaus auch jeder vergleichbare Kanon in dem Sinn offen, dass auch anderes “nützlich zu lesen” ist, wie Martin Luther über die Apokryphen des Alten Testaments sagte. Es wird nie einen abgeschlossenen Kanon des kulturellen Gedächtnisses geben. Aber über dessen Kernbestand muss man sich wieder und wieder  verständigen.

Am Rande bemerkt: Interessant wäre es, der Frage nachzugehen, ob die Unterschiede in den internationalen Vergleichsuntersuchungen von Schulleistungen nicht auch mit Orientierungskompetenzen zu tun haben, die sich auf das Verhältnis der einzelnen zu der gestellten Aufgabe, auf ihr Verhältnis zu den eigenen Fähigkeiten, auch auf das jeweilige Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft beziehen. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Frage danach, ob Menschen das Bewusstsein entwickeln können, von der Gesellschaft geschätzt und nicht aufgegeben zu werden. Zugespitzt gefragt: Haben andere Nationen ein anderes, ein besseres kulturelles Gedächtnis? Gehen sie mit der Ausbildung des Selbstwertgefühls junger Menschen sorgsamer um? Dies sind Faktoren, die der Bildungsorganisation einer Gesellschaft vorausliegen, aber sich zum Teil auch in ihr ausdrücken können.

5. Orientierungswissen im Lebenslauf

Der person- und subjektorientierte Ansatz eines evangelischen Bildungsverständnisses macht es erforderlich, bei der Entwicklung einer evangelischen Bildungskonzeption die unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen in den Blick zu fassen. Es geht um eine differenzierte Bestimmung der Lernorte und Bildungsinstitutionen, die im Blick auf den Lebenslauf der Einzelnen eine je spezifische Rolle spielen. Der Bildungsweg des Einzelnen setzt in der frühen Kindheit an; die Bedeutung der Familie und der ersten Bezugspersonen tritt dabei ebenso in den Blick wie die heute anstehende Aufwertung des Elementarbereichs. Daran schließt sich die Bildung in der Schule, aber auch in der außerschulischen Jugendarbeit an. Jeder weiß, welche im wahrsten Sinn des Wortes schicksalhafte Bedeutung diese Lernorte und Bildungsinstitutionen für den Lebensweg eines Menschen haben können. Die Startchancen in den Beruf, aber auch das Weltwissen eines Menschen werden hier entscheidend geprägt. Aber Bildungsprozesse hören mit der Vorbereitung auf den Beruf nicht auf. Lebensbegleitende Bildung zeigt sich vielmehr in den auf Kindheit und Jugend folgenden Lebensphasen in der beruflichen Weiterbildung, der Erwachsenenbildung, der vielfältig schattierten informellen Persönlichkeitsbildung als ein komplexer, nie abgeschlossener Prozess einer Selbstbildung des ganzen Menschen.

Die Bildungsarbeit der evangelischen Kirche ist in diesem Prozess in Kindertagesstätten, Schulen, diakonischen Unternehmen, Hochschulen und anderen Einrichtungen vielfältig engagiert. In diesen Prozess ist aber auch die besondere Bildungsverantwortung unserer Gemeinden und Kirchen hineinzudenken und einzupassen, die sich in Gottesdienst und Gemeindearbeit, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, in den Angeboten für Erwachsene, für Frauen und Männer wie für Senioren vollzieht. Manches tritt in ein klareres Licht, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der lebenslauf- und lebenslagengemäßen Bildung betrachtet.

6. Orientierungswissen in der Pluralität

Vielfalt und Fremdes, Pluralität und Differenz stellen die Menschen vor ungewohnte Herausforderungen. Verschiedene Auffassungen von Werten oder Sinngebungen existieren nebeneinander und sind prinzipiell gleichberechtigt. Deshalb wird es auch das Orientierungswissen nur im Plural geben. Bei der Beschreibung der gegenwärtigen Situation greift man aber oft zu schnell zu der Aussage, wir lebten in einer multireligiösen und multikulturellen Situation. So dringlich es ist, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die durch kulturelle und religiöse Pluralität gekennzeichnet ist, so notwendig ist es doch zugleich, dass Menschen zu einer geklärten kulturellen und religiösen Identität finden. Wer andere verstehen will, braucht auch Klarheit darüber, wo er selbst zu Hause ist und was die eigene Identität prägt. Das Verstehen des Fremden und die Ausbildung einer eigenen Identität gehören unaufhebbar zusammen. Nur dann kann sich ausbilden, was unsere Gesellschaft besonders dringlich braucht: eine Kultur der Anerkennung. Die wechselseitige Anerkennung, die wir um des Zusammenlebens willen brauchen, ist dabei mehr als bloße Toleranz.

7. Orientierungswissen und religiöse Bildung

Auch wenn religiöse Bildung einen unverwechselbaren Beitrag zur Werteerziehung leistet, geht ihre Bedeutung darüber doch weit hinaus. Sie macht deutlich, dass Religion ein eigenständiger Bereich unseres Lebens und unserer Kultur ist. Sie vermittelt Kenntnisse und befähigt zu einem eigenen Urteil in diesem wichtigen Bereich. Sie lehrt, im Bereich religiöser Phänomene zu unterscheiden und dialogfähig zu sein. Sie bereitet junge Menschen darauf  vor, vom Grundrecht auf Religionsfreiheit einen eigenständigen Gebrauch zu machen. In dieser Befähigung zur mündigen Inanspruchnahme des Grundrechts auf Religionsfreiheit sehe ich eine besonders wichtige Aufgabe des Religionsunterrichts. Gerade angesichts einer Tendenz, Religionsfreiheit vorwiegend nur noch als negative Religionsfreiheit zu verstehen, sollte man mit dieser Aufgabe des Religionsunterrichts sorgsam umgehen. Im Blick auf diese Aufgabe verstehen wir den evangelischen Religionsunterricht als offen für alle suchenden und fragenden Schülerinnen und Schüler; aber wir geben seinen evangelischen Charakter deshalb nicht auf.

8. Gottoffene Humanität

Bildung zielt auf eine gottoffene Humanität. Evangelisches Bildungsverständnis versteht den Menschen als ein Beziehungswesen. Sein Menschsein verwirklicht sich in den Beziehungen, in denen sich seine Existenz vollzieht: in der Beziehung zu Gott, in der Beziehung zu den Mitmenschen und zur Mitwelt, in der Beziehung zu sich selbst. Gerade um dieser Beziehungen willen darf Bildung nicht auf das äußere Erlernen der Beherrschung von Mitteln beschränkt werden. Zu ihr gehört zugleich die Einübung in diese Beziehungen: eine Erziehung zur Wahrheit und damit zur Offenheit für die Gottesfrage, eine Erziehung zu Gerechtigkeit und Erbarmen und damit zu einer Kultur der Anerkennung im Miteinander der Menschen, eine Bildung für eine offene Zukunft, zu der die Sensibilität für die Bewahrung der Natur und für die Lebenschancen einer nächsten Generation gehört, und schließlich eine Bildung zur Kultur, nämlich zu einer perspektivenreichen Selbstthematisierung, die Ausbildung einer eigenen Identität mit einer respektvollen Wahrnehmung des Fremden verbindet.

Dass solche Kriterien kritisch geprüft, revidiert und weiterentwickelt werden, halte ich für genauso notwendig, wie mir das Gespräch über praktische Fragen der Umsetzung solcher Ziele als dringlich erscheint. Deshalb freue ich mich sehr darüber, dass dieser Kongress zu Stande gekommen ist. Ich danke allen, die ihn vorbereitet haben, und allen, die jetzt zu seinem Gelingen, wie ich hoffe, beitragen werden. Einen Anstoß dazu wollte ich mit diesem Vortrag geben; ich verbinde damit den Wunsch, dass dieser Kongress gut gelingt.