Predigt in der Augustinerkirche zu Erfurt. Kantaten-Gottesdienst zum Reformationstag

Thies Gundlach

Es ist das Heil uns kommen her (BWV 9)

Gnade sei mit uns und Friede, von Gott unserem Vater und unsrem Herrn JC. Amen

Liebe Gemeinde,
der Beginn der Kantate ist eindrücklich: Souveräne Frauenstimmen schweben über den tanzenden und tobenden, treibenden und trällernden Stimmen der Flöten bzw. der anderen Chorstimmen. Über dem wirbelnden Alltag des Lebens thront eine feste, auf langen Noten sitzende Stimme, die dem aufgeregten Leben zuruft: „Es ist das Heil uns kommen her von Gnad und lauter Güte!“ Und eben das ist der Grundton des Reformationsfestes: Gottes Zusage steht über allem Chaos, aller Wirrnis, aller Turbulenz des Lebens! Die weiteren Schritte der Kantate qualifizieren diese Wirrnis als Sünde, Verlorenheit und Tod: „Der Abgrund schluckt uns völlig ein, die Tiefe drohte schon den Tod…“. Gottes Herrlichkeit, seine Gnade und Güte stehen dem sündigen Leben gegenüber, da gibt es keine Brücke von hier nach dort. Oder doch?

Sie, liebe Gemeinde hier in Erfurt, haben im Augustinerkloster eine solche Brücke erlebt: Der Papst, der pontifex maximus, der große Brückenbauer, war da. Ob er als Brückenbauer zwischen den Konfessionen sehr erfolgreich war, lasse ich mal dahingestellt sein. Aber er kam und mit ihm kam ein ganz anderes Bild vom Menschen vor Gott. Denn man konnte die Vorbereitung des Papstbesuches ebenso wie den Besuch selbst ja nur verstehen als Besuch einer Kirche, die die Herrlichkeit Gottes, seine Größe und seinen Glanz zu spiegeln und darzustellen versuchte, eine Kirche, die den Abglanz jener Herrlichkeit abbilden sich bemühte, die Gott selbst ist. Die Kirche will die Jenseitigkeit Gottes, seine Heiligkeit und Helligkeit abbilden, damit wir Menschen die Hoffnung auf Gott nicht verlorengeben in den Trivialitäten des Alltags. Deswegen der Papst ganz in Weiß als Lichtgestalt, deswegen dieser gewaltige Hofstaat um ihn herum und deswegen die gigantischen Sicherheitsvorkehrungen, die Sie hier in Erfurt erlebt und vermutlich auch erlitten haben. Es gab ja faktisch ekine Kirchenmaus ohne Sicherheitszertifikat mehr in dieser Kirche. Und faktisch wirkte es wie eine weltliche Form höfischer Kultur:

Die Sicherheitsauflagen sind heute das, was früher einmal Rituale bei Hofe waren: Wer darf wann wo mit welchem Handschlag herantreten, wer darf ihm von Angesichts zu Angesichts begegnen, wer darf am Gespräch teilnehmen, wer kriegt Bilder mit ihm und wer muss aus der Ferne zusehen. Die Alten hätten gesagt: es ist eine „ecclesia triumphans“, eine sichtbare, das Heilige repräsentierende Kirche, die Gottes helles Licht in aller Weltlichkeit repräsentieren will. Es ist eine nach außen orientierte, gleichsam extrovertierte Kirche, die durch Protokollfragen, durch symbolische Gesten und äußerliche Inszenierungen die Heiligkeit und Herrlichkeit Gottes in der Welt darzustellen versucht. 

Und, liebe Gemeinde, wir Protestanten müssen lernen, das zu würdigen: Gottes Herrlichkeit soll sichtbar und spürbar, erfahrbar und anschaulich werden. Die römisch-katholische Kirche weiß von der Sehnsucht der Menschen, dass Heile und Helle sehen, zu schmecken, zu riechen und zu fühlen. Die Geschwister antworten auf das verständliche Bedürfnis, das Jenseits Gottes im Diesseits jedenfalls zu erahnen und das Licht jener Gotteswelt jedenfalls aus der Ferne zu sehen. Und wir Protestanten müssen aufpassen, dass wir nicht zu schnell den Kopf schütteln und Distanz markieren: Denn es gibt hier bei ihnen in Erfurt ebenso wie überall auf der Welt ungezählt viele Menschen, die eine tiefe religiöse Erfahrung machen, wenn sie – wie auf dem Erfurter Domplatz - aus beachtlicher Entfernung einen Gottesdienst mitfeiern dürfen, den der Papst leitet. Ihr Herz ist erfüllt und ihr Glauben gestärkt, obwohl der Tag noch früh, die Zeremonie lang und der Abendmahlsteil in Latein vorgetragen wird.

Zugleich aber liegt hier der entscheidende Unterschied zwischen unseren beiden Kirchen, und dies seit 500 Jahren: Wir Protestanten machen gar nicht erst den Versuch, die Heiligkeit und Helligkeit Gottes als Kirche darzustellen und nachzuahmen. Wir Protestanten verweisen auf Gott, nicht auf uns selbst, wir sind eine Kirche des Wortes, wir sind getragen von dem einen Wort Gottes, dem Sohn, der allein dieser Spiegel und Abglanz jener Herrlichkeit Gottes ist mitten in der Welt. Nur in ihm, nicht in uns, nicht in der Kirche hat Gott seinen Spiegel und sein Abbild, denn nur Gott kann beides: Ganz und gar Mensch und Welt sein und zugleich ganz und gar Gott bleiben. Wir Protestanten wissen seit Martin Luther und der Reformation: Dieser eine ist heilig, gut und gerecht, wir aber sind es nicht, wir werden ganz und gar von Tiefe verschluckt und in Dunkelheiten verstrickt, die Alten sagten: wir sind simul justus ac peccator, Sünder und Gerechtfertigte zugleich. Und wir dienen Gott, indem wir nicht auf unsere Kirche, nicht auf uns selbst, sondern auf Christus und seine Heiligkeit am Kreuz. Kirche ist bei uns eine Art Verweisungsamt, sozusagen ein lebendiges Hinweisschild. Wir sind Lautsprecher für Größeres, wir nehmen den Mund im wahrsten Sinne des Wortes viel zu voll, weil wir nicht von uns selbst, sondern von Gottes Möglichkeiten reden.

Deswegen ist die Reformationskantate auch mit so einer nüchternen, manche sagen auch mit einem so pessimistischen Menschenbild erfüllt: Wir hören diese Schuld- und Schamgefangenschaften, wir singen dieses „Mit unser Macht ist nichts getan“ und viele hören dies als negative Aussage über den Menschen. Wir reden von Versagen und von Schuld und viele meinen, der Glaube will uns klein machen. Aber die Alten sahen darin zuerst eine unerhörte Entlastung, eine Befreiung vom Zwang, das Heilige selbst herstellen und repräsentieren zu müssen, oder eben: selbst gute Werke vorzuweisen! Die vermeintliche negative Sicht auf den Menschen als Sünder ist im Kern eine unerhörte Barmherzigkeit, weil von uns nicht mehr etwas verlangt und erwartet wird, was wir nicht leisten können. Gott ist heilig, er kann uns auch heilig machen, je und je mit seinem Heiligen Geist, aber wir müssen nicht so tun, als seien wir Spiegel und Abbild der göttlichen Heiligkeit. Natürlich sind auch wir mitunter heilig und gerecht, es gibt Zeiten, da ruft uns Gott in eine besondere Verantwortung: Wir sind dankbar für den Widerstand gegen die Nazi-Diktatur 1933 und sind stolz auf die Rolle, die die Christen während der friedlichen Revolution 1989 innehatten. Aber wir machen dies nicht als heilige Kirche, sondern als Menschen, die wissen, dass sie sie Sünder sind. Und eben dies ist auch 500 Jahre nach der Reformation eine unverzichtbare Aufgabe: Dass nicht wir Gott abbilden, sondern dass Gott uns heilt und hell macht, dass – so haben es die Alten formuliert – das Gesetz nicht von uns erfüllt wird, sondern von Gott selbst.
Und wenn wir den Text der Kantate gleich nach der Predigt weiterhören, dann leuchtet genau diese Kernbotschaft auf: Christus hat das Gesetz erfüllt und deswegen gilt: „Herr, du siehst statt guter Werke auf des Herzens Glaubensstärke“. Alte Sprache, klar, aber im Kern heißt das:

Die Heiligkeit wächst aus dem Inneren des Menschen. Erst kommt die getröstete, geheilte, erlöste und befreite Seele, dann der Außendarstellung. Erst kommt das zuversichtliche Herz, dann das dankbare Tun. Der evangelische Weg geht von innen nach außen. Denn erst ein geheiltes, befreites, fröhliches Herz kann sich nach außen an den Nächsten wenden und seine Not sehen. Manchmal – liebe Gemeinde – habe ich den Eindruck, wir Protestanten vernachlässigen diese Innenseite unseres Glaubens, wir vernachlässigen diese protestantische Innerlichkeit. Aber wenn wir nicht wie Martin Luther und wie die ganze Reformation zuerst und zentral die Glaubensstärke kultivieren und die Frömmigkeit der Seele fördern, dann entgehen wir vielleicht der Gefahr einer Ent-Weltlichung, sind aber der Gefahr einer Ver-Weltlichung noch nicht entkommen. Eine Kirche kann ihre innere Mitte verlieren, wenn sie das Staunen über Gottes Güte, wenn sie die Freiheit von Zwang zur Heiligkeit, vom Gesetz vergisst und die Verwunderung über Gottes Nähe vernachlässigt.

Deswegen endet die Kantate auch mit diesem Satz: „Sein Wort lass dir gewisse sein, und ob Dein Herz spräch lauter Nein, so lass doch dir nicht grauen!“ So endet eine Kantate, die noch darum weiß, dass ein Herz sich in sich selbst verheddern kann, das sich zermürbt mit Selbstanklagen und zerreibt in Angst. Hier weiß eine Kantate noch, dass die Reformation zuerst und vor allem die Angst vertreiben und den Trost des Gewissens groß machen wollte. „Lass dich nicht erschrecken“, heißt es im Schlusschoral, lass dich nicht verunsichern, hab keine Angst, bleibe auch im Herzen bei einem aufrechten Gang und gibt den Angstmachern keine Chance, denn Gott ist dir nahe, er macht den Himmel auf und damit die Sorgen der Welt kleiner.

Weil Gott der Herr deiner Seele ist, kann dort kein anderer Herr rumfuhrwerken, und eben dies ist die erste, wichtigste und heiterste Freiheit des Protestanten. Und wir sollten auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 festhalten: Die Reformation ist zuerst eine Herzensangelegenheit, - im doppelten Sinne des Wirtes: Sie hat die Angst verscheucht, die Seelen befreit, die Zweifel vertrieben und die Gewissen getröstet, und sie ist uns wichtig, auch 500 Jahre später, - Gott sei Dank und Amen.