Kirchentag 2011: Bibelarbeit über Matthäus 5, 1-12 in der EnergieVerbund Arena

Margot Käßmann

(Matthäus 5, 1-12 nachlesen)

Was ist Glück? Und wie werde ich glücklich?

Glück ist an der Tagesordnung. Bei Radio Paradiso kann der Berliner jeden Morgen „Glückscomedy mit Dr. Eckart von Hirschhausen hören. Francois Lelord, „Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück“ (München 2004) verkaufte sich eben so gut wie Monika Marons Roman „Ach, Glück“, der die Suche der älter werden Generation nach erfülltem Leben beschreibt. Und als ich in den USA bei einer Veranstaltung war, wurde der Dalai Lama als der „happiest religious leader of the world begrüßt und sagte auf die Frage, was das Ziel des Lebens sei: „Glück“.

Das zeigt: Glück ist ein hochaktuelles Thema – und verkauft sich bisweilen besser als die Bibel. Dabei ist auch sie ein wahrer Glücksratgeber. Ihr geht es allerdings um mehr als Glück: Um Glückseligkeit. Die Bergpredigt, unser Bibelarbeitstext für heute Morgen, ist der Glücks-Text der Bibel. Lassen Sie uns also zunächst einmal den Kontext anschauen, dann auf die neuen Seligpreisungen einzeln eingehen und abschließend schauen, was das für uns heute bedeutet. Ich lege die Übersetzung für den Kirchentag zugrunde, die Sie im Liederbuch zum Kirchtag („Herztöne“) auf der Seite 145 finden. Gleich darunter sehen Sie die uns allen sicher vertrautere Übersetzung Martin Luthers.

Wie auf den letzten beiden Kirchentagen begleitet meine Bibelarbeit der Posaunenchor aus Genkingen, der uns schon mit dem Vorspiel begrüßt hat. Wir beginnen mit Lied 3 aus dem Liederheft: Dich rühmt der Morgen.

1. Als Jesus die Menschenmengen sah, stieg er auf den Berg. Er setzte sich, und seine Jüngerinnen und Jünger kamen zu ihm. Er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: (5,1f.)

Eine schöne Szene, die Ruhe ausstrahlt. Ein Berg, alle Versammelten sind etwas abgehoben vom Alltag der Ebene also. Jesus setzt sich. Diejenigen, die so wichtig finden, was er sagt und tut, die Hoffnung in ihn setzen, sie scharen sich um ihn. Und er hält – so der Evangelist Matthäus – eine seiner ersten öffentlichen Reden. Ein wenig erinnert die Szene an Moses auf dem Berg Horeb und das ist gewollt. Jesus erläutert die Regeln des Reiches Gottes, wie Mose die Zehn Gebote als Weisung erhält. Die Anerkennung der Tora steht nicht in Frage, das wird hier deutlich. Auch die sitzende Haltung in Anlehnung an Schriftgelehrte und Pharisäer, so Peter Fiedler in seinem Kommentar, unterstreicht die Autorität Jesu und zeigt: „Die hier beginnende Lehre Jesu auf dem Gottesberg, die an der Tora orientierte Lehre, also Tora-Auslegung für die Gemeindes des Mt ist, kann trotz der Polemik des Mt nicht in Gegensatz zur pharisäisch-schriftgelehrten Tora-Auslegung gebracht werden. Vielmehr sind sie in einer Weise aufeinander bezogen, die durch die Auslegung geklärt werden muss.“ [1] Mir erscheint das wichtig: Die Seligpreisungen sind nicht vollkommen neue Lehre, ein Absetzen Jesu von der Tradition seines eigenen, jüdischen Glaubens. Nein, er nimmt darauf Bezug und setzt seinen ganz eigenen, neuen Akzent.

So, wie sie überliefert wurde, sind die Seligpreisungen einer der schönsten Texte der Bibel! Wir haben vor uns eine sehr bewusst konzipierte Rede des Matthäusevangeliums, das ungefähr in den Jahren 80–90 entstanden ist. Exegetinnen und Exegeten sind aber überzeugt, dass sie sich zum großen Teil auf Worte Jesu selbst zurück beziehen. Darauf verweist auch das Lukasevangelium, das die so genannte „Feldrede“ Kapitel 6,20–49 mit Seligpreisungen beginnen lässt – allerdings nicht in einer so durchkomponierten Form. Bei Matthäus sind die Seligpreisungen Auftakt der Bergpredigt, die über das Vaterunser bis zu den Gerichtsworten geradezu programmatisch beschreibt, was die Botschaft Jesu ist. Als der Gesalbte, als Messias, verkündet er den Armen Gerechtigkeit, wie es der Prophet Jesaja angekündigt hat. Etwa Jesaja 11,4, wo es über den, auf dem der „Geist des Herrn ruht“, heißt: er „wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen.“ Oder denken wir an Jesaja 61,1: „Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. ER hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen …“ Um einen neuen Bund geht es, in dem die kommende Gerechtigkeit Gottes Maßstab ist für das Verhalten der Kinder Gottes in ihrer Zeit und Welt.

Zwei Begriffe stehen dabei im Zentrum: selig bzw. glücklich oder auch glückselig sein und das Reich Gottes.

Der griechische Begriff makarios ist schwer zu übersetzen. Ich denke, die Übersetzung für diesen Kirchentag hat mit „glückselig“ einen guten Ansatz gefunden. Makarios hatte für die Hörerinnen und Hörer Jesu nicht einen Glücksbegriff im Zentrum, wie wir in heute in banaler Form kennen: don’t worry, be happy. Eine etwas oberflächliche Lebensform. Makarios waren in griechischer Literatur nur Götter, später auch reiche Menschen denen es so gut ging wie Göttern. [2]

Christine Gerber schreibt: „Die mit makarios beginnenden Sätze haben eine den damaligen Hörern und Leserinnen vertraute Form. Solche so genannten Makarismen folgten derselben Struktur: Am Anfang steht pointiert das Wort „glückselig“, dann eine Beschreibung der Menschen, die so sind, dann oft eine Begründung.“ [3] So werden Menschen gepriesen, denen es überdurchschnittlich gut geht – bei Homer etwa auch ein Mann, der eine gute Frau hat (Odyssee 24,192f.). Oder Psalm 1: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen … der ist wie ein Baum gepflanzt an den Wasserbächen … und was er macht gerät wohl.“

In der Komödie „Happy-Go-Lucky“ von Mike Leigh, zu deutsch: unbeschwert, sorglos, die im dem Jahr 2008 in den Kinos lief, erzählt von der Grundschullehrerin Pauline, die geradezu unverwüstlich glücklich ist. Es gibt viel zu lachen, wenn sie sich weder von einem griesgrämigen Fahrlehrer noch von ihrer Schwester noch von anderen Hindernissen in ihrer Fröhlichkeit einschränken lässt. Und doch: Was ist die Ursache solcher Lebenshaltung? Die Gene? Die Einstellung? Was macht einen Menschen glücklich? Wie beschreiben wir eine glückliche Lebensform? Erfüllung, Geld, Liebe, Partnerschaft, Glaube, Kinder? Halten wir einen Moment inne. Wann waren Sie das letzte Mal glücklich? Richtig glücklich, selig, mit diesem warmen Gefühl; es ist wunderbar jetzt, dieser Augenblick, diese Situation, ich bin mit meinem Leben, meinen Lieben, meinem Glauben in absolutem Einklang.

Ein Gefühl der Glückseligkeit meine ich, wie es Hanns Dieter Hüsch beschrieben hat:

Ich bin vergnügt, erlöst, befreit,
Gott nahm in seine Hände meine Zeit:
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit

Es geht nicht um unablässiges Lächeln, sondern um ein Leben in Fülle. Ein Leben, in dem ich auch meine Schwächen, meine Ängste, mein Versagen integrieren kann und trotzdem nicht meine, ich sei gescheitert. Ein Leben, das hinsehen kann auf die Herausforderungen unserer Zeit, die Zerstörung, die Gewalt, das Leid und dennoch nicht sagt, dies sei keine Welt, in die Kinder geboren werden sollten.

Es gilt, eine innere Balance und Zufriedenheit zu gewinnen, sich auch angesichts von Problemen im Einklang zu finden mit dem eigenen Leben. Und gleichzeitig geht es darum, sich nicht einschläfern zu lassen, sondern aufzubegehren gegen Unrecht und Gewalt. Es gibt Tage, da entsteht das tiefe innere Gefühl einer solchen Balance. Zumindest für den Moment ist alles gut und im Einklang. Solche Situationen sind rar im Leben. Allzu oft rennen wir an diesem Gefühl vorbei, uns fehlt die Zeit, sie wahrzunehmen. Aber wenn sie dann da ist, die große Liebe, der besondere Moment, der Durchbruch oder Erfolg, auf den wir gehofft haben, wenn unser Engagement Früchte bringt, dann scheint es, als stehe die Welt einen Augenblick lang still. Und dann sind wir glücklich. Tiefe Momente im Leben sind das, die wir selten vergessen. Der Theologe und Philosoph Thomas von Aquin (1225–1274) sagte: Ultimus finis hominum est beatitudo, das letzte Ziel des Menschen ist das Glück – sind wir da wieder ganz nahe am Buddhismus und der Aussage des Dalai Lama? Das werden wir uns gleich bei den einzelnen Seligpreisungen näher anschauen. Sie sehen Glück oder auch Glückseligkeit nämlich nicht als individuelle Lebenserfüllung, sondern darin, Teil einer Gemeinschaft oder auch eines Gemeinwesens, des Volkes Gottes zu sein.

Der andere zentrale Begriff in den Seligpreisungen ist die basileia tou theou, das Reich Gottes oder auch das Himmelreich. Sie ist eine Hoffnung auf die Zukunft, wie viele der Seligpreisungen ja auch Verheißungen auf Zukunft hin sind: sie werden getröstet werden, sie werden Gott schauen. Aber interessant ist ja gerade die Spannung, die Jesus dadurch erzeugt, dass er davon spricht, wie die zukünftige Welt Gottes das Diesseits verändert. Weil wir die Welt im Licht von Gottes Himmelreich sehen, haben wir eine neue Perspektive. Es ist ein tiefes Missverständnis, das als Vertröstung auf ein vermeintlich besseres Jenseits zu sehen. Das gibt die notwendige Widerstandskraft, gegen ungerechte Verhältnisse, Gewalt und Zerstörung mitten in dieser Welt anzutreten. Die Hoffnung auf das Reich Gottes ermutigt, das Reich der Welt in Frage zu stellen. Schauen wir uns nun die acht Seligpreisungen im Einzelnen an.

2. Glückselig sind die bis ins Innerste Armen, denn ihnen gehört die gerechte Welt Gottes. (5,3)

Dieser Vers wird oft reduziert auf in irgendeiner Weise „geistig Minderbemittelte“, so Christine Gerber [4] Die Kirchentagsübersetzung räumt mit dieser Einschränkung auf. Es geht um materiell Arme, Menschen, die Arm sind, weil sie verzweifeln am Leben, alle also, die in irgendeiner Weise arm sind. Armut ist seit biblischen Zeiten eine Geißel der Menschheit. Nie aber waren so viele Menschen arm wie heute!

Die Statistik der Welthungerhilfe (2010) sagt:

  • Weltweit hungern etwa 925 Millionen Menschen (FAO, September 2010)
  • In 29 Ländern ist die Hungersituation für die Menschen sehr ernst oder gravierend – also in beinahe jedem 6. Land der Welt (Welthunger-Index (WHI) 2010)
  • Zwei Drittel der weltweit an Hunger leidenden Menschen leben in nur sieben Ländern: Bangladesh, China, DR Kongo, Äthiopien, Indien, Indonesien und Pakistan. (FAO, September2010)
  • In Entwicklungsländern sind 195 Mio. Kinder unter fünf Jahren sind zu klein für ihr Alter und damit unterentwickelt (WHI 2010)
  • Über 90 Prozent der unterentwickelten Kinder leben in Afrika (WHI 2010)
  • 129 Mio. Kinder in Entwicklungsländern sind untergewichtig (WHI 2010)
  • 42 Prozent der untergewichtigen Kinder weltweit leben in Indien (WHI 2010)
  • Jährlich sterben etwa 2,2 Mio. Kinder weltweit an den Folgen von Mangel- und Unterernährung – das sind 6.027 Kinder täglich (WHI 2010)

Diese Zahlen tun weh, erschüttern, verstören. Weil hinter jeder Zahl ein Schicksal steckt, ein Leben, Hoffnung, Elend, Zerstörung. Was eigentlich, wenn täglich 6027 Westeuropäer an Hunger sterben würden? Wie alarmiert wären wir, wenn wir es schon sind bei 10 Toten durch das EHEC Virus? Kann es sein, dass Sterben an Armut in den Ländern des Südens schlicht uninteressanter ist als Sterben in reichen westlichen Industrienationen? Wo ist denn da die „gerechte Welt Gottes?“

Die Unternehmerin Tina Voss schreibt zu diesem Vers: „Armut hat viele Gesichter in der Welt. Es fällt mir schwer zu entscheiden ob die Armut in Hannover schlimmer ist als die Armut in den Entwicklungsländern der Welt …“ [5] Ja, Tina Voß hat Recht, das lässt sich nicht vergleichen. Ein Kind, das auf einer Müllhalde auf den Philippinen geboren wird, ist anders arm als ein Kind in einer Familie, die auf Hartz IV angewiesen ist. Aber arm sind sie beide! Weil sie sich nicht beteiligen können an der Gesellschaft, keine Bildungschancen haben, gesundheitlich benachteiligt sind. Ihre Entfaltungsmöglichkeiten sind eingeschränkt.

Aber Kinderarmut ist nicht interessant, politisch hat sie kein Gewicht, ökonomisch ist sie irrelevant. Dafür kann ich einen Beleg aus persönlicher Erfahrung liefern. Am 1.1.10 habe ich in der Frauenkirche in Dresden eine Predigt gehalten, die vom Fernsehen übertragen wurde. Gegenüber dem banalen Spruch „Alles wird gut!“ habe ich an drei Punkten erklärt: „Nichts ist gut!“ Das betraf die Klimakatastrophe, den Bundeswehreinsatz in Afghanistan und Kinderarmut in Deutschland. Während der Satz „Nichts ist gut in Afghanistan“ mir um die Ohren geschleudert wurde, zu politischen Anfragen führte und zu großer Aufmerksamkeit sowie heftigen Auseinandersetzungen, hat offensichtlich niemanden der darauf folgende Absatz interessiert: „Nein, es ist nicht alles gut, wenn so viele Kinder arm sind im eigenen Land. Diese Kinderarmut versteckt sich oft ganz still im Hintergrund. Da erzählt mir eine Mutter, dass die Klasse ihres 15-jährigen Sohnes einen Auslandaufenthalt geplant habe. Sie konnte das erforderliche Geld nicht aufbringen. Die Klasse wollte ihn unbedingt dabeihaben und gemeinsam haben sie das notwendige Geld aufgetrieben. Aber der Sohn wollte nicht mitfahren, weil er sich zu sehr geschämt hat, dass andere für ihn bezahlen. Selbst als der Lehrer anrief, ließ sich ihr Sohn nicht umstimmen. Er blieb als Einziger zuhause.“

Es ist doch merkwürdig. Diese Passage hat niemand zitiert, obwohl die Predigt für soviel Aufmerksamkeit und Kritik sorgte. Sie erschien offenbar niemandem als Provokation, da das Thema Kinderarmut ganz offensichtlich keine Relevanz und keine Lobby hat. Da handelt es sich meines Erachtens um eine tiefe Fehleinschätzung. Natürlich ist der Afghanistaneinsatz eine eminent kritische Frage. Aber Kinderarmut ist ebenso relevant und zwar in sozialer, politischer und ökonomischer Dimension!

Oder ist da doch schlicht und einfach die Arroganz gegenüber der Armut? Die Armen sind selbst schuld? Gern wird über sie gelacht, wenn sie sich als Prekariat im Fernsehen selbst lächerlich machen. Oder es wird sich empört, weil sie angeblich Schmarotzer sind. Willkommen sind sie nicht in unserer Gesellschaft, wenn sie aus Afrika kommen und Zuflucht suchen, Zukunft, Heimat. Manches Mal sind sie Objekte unserer Hilfe, aber selten Subjekte der Begegnung. Das ist auch theologisch so, die Armen oder auch geistlich Armen werden selten als Subjekte angesehen mit einer Überheblichkeit an nach dem Motto: Gottes Wille und die Aussagen der Bergpredigt kann nur verstehen, wer studiert hat und reflektieren kann. Es geht nicht um Wissen und um Reflektiertheit, sondern es geht darum, das vom Evangelium zu leben, was man verstanden hat, hat Frère Roger einmal so schön gesagt. Oder ich denke an das Evangelium der Bauern von Solentiname, in dem Ernesto Cardenal wiedergibt, wie Bauern in Nicaragua die biblischen Geschichten verstehen und ganz neue Einsichten zeigt, die eine enorme Horizonterweiterung darstellen und auf die wohl kaum ein Exeget am Schreibtisch gekommen wäre. Akademische Theologen sind versucht, die Nase über so einfache Erklärungen und Auslegungen der Bibel zu rümpfen und bezichtigen sie der „präreflektiven Unmittelbarkeit“. Dabei vergessen sie: Gerade den „bis ins Innerste Armen“ gehört die gerechte Welt Gottes. Eine schöne Übersetzung. Ja, das wird vollendet erst in Zukunft so sein. Aber sie ist eine Herausforderung für all das Unrecht unserer Welt hier und jetzt. Wir können die gerechte Welt Gottes nicht denken, ohne uns über das Unrecht in unserer Welt zu empören. Die gerechte Welt Gottes zeichnet Jesus schon vor – und sie wird wie seit 2000 Jahren auch in Zukunft eine Herausforderung sein, Unrecht anzuprangern.

3. Glückselig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. (5,4)

„Sie ist einfach untröstlich“, sagt mir die Tochter über ihre Mutter, deren Mann ich vor einigen Monaten beerdigt habe. Sie findet keinen Trost über diesen Tod, diesen Verlust. Allein fühlt sie sich, verlassen. Und niemand ist da, der sie aufrichten kann. Sie findet nicht heraus aus der Spirale von Unglück, Angst, Verlassensein. Trost-los ist ihr Leben geworden. Traurig, grau, ohne Ziel, ohne Farben, ohne Glück. Wer trostlos ist, befindet sich im Abseits des pulsierenden Lebens. Er gehört nicht dazu. Sie ist kein Zentrum der Kommunikation. Ohne Trost sein, das ist fast nicht ganz bei Trost sein. Es macht zum Außenseiter. Du wirst zur „schwierigen“ Person.

Trost ist bei alledem ein sehr schönes Wort, finde ich. Wie wunderbar ist es, getröstet zu werden. „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, heißt es beim Propheten Jesaja (66,13). Was für ein bewegendes Gottesbild! Gott als tröstende Mutter. Gott nimmt mich in die Arme mit all meinem Kummer, meiner Einsamkeit, mit all meiner Verzweiflung und mit all meinen Fragen. Ich darf weinen um meine Verluste, kann schluchzen, erzählen, meinem Jammer freien Lauf lassen. Und werde nicht verurteilt, nicht beurteilt, muss mich nicht zusammen reißen, sondern darf einfach jetzt so sein. Jeder Mensch auf der Welt wird begreifen, was das heißt. Auf diese Weise getröstet zu werden, das bleibt wohl eine lebenslange Sehnsucht. So wie die Mutter, die das Kind in den Arm nimmt, das sich die Knie aufgeschlagen hat. Wie der Vater, die tröstet, wenn die Schulklausur daneben gegangen ist. Wie die Mutter, die dich in den Arm nimmt beim ersten Liebeskummer. „Komm erst einmal her und lass dich trösten.“ Das heißt auch, ich muss nicht gleich Lösungen finden, es ist jetzt nur Zeit für Trost. Das Kind weiß, es ist angenommen, gehalten, mit allen Fehlern und aller Verletzung.

Danach sehnen wir uns auch als Erwachsene. Dass uns jemand hält und trägt. Und doch erleben wir so oft Enttäuschungen. Je älter Menschen werden, desto weniger wagen sie es wohl, solchen Trost zu erbitten, zu erhoffen, sich einfach fraglos fallen zu lassen. Da ist dann eher Selbstkontrolle angesagt. Oder die Attitüde von: Ich schaff das schon! Wer Trost braucht, zeigt Schwäche.

Manchmal wissen wir nicht, wie trösten. Denn Trauer geht tief. Sie braucht Zeit und Raum und Geduld. Trösten zu können, ist ja eine Position der Kraft, der Stärke. Es ist schön, trösten zu können, auch weil ich weiß, jemand vertraut sich mir so ganz und gar an. Wer des Trostes bedürftig ist, befindet sich immer in einer ungeschützten Lebenslage. Es sind die großen Verletzungen der enttäuschten Liebe, der verlorenen Lebenschance, der ungetrockneten Tränen, der Krankheit, die uns einsam machen. Es gibt die gebrochenen Herzen, die zerbrochenen Träume, die verlorenen Hoffnungen, die unerfüllten Pläne in jedem Leben. Gebrochen. Zerbrochen. Das ruft die tiefe Sehnsucht nach Trost in uns wach.

Was aber das menschliche Auge als Sackgasse oder Scheitern sieht, kann das Auge des Glaubens als Lebenstiefe erkennen. Die Welt ist eben kein perfekter Ort und Menschen sind nicht fehlerfrei. Das Leben ist nicht makellos. Genau da tröstet uns Gott: Dein Leben macht Sinn, auch wo du mit Angst und Verlust kämpfen musst. Das führt übrigens in der Konsequenz gerade nicht zu einer Art Weltflucht. Es ist keine Vertröstung auf ein besseres Jenseits, um Ungerechtigkeiten der Welt zu rechtfertigen. Sondern es bringt eine radikale Freiheit im Gepäck, sich einzumischen in die Welt. Klar einzutreten für Gerechtigkeit schon in dieser Welt, weil nur so eine Spur von Gottes zukünftiger Welt gelegt wird. Weil die Todesangst überwunden ist, entsteht eine radikale Freude am Leben, die dafür streitet, dass Menschen das Leben in Fülle haben. Alle Menschen, nicht nur eine Elite der Menschheit.

Glaube kann trösten. Nein, nicht vertrösten auf ein vermeintlich besseres Jenseits. So wird Glaube oft dargestellt. Als ein Notnagel für Menschen mit Furcht vor dem Tod. Ein „Opium des Volkes“ sozusagen, mit dem Menschen sich selbst betäuben, um die Welt besser ertragen zu können. Getrost sein. Das hört sich nach einer wunderbaren Lebenshaltung an. Wahrscheinlich ist es eine Glaubenshaltung. Getrost. Ich bin ganz bei Trost. Und getrost. Getröstet und ermutigt.

Vielleicht lässt sich über Trost gar nicht schreiben oder reden. Vielleicht lässt sich Trost nur erfahren, erspüren, erdichten, er-singen. Trost ist ein Vorgang, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen, zwischen Mensch und Gott. Gerade, wenn unsere Flügel gebrochen sind, wir „on broken wings“, mit gebrochenen Flügeln leben müssen, sind wir ja dünnhäutig, anfällig für Kritik, wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Wir haben das tiefe Bedürfnis nach Nähe und Gehaltensein, danach, uns anvertrauen zu können. Eine Schulter zum Anlehnen suchen wir, einen Platz, an dem wir Zuflucht finden können. Ohne Fragen, ohne Problemgespräche, eine Situation des Angenommenseins. Ein Ohr, das zuhört. Jemand, der annimmt, ohne zu urteilen. Einen Raum ohne Lösungsvorschläge. Trost ist eine Erfahrung frei von allen Wegweisungen. Es geht darum, angenommen zu sein, schlicht in den Arm genommen werden will ein Mensch, der Trost sucht.

Friedrich Spee hat das in einem meiner liebsten Weihnachtslieder wunderbar gedichtet. Er lebte am Anfang des 17. Jahrhunderts (1591–1635) und erfuhr unendlich viel Not: den Dreißigjährigen Krieg, die Pest, Hexenverbrennungen. Gerade die als Hexen verurteilten Frauen, die er auf ihrem Weg zum Scheiterhaufen begleitet, rühren ihn, den jungen Jesuitenpater, zutiefst an, es ist eine furchtbare Erfahrung für ihn. In den Verbrennungen sieht er Finsternis und Jammertal, aber nicht Gottesurteile oder gar Recht. Gott ist für ihn nicht der Vollstrecker menschlicher Wahnvorstellungen. Um Hoffnung und Trost geht es ihm: „O Heiland reiß die Himmel auf“, dichtet er in Anlehnung an Jesaja 45,8. Das ist ein Schrei nach Trost.

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all’ ihr’ Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hie im Jammertal.
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?

Spees Frage ist oft auch unsere Frage. Wie kann so viel Trostlosigkeit in dieser Welt existieren? Vielleicht müssen wir diese Frage so stehen lassen. Den gebrochenen Flügel akzeptieren als Teil des Lebens. Die Sehnsucht nach Trost mag uns umtreiben, selbst andere Menschen zu trösten. Wir können uns dafür öffnen, dass wir selbst Tröstende sind. Offen hinschauen, wo andere mit ihrem Kummer kämpfen. Und immer wieder darauf zu hoffen, dass wir getröstet werden. Dazu gehört auch der Mut, sich anzuvertrauen und zu öffnen. Vielleicht ist da jemand, der uns gern trösten würde, aber wir sind gar nicht offen dafür. Trost bedeutet nicht das Ende von Leid. Aber es meint eine Erfahrung, dass ich mit meinem Leid aufgenommen und umarmt werde. Von anderen Menschen. Und von Gott. Schon jetzt und erst recht in Gottes Zukunft.)

4. Glückselig sind, die Mut zur Gewaltlosigkeit zeigen, denn sie werden das Land erben (5,5)

Im vergangenen Jahr nahm ich an einer Friedenskonferenz von Frauen in den USA teil. Zu Beginn wurde ein Film gezeigt: „Pray the devil back to hell“ – Bete den Teufel in die Hölle zurück. Der Film hat mich schockiert und begeistert zugleich. Er erzählt vom Bürgerkrieg in Liberia. Die Brutalität der marodierenden Banden, bewaffnet mit Gewehren und Macheten, wird auf bedrückende Weise deutlich. Sie lachen laut, diese Jungen, während sie einen Mann hinknien lassen und ihm den Kopf abhauen. Eine Frau schildert weinend, wie sie mit einem Messer am Hals zusehen musste, wie auf der einen Seite ihr Mann erstochen, auf der anderen ihre 12jährige Tochter brutal vergewaltigt wurde. Sie hat monatelang kein Wort sprechen können nach diesem Erleben, diesem Überleben.

Ich fand in der Tat, der Teufel war sichtbar in diesen Bildern. Angst und Schrecken und die Lust am Bösen auf der anderen Seite, ein offensichtliche Freude an Gewalt, Erniedrigung und Zerstörung. Da ist das, was die Bibel als das Böse oder den Teufel bezeichnet sehr anschaulich.

Aber da waren auch mutige Frauen, Christinnen, Musliminnen, die der Gewalt ein Ende bereiten wollten. Am meisten beeindruckt mich Vaiba K. Flomo aus Liberia. In einer kleinen lutherischen Kirche haben sie in der Hauptstadt Liberias die Bewegung in Gang gesetzt, die schließlich zum Frieden führte. Großartig ist, zu sehen, wie christliche und muslimische Frauen einfach die religiösen Grenzen auch gegen die Skepsis ihrer geistlichen Leitenden überwinden und sich miteinander auf diese Weg einlassen. Und es ist beeindruckend, wie mutig und kreativ die Frauen den Friedensprozess schließlich in Gang gesetzt haben. Als die Friedensverhandlungen in Accra (Ghana) nach sechs Wochen stagnierten, blockierten sie die Tür bis endlich etwas in Gang kam. Es ist eine lange, tragische Geschichte, die gut endet. 2005 wurde mit Ellen Johnson-Sirleaf eine Frau ins Präsidentenamt gewählt.

„Gewalt überwinden“ war deshalb in den vergangenen zehn Jahren Thema einer Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen, die auf der Vollversammlung 1998 in Harare nach vielen Schwierigkeiten beschlossen wurde. Während der Zentralausschusstagung 2001 in Berlin wurde diese Dekade offiziell eröffnet. Das war für mich ein sehr bewegender Moment. Wir zündeten Kerzen in der Nähe des Brandenburger Tors an, wo eine Mauer nicht nur mein Land, sondern auch Europa 28 Jahre lang geteilt hatte. Einer der Gründe für den Zusammenbruch der Mauer lag darin, dass Christen und Christinnen in der Deutschen Demokratischen Republik immer wieder Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung gefordert hatten. Von den Kirchen in Leipzig, Dresden und Ostberlin brachten sie den Aufruf „Keine Gewalt“ auf die Straßen dieser Städte und trugen entscheidend dazu bei, dass eine gewaltlose Revolution möglich wurde.

Vorletzte Woche wurde die Dekade in Jamaika beendet. Aber die vergangenen zehn Jahre haben die Welt nicht in einem friedlichen Ort verwandelt. Weit davon entfernt. Seit dem 11. September 2001 haben der Terrorismus und der so genannte „Krieg gegen den Terrorismus“ unvorstellbares Leid gebracht. Terroristen wie Bin Laden sahen und sehen sich als Vollstrecker des göttlichen Willens im Namen des Islam. Länder, die sich selbst zur Demokratie erklären, haben sich in die Irre führen lassen, benutzen Begriffe wie „Kreuzzug“ und „Achse des Bösen“, um militärische Aktionen und die scheinbar legitime Forderung „Töten oder gefangen nehmen“ zu legitimieren! Der Waffenhandel weitet sich schnell und immer weiter aus. Nach Angaben des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) ist der deutsche Anteil am internationalen Waffenhandel zwischen 2005 und 2010 auf 11 Prozent gestiegen und wird nur noch von Russland mit 23 Prozent und den USA mit 30 Prozent überrundet. Das bedeutet: Unsere Volkswirtschaften profitieren von der Gewalt und dem Krieg, den wir beklagen. Die Kirchen können angesichts dieser furchtbaren Situation nicht schweigen!

Es ist heute offensichtlich, dass die Religion eine entscheidende Rolle bei Friedensanstrengungen und der Überwindung von Gewalt spielt. Der römisch-katholische Theologe Hans Küng sagt: Es gibt keinen Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Es ist an der Zeit, dass die Religion sich weigert, missbraucht zu werden, indem Öl auf das Feuer des Krieges und des Hasses gegossen wird. Es ist an der Zeit, konsequent zu verneinen, dass es irgendeine theologische Legitimation für Gewalt gibt. Es gibt keinen gerechten Krieg – das ist es, was wir aus der Geschichte gelernt haben. Es gibt nur einen gerechten Frieden. Und dieser erfordert Kreativität, Zeit, Engagement und Geld. In einer überzeugenden Studie hat Markus Weingardt vierzig internationale Konflikte untersucht und dokumentiert, welch großen Einfluss religiös motivierte Menschen auf Friedensanstrengungen ausüben können. Sie sind in der Lage, Brücken zwischen den Konfliktparteien zu bauen, weil ihnen Vertrauen geschenkt wird. Sie verfügen über Friedenssymbole wie das gemeinsame Gebet. Sie wagen es, mit dem „Feind“ zu sprechen.

Wir alle wissen, dass diejenigen, die an Gewaltlosigkeit glauben, oft als naiv angesehen werden und dass ihnen unterstellt wird, die Realität von Macht und Politik nicht zu verstehen. Das sollten wir akzeptieren! Jesus selbst war naiv, wenn wir sein Leben mit den Maßstäben des Erfolgs messen. In den Augen der Welt scheiterte er, wurde verurteilt, litt und starb. Aber dieser sterbende Mann am Kreuz hat von dem Moment an alles Machtstreben und all jene herausgefordert, die ans Siegen glauben. Die Macht der Liebe ist größer als die Macht der Waffen und der Gewalt. Genau das glauben wir. Welch eine Botschaft! Wir glauben an Gott, der nicht allmächtig ist, sondern als Kind geboren wurde, unter der Folter starb und – ohne Gewalt und ohne Macht – eine Herausforderung für Gewalt und Macht darstellt. Für Christinnen und Christen ist das der Orientierungspunkt. Sie sind ebenso wie die Kirche immer in die Irre gegangen, wenn dies vergessen wurde und wenn Gewalt und zerstörerische Macht legitimiert wurden.

Ein schönes aktuelles Beispiel für kreativen Widerstand gegen Gewalt ist die so genannte Radiohexe, die ich vor kurzem kennen gelernt habe. Jeden Samstag sendet sie in Nicaragua ein Programm, in dem Gewalt von Männern gegen ihre Frauen berichtet wird. Mutig ist sie! Manche sagen, sie geht zu weit. Aber sie sagt: solange Polizei und Gerichte diese Gewalt nicht ahnden, werde ich senden. Die christliche Initiative Oscar Romera aus Münster unterstützt sie. Und Männer in Nicaragua, die ihre Frauen schlagen, misshandeln, vergewaltigen, fürchten sie. Auch eine Form kreativer Gewaltlosigkeit, finde ich.

5. Glückselig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden. (5,6)

Gerechtigkeit ist ein großes Wort, gewiss. Was aber bedeutet Gerechtigkeit? Was aber ist gerecht – was ist ungerecht? Wir sind wahrhaftig nicht die ersten Menschen in der Geschichte, die diese Frage bewegt. Weltweit ist Gerechtigkeit ein Thema, das uns schnell an den Rand der Verzweiflung bringen kann. Ein Fünftel der Weltbevölkerung verbraucht 80 Prozent des Welteinkommens. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind an Unterernährung. 46 Prozent der Weltbevölkerung müssen mit zwei Euro am Tag überleben, während eine deutsche Kuh von der EU mit zwei Euro am Tag subventioniert wird. Und gleichzeitig kämpfen Landwirte in unserem Land um ihre Existenz. Ein Teufelskreis von Ungerechtigkeit ist das. Wer nach Gerechtigkeit fragt, der fragt nach Grundlagen des Zusammenlebens von Menschen in kleineren oder größeren Gruppen, in ganzen Ländern, ja weltweit auf dem Globus.

Wenn in der Bibel im Alten und Neuen Testament über Gerechtigkeit geredet wird, so geschieht dies in einer uns zum Teil heute durchaus fremden Weise: es wird nämlich von der Gerechtigkeit Gottes geredet. Gerechtigkeit ist hier nicht zuerst die Verteilung von Gütern, die Menschen unter sich nach Maßgabe von Interessen oder Kriterien aushandeln, sondern Gerechtigkeit ist ein Verhalten, wie Gott es von den Menschen erwartet, sie ist eine Kategorie der Beziehung. Gerechtigkeit in der Bibel, vor allem im Alten Testament ist als Gemeinschaftstreue zu verstehen. Wer sich gerecht verhält, der verhält sich treu zur Gemeinschaft, in der er lebt und treu zu Gott, der diese Gemeinschaft trägt und sichert. Der Einzelne trägt etwas zu dieser Gemeinschaft bei und die Gemeinschaft verhält sich mit ihm solidarisch, wenn es nötig ist. Die Beziehung ist wechselseitig: Nie kann es gerecht sein, dass der Einzelne sich auf Kosten der Gemeinschaft bereichert, noch kann es gerecht sein, dass die Gemeinschaft den Einzelnen bevormundet oder knechtet. Es geht um Beziehungsgerechtigkeit. Deutlich wird auch, wie sehr Gerechtigkeit in der Bibel etwas Dynamisches ist, etwas, was nicht einfach vorhanden ist, sondern was gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung immer wieder durchgesetzt werden muss.

Das heißt konkret: Wir können unmöglich weiterhin auf Kosten der nächsten Generation Schulden machen – da geht es elementar um Generationengerechtigkeit. Wir brauchen Zukunftsperspektiven für die nachwachsende Generation. Alle sind aufeinander angewiesen, partizipieren an diesem Leib, keiner darf verloren gehen. Deshalb geht es auch um Partizipationsgerechtigkeit. Alle werden gebraucht, es sind viele Gaben, aber ein Geist, viele Glieder, aber ein Leib. Auch der Kleine Zeh hat seine Funktion, nicht nur das Hirn oder das Herz.

Der Glauben an Gott, so sagt die Bibel, und die Teilhabe an Gerechtigkeit stehen in einem Zusammenhang. Wer in der Wirklichkeit Gottes lebt, der will auch in der Wirklichkeit der Gerechtigkeit leben, in der Beziehung zu Gott und den Mitmenschen, in einem Dreiecksverhältnis sozusagen. Eins geht nicht ohne das andere.

So ist eine Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs angesagt. Wir haben in unserem Land Jahrzehnte vor allem über Verteilungsgerechtigkeit diskutiert. Verteilungsgerechtigkeit zielte in gewisser Hinsicht auf die Gleichheit aller und war in dieser Hinsicht als Leitwert wichtig. Was wir aber in unserer heutigen Situation entdecken, ist, dass wir alleine mit dieser Vorstellung von Gerechtigkeit nicht mehr zurecht kommen. Dies ist kein Wunder, denn in der gegenwärtigen Krise sind die Spielräume dessen, was verteilt werden kann, insgesamt erheblich zusammengeschrumpft. Es geht beispielsweise auch um Fragen der Befähigungsgerechtigkeit, d.h. der Investition in Humankapital in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Was hier investiert wird, ist ein wesentlicher Beitrag zur langfristigen Sicherung von Gerechtigkeit, weil es eine Investition in die nächste Generation bedeutet. Bisher ist in diesem Bereich (siehe die PISA-Studien) Erhebliches vernachlässigt worden. Zentrale Frage der Gerechtigkeit heute ist Bildungsgerechtigkeit. Heute sehen manche Eltern Bildung gar nicht mehr als Ziel und Kinder sehen sich selbst von vornherein als Bildungsverlierer. Die Kinder-Studie von World Vision 2007 hat auf erschütternde Weise gezeigt, dass Acht- bis Elfjährige in unserem Land nicht glauben, dass sie eine Chance haben, aus dem Teufelskreis von ökonomischer Armut und Bildungsarmut zu entkommen.

(Türkische Einwanderer setzen übrigens große Hoffnungen auf die Bildungsleistung ihrer Kinder setzen, ganz anders als populistische Pamphlete vermuten lassen. Eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Bamberg zeigt ganz aktuell, dass türkische Einwanderer für ihre Kinder hohe Bildungsziele haben [6]. Sie wünschen sich, dass ihre Kinder einen guten Schulabschluss machen, möglichst studieren. Allerdings haben sie keinerlei Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem, kennen die Regeln nicht, wissen nicht, dass und wie sie ihre Kinder fördern können. Sie fühlen sich fremd und das führt zu Enttäuschungen bei ihnen wie den Kindern, wenn die schulische Karriere ins Aus führt. Wie hier Ansätze der Integration, der Beratung, eines Zugehens auf das deutsche Schulsystem ermöglicht werden können, ist eine entscheidende Frage. Der Anknüpfungspunkt jedenfalls ist ganz offensichtlich vorhanden.

Martin Luther hat immer wieder darauf beharrt, dass die Bibel der Maßstab für das Gewissen und das Handeln von Menschen sei. Deshalb hat er die Bibel in die deutsche Volkssprache übersetzt, damit Menschen sich verständigen und ihr Gewissen selbst schärfen können. Das war eine ungeheure Integrationsleistung. Bis dahin konnten sich ein Sachse und ein Ostfriese kaum verständigen – mir ist klar, dass es da auch heute manches Mal noch Probleme gibt. Grundsätzlich aber integriert Sprache. Deshalb ist es richtig und wichtig, Sprachkompetenz zu fördern.

Der Nobelpreisträger Amartya Sen hat deswegen in seinem Buch „Ökonomie für den Menschen“ [7] die Erweiterung von Freiheit sowohl als Zweck an sich wie auch als oberstes Ziel für wirtschaftliche und soziale Entwicklung definiert. Es geht auch um Beteiligungsgerechtigkeit, die den Gerechtigkeitsbegriff aus nationalen oder europäischen Horizontverengungen befreit.

Was den christlichen Impuls zur Gerechtigkeit anbetrifft, fasse ich zusammen:

  • Gerechtigkeit ist im Sinne der Bibel etwas Dynamisches, eine Verhältnisbestimmung mit Blick auf Gott und Menschen, mit denen ich lebe.
  • Christliche Gerechtigkeit zeigt sich im Symbol vom Leib mit den vielen Gliedern. Die vollkommen verschiedenen Menschen sind als Verschiedene aufeinander angewiesen. Genau dieses Verhältnis von Verschiedenheit und Angewiesenheit muss in jeder Gesellschaft immer wieder neu bestimmt werden. So erneuert sich Gerechtigkeit beständig.
  • Und schließlich: Kriterium christlicher Gerechtigkeit ist und bleibt die Lage der Armen im eigenen Land, aber auch in der ganzen Welt. Wie es ihnen geht – daran misst sich, ob eine Gesellschaft gerecht ist oder eben nicht.

Aus dieser Perspektive fordert die Seligpreisung heraus, dem Globalisierungsgedanken eine neue Dimension zu geben. Nicht die Gewinnmaximierung von Unternehmen ist entscheidend, sondern die Frage, ob globales Handeln die Lage derer in der Welt verbessert, die wahrhaftig im Elend leben. Die Lebenssituation der Armen hat Auswirkungen auf den gesamten Gesellschaftskörper: ein Christ, eine Christin kann nicht wirklich glücklich und zufrieden sein, wenn um ihn, um sie herum Menschen im Elend versinken. Nachhaltigkeit zum zentralen Ziel politischer Wirtschaftskonzepte zu machen, den Mut zu haben, von einer Ethik der Grenze zu sprechen und energisch dafür einzutreten, dass das Ziel von Globalisierung eindeutig soziale Gerechtigkeit für alle ist, darum wird es gehen. Ja, Gerechtigkeit hat nach biblischem Verständnis zum Maßstab, wie es den Schwächsten im Lande geht, also bei uns den Arbeitslosen, den Alleinerziehenden, den Asylsuchenden, den Obdachlosen, den Menschen mit Behinderungen und weltweit denen, die Hungern, denen, die ohne Nahrung, Obdach, Bildung, Einkommen sind.

6. Glückselig sind, die barmherzig handeln, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren. (5,7)

Eine Kirchenvorsteherin sagte mir vor einiger Zeit: „Ich kann die Geschichte vom barmherzigen Samariter nicht mehr hören! Die ist so ausgelutscht! Gibt es nicht auch noch andere Geschichten zu diesem Thema in der Bibel?“ Und in der Tat, jener Samariter hat eine leicht ermüdende Anmutung. Der Begriff „Barmherzigkeit“ allemal. Was aber ist Barmherzigkeit in unserer Zeit. Ist das eine alte muffige Tugend, die durch „zivilgesellschaftliches Engagement“, „praxisrelevante Zuwendung“ oder „intensive care“ ersetzt werden kann?

Schlagen wir Johann August Eberhards Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache von 1910 auf, so heißt es: „Barmherzigkeit zeigt die Bereitwilligkeit, Leidenden zu helfen, in ihrer Quelle, in dem zu einem dauernden Zustande, zu einer festhaftenden Eigenschaft gewordenen Mitgefühl, Erbarmen die Wirkung dieses Gefühls in einzelnen Fällen an. Die Barmherzigkeit bewegt uns, mit einem Unglücklichen Erbarmen zu haben, und der Barmherzige kann keinen Leidenden sehen, ohne Erbarmen mit ihm zu haben. Barmherzigkeit verhält sich also zu Erbarmen, wie die Tugend zur Übung derselben.“

Barmherzigkeit ist demnach eine Eigenschaft, eine Haltung. Wertschätzung scheint mir bei der Frage nach der Barmherzigkeit ein Schlüsselbegriff. Sie ist noch mehr als eine Grundhaltung, sie begründet ganz unabhängig von der konfessionellen Bindung eine spezifische Tradition des Helfens bzw. der Zuwendung, die mit einem bestimmten Menschenbild und Sozialitätsverständnis und vor allem dem prägenden Gedanken der Menschenwürde einhergeht.

Einem solchen Leitbild folgend darf und will sich soziale Arbeit nicht mit einem Wertschöpfungsbegriff abfinden, der sich in den Zielen „satt und sauber“ erschöpft. Ich habe viele Altenheime besucht, Tageseinrichtungen für Demenzkranke, Wachkomastationen. Eindrücklich in Erinnerung ist mir etwa ein Besuch in Nienburg (KiTa-Besuch im Altenheim) und einer in Bremervörde-Zeven (Lieder mit Demenzkranken). Barmherzigkeit wird umgesetzt durch das pflegende Personal, dessen Haltung geprägt ist von einem hohen Ethos, von Respekt und Nächstenliebe, von ethischer Verantwortung, den Selbstwert der auf sie angewiesenen Menschen zu erhalten und zu stärken.

Das gilt gleichermaßen für die Gepflegten und Betreuten – wer ist schon gern auf Barmherzigkeit angewiesen? Wie kann die Würde gewahrt werden? Auch ihnen liegt ja daran, dass denen, die Barmherzig sind, Anerkennung zukommt, das ist Teil des Kreislaufes der Barmherzigkeit, von dem die Seligpreisung spricht. Manches Mal kommt es zur Ausbeutung oder auch Selbstausbeutung zugunsten hilfsbedürftiger Menschen. Das darf nicht unterschätzt werden. Gerade in sozialen Berufen greift das Burnout-Syndrom um sich. Auch da gilt es, Sorge zu tragen, für angemessene Bezahlung politisch einzutreten und öffentliche Anerkennung für diese Berufe zu reklamieren aber ebenso die ehrenamtlich Tätigen, die Menschen, die in Familien pflegen und betreuen in den Blick zu nehmen. Es ist auch ein Akt der Barmherzigkeit, Grenzen zu ziehen. Das Nächstenliebegebot ist ja ein Auftrag mit drei Schlüsselpunkten: Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe- Es wird darum gehen, auf einen politischen Willen zu drängen, die Arbeit der Barmherzigkeit auch in der Entlohnung besser wertzuschätzen. Es kann nicht angehen, dass die Tugend der Barmherzigkeit schamlos ausgenutzt wird. Kennzeichen sozialer Arbeit sind ein enormes Ethos, ein enormes Verantwortungsgefühl für die Anvertrauten – und eine tiefe Form der Wertschätzung gegenüber hilfsbedürftigen Menschen. Auch hier zeigt sich für mich ein christliches Menschenbild.

Um ein Ethos, wie das der Wertschätzung und eine Tugend wie die der Barmherzigkeit authentisch und beherzt zu leben, brauchen wir einen Bezugspunkt, ein „Wir-Gefühl“.

Ein Arbeitgeber im sozialdiakonischen Bereich etwa, der Wertschätzung und Würde nur auf seine Kunden, nicht aber auf seine Mitarbeitenden bezieht, wird als Dienstleister schnell unglaubwürdig. Wenn die Mitarbeitenden sich mit ihrer Einrichtung, ihrer Kirche nicht identifizieren, gibt es ganz schnell ein Glaubwürdigkeitsproblem! Es geht um eine geistige, für mich auch geistliche Grundhaltung. Ernst gemeinte Wertschätzung dagegen generiert Sinn, Vertrauen und Identifikation – Unternehmenswerte, die nach außen strahlen. Verantwortungsbewusstes Personalmanagement wird so zur Repräsentanz für die Kernleistungen eines Sozialunternehmens.

In früheren Zeiten wurden diese Zusammenhänge in frommer Sprache ausgedrückt. Auch sie gilt es, wieder wertschätzen zu lernen, um die geistliche Grundhaltung deutlich zu machen. Die Schriftstellerin Ida Hahn-Hahn etwa fasste diese Seligpreisung im 19. Jahrhunderte in diese Worte:

Selig, die Erbarmen üben,
Und die Hand, die liebend gibt:
Gott wird die barmherzig lieben,
Die im Nächsten Ihn geliebt.

7. Glückselig sind, deren Herzen rein sind, denn sie werden Gott schauen (5,8)

Das „Herz“ als relevanter Ort für Empfinden, wahrnehmen, entscheiden ist in der pseudo- rationalen Mediengesellschaft eher in Verruf geraten. „Herz-Schmerz“ sind abfällige Geschichten über Stars und Sternchen. Und der Begriff „Herzensbildung“, der doch den ganzen Menschen umfasste und nicht nur seine Pisaqualitäten, ist vollends aus der Mode geraten.

Im biblischen Kontext ist das Herz sowohl Ort der sinnlichen Wahrnehmung als auch Orientierungspunkt für den Verstand. Jesus Sirach schreibt: „Bleibe bei dem, was dein Herz dir rät, denn du wirst keinen treueren Ratgeber finden.“ Da geht es weniger um „Bauchgefühl“ als um eine Balance von Wahrnehmungen, die sich in Entscheidungsprozessen des Menschen wahrhaftig nicht nur im Verstand abspielen.

Kirchentage, ja Kirchen sind Orte, an denen Menschen sich fröhlich ein Herz fassen und für eine Sache eintreten, auch wenn sie ausweglos scheint in der Welt der Realpolitik. Sie sind sozusagen Biotope für Träumende, für Menschen, die noch Visionen haben. Die Bibel ist voll davon. Da wird von Gottes Zukunft gesprochen, in der alle Tränen abgetrocknet werden, und Leid, Not, Geschrei und gar Tod ein Ende haben. Diese Vision hat Menschen immer wieder inspiriert, gegen die Wirklichkeit anzudenken und anzuhandeln. Ich denke an Jesus selbst, der die Trauernden selig preist, an Helmuth James Graf von Moltke, der erhobenen Hauptes vor dem geifernden Volksrichter Freisler stand, an Martin Luther King, der gewaltfreien Widerstand für den einzig richtigen Weg hielt, an Nelson Mandela, der innerlich frei aus dem Gefängnis kam, an Stefan Krawczyk, der von Freiheit sang in einem unfreien Land. Und an all die Frauen, die aufbegehrt haben, ohne dass ihre Namen bekannt wurden: auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, wo sie nach ihren in der Militärdiktatur verschleppten Kindern riefen, im Süden Indiens, wo sie gegen das Verbrennen von Frauen um ihrer Mitgift willen demonstrierten, in Lagern in Kroatien, wo sie schwarzgekleidet die massenhafte Vergewaltigung als Kriegswaffe anklagten.

Überall gibt es Menschen, die es wagen, von einer anderen Welt zu träumen. „Eine andere Welt ist möglich“ lautet das Motto des Weltsozialforums. Die Mächtigen der Welt belächeln es. Die ach so pragmatischen Tageszeitungen finden nur Häme und Spott: Naiv. Weltverbesserer, Gutmenschen. Das sind offensichtlich Schimpfworte geworden. Traurig, wenn eine Gesellschaft nicht mehr über das Vorfindliche hinaus denken kann. Armselig geradezu. Denn die Träumer, die Hoffenden, die Visionäre haben die Welt immer eher vorangetrieben zu mehr Gerechtigkeit und Frieden als die Pragmatischen, die ach so Abgeklärten, diejenigen, die sich im Machtapparat arrangieren.

Der damalige Wehrbeauftragte Reinhold Robbe, hat mir im vergangenen Jahr gesagt, ich solle mich doch in ein Zelt setzen und mit den Taliban bei Kerzenlicht beten. Offen gestanden finde ich, das ist eine wesentlich bessere Idee als die Bombardierung von Tanklastwagen in Kunduz. Wir wissen doch, dass Frieden letzten Endes nur durch mühselige, oft schmerzhafte und riskante Versöhnungsprozesse wachsen kann, in denen die Opfer gehört werden und die Täter Schuld bekennen.

Gegenüber all den Realpolitikern, den Pragmatikerinnen, den Zynikern und den Erlahmten gibt der christliche Glaube Raum, reinen Herzens gegen die „Normativität des Faktischen“ anzudenken. Einer der stärksten Texte dazu sind die Seligpreisungen. Glücklich, selig, lebensfroh, gesegnet werden diejenigen genannt, die arm sind, Leid tragen, Frieden stiften, barmherzig sind. Genau darin liegt die Spannung: das ist ein tiefer Kontrast zur Wirklichkeit! In unserer Welt werden diejenigen als glücklich angesehen, die sich durchsetzen können, schlagfertig sind, viel Geld verdienen, gut aussehen. Jesus stellt die Erfahrung im Alltag der Welt auf den Kopf, indem er sie aus der Perspektive des Reiches Gottes in neuem Licht erscheinen lässt. Damit ermutigt er, anders zu sein, sich nicht anzupassen, widerständig zu bleiben, die Fragen der Gerechtigkeit und des Friedens auf der Tagesordnung zu halten. Und immer wieder dem Herz mehr zu folgen statt sich vermeintlichen Unabänderlichkeiten zu fügen. Damit das Herz rein bleibt – oder wird.

Noch einmal Ida Hahn-Hahn in frommer Sprache:

Selig sind die Herzensreinen,
Wandelnd auf der Unschuld Au’n
Die hienieden Ihm sich einen
Werden Gott einst droben schau’n

8. Glückselig sind, die Frieden schaffen, denn sie werden Gottes Töchter und Söhne heißen. (5,9)

„Wie wird Friede?“ fragte Dietrich Bonhoeffer in seiner berühmten Andacht 1934 in Fanoe: „Nur das eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss.“ Er hoffte, die Kirche würde ihren Söhnen die Waffen aus der Hand nehmen … Die Begeisterung der damaligen Zeit ist in unseren Breitengraden Gott sei Dank heute nicht mehr so gegeben. Die Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs führten 1948 zu dem klaren ökumenischen Bekenntnis von Amsterdam: „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein.“ Doch damit herrscht keineswegs Frieden.

Ich bin überzeugt, Religionen müssen sich gegen Pflichtdienste an der Waffe aussprechen. Sie sind mit dem Gewissen eines Menschen nicht vereinbar. Gewissensfreiheit ist ein Grundrecht in unserem Land. Und ein Grundrecht kann nicht erst auf Antrag gewährt werden, das ist bei der Religions- und Meinungsfreiheit ja auch nicht so. Jede muss mit ihrem und jeder muss mit seinem Gewissen vereinbaren, ob sie oder er sich an einem Waffeneinsatz und der Tötung anderer Menschen beteiligen kann. Das gilt auch in einer Freiwilligen-Bundeswehr. Vor wenigen Wochen wurde das Ende der Zentralstelle zur Beratung von Kriegsdienstverweigerern in Berlin gefeiert. Längst gab es keine Wehrgerechtigkeit mehr, wenn von 370 000 jungen Männern eines Jahrgangs nur 70 000 zum Grundwehrdienst und 90 000 zum Zivildienst herangezogen werden. Unsere Gesellschaft gibt ein deutliches Signal ihres Friedenswillens, wenn sie ihren Bürgern keine Pflicht zum Waffendienst mehr auferlegt, das steht uns in Deutschland gut an, finde ich. Aber es bleiben ja offene Fragen. Eine davon hat die Internationale ökumenische Friedenskonvokation in Jamaika letzten Monat so formuliert: „Wir ringen weiter um die Frage, wie unschuldige Menschen vor Ungerechtigkeit, Krieg und Gewalt geschützt werden können. In diesem Zusammenhang stellen wir uns tiefgreifende Fragen zum Konzept der „Schutzverantwortung“ und zu dessen möglichem Missbrauch.“ Wir sind nicht am Ende mit diesen Fragen. Und die Bergpredigt fordert uns neu heraus!

Was sind kreative Wege? Wenn wir die Lage in Libyen anschauen, habe ich zunächst gedacht, eine Flugverbotszone könnte ein kreatives, gewaltfreies Mittel sein, zum Frieden beizutragen, Zivilbevölkerung zu schützen. Um reine Luftraumüberwachung ging es, das schien mir einleuchtend. Die UN-Resolution aber hat dann erklärt, „alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung“ außer „Besatzungstruppen“ seien zu ergreifen. Und sofort begann das Bombardement am Boden, der gezielte Versuch auch, Gaddafi, mit dem man eben noch munter Geschäfte gemacht hatte, zu töten. Friede wird so nicht, das sehen wir …

Die Seligpreisungen ermutigen, kreative Wege zum Frieden zu finden. Damit es nicht nötig ist, sich lapidar für die Tötung von 14 Frauen und Kindern zu entschuldigen wie es die Nato in dieser Woche tat [8] Denn wie bizarr ist das denn, zu sagen: Entschuldigen sie bitte, „unglücklicherweise stellte sich das von den Aufständischen absichtlich besetze Anwesen später als das Haus unschuldiger Zivilisten heraus.“ [9] Entschuldigung, aber das ist inakzeptabel!

9. Glückselig sind die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihnen gehört die gerechte Welt Gottes. (5,10)

Was für ein Widerspruch zur Realität der Welt. Wir kennen ja gar nicht mit Namen all diejenigen, die verfolgt werden, weil sie es wagen, aufzubegehren. Der chinesische Künstler Ai Wei-Wei, er ist derzeit eine Symbolfigur dafür!

Aber die Verfolgten sind auch die Flüchtlinge dieser Welt. Die auf Booten im Mittelmeer ihre Reise antreten. Oder lassen Sie mich die Geschichte des 15-jährigen Ali und seines Vaters Farid erzählen: Sein Vater Ferid musste vor 10 Jahren aus dem Iran fliehen, weil er einen Korruptionsskandal aufgedeckt hatte. Nachdem er im Gefängnis bereits gefoltert worden war, drohte eine erneute Verhaftung. Er floh mit seinem Bruder nach Deutschland, wenig später kamen seine Frau und sein Sohn Ali nach. Allerdings reisten sie über Griechenland ein. Also wurden Ali und seine Mutter nach Griechenland abgeschoben, er erinnert sich gut daran. Fünf Jahre lebten sie dort, Ali lernte fließend griechisch sprechen. Um seinen Sohn besuchen zu können erhielt Ferid einen Fremdenpass. Dadurch hatte er die Möglichkeit, einen Taxischein zu erwerben und zu arbeiten. Da es Frau und Sohn schlecht ging in Griechenland, setzten sie alles in Bewegung, zumindest Ali nach Deutschland zu holen. Das gelang, aber so ging der Fremdenpass und die Arbeitserlaubnis verloren. Ali ist nun 15, geht auf ein Berliner Gymnasium, spricht fließend deutsch, möchte Abitur machen. Aber der Vater ist im Asylfolgeverfahren von Abschiebung in den Iran bedroht, mit ihm sein Sohn. Die Duldung wird mal für zwei Wochen, mal für drei Monate ausgestellt. Und seine Frau sitzt in Griechenland fest.

Ein Schicksal von vielen, gewiss. Aber ich habe die beiden kennen gelernt. Gesehen, wie sie beim Skypen weinen in Berlin und in Athen. Was soll das? Welche Logik steckt dahinter, wenn gleichzeitig nun im Ausland Fachkräfte angeworben werden sollen? Diese Asylpolitik kann ich nicht begreifen.

Selig sind sie. Nein, sie sind jetzt nicht glücklich und nicht selig im herkömmlichen Sinne. Aber sie strahlen in ihrem Leid eine ganz eigene Würde aus. Unglücklich und unselig habe ich mich gefühlt, weil es scheinbar keine Möglichkeit gibt, zu gerechten Lösungen zu finden in der Welt der Asylgesetze und Schenkenabkommen.

10. Glückselig seid ihr, wenn sie euch um meinetwillen ausgrenzen, verfolgen und verleumderisch alles Böse nachsagen (5,11)

Dass Menschen verfolgt werden, weil sie sich zum christlichen Glauben bekennen, erscheint uns in Westeuropa kaum vorstellbar. Da gibt es eher Gleichgültigkeit dem christlichen Glauben gegenüber. Aber Christinnen und Christen sind weltweit die am stärksten bedrohte Religionsgruppe! Immer wieder riskieren Menschen ihr Leben, weil sie die Nachfolge des Jesus von Nazareth antreten wollen. Sie brauchen unsere Solidarität und Unterstützung.

Ich bin dankbar, in einem Land zu leben, das Religionsfreiheit kennt. Und ich werde dafür eintreten, dass Menschen anderen Glaubens ihren Glauben frei praktizieren können in Synagogen und Moscheen und Tempeln in unserem Land. Gleichzeitig werde ich dafür eintreten, dass Christen dies können in der Türkei, in Indonesien, in Indien und in Pakistan.

Mir scheint, der Dialog der Religionen liegt erst noch vor uns. Noch einmal das Abschlussdokument der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation in Jamaika: „Gemeinsam mit Partnern anderer Religionen haben wir erkannt, dass Friede ein Grundwert aller Religionen ist und dass die Verheißung von Frieden allen Menschen gilt, egal, welcher Tradition sie angehören und worauf sie ihr Leben gründen. Durch eine Intensivierung interreligiöser Dialoge versuchen wir, in diesen Fragen Gemeinsamkeiten mit allen Weltreligionen zu finden.“

Das werden schwierige Wege sein. Aber wir haben auch ermutigende Zeichen gesehen, etwa als in Ägypten Muslime und Christen gemeinsam gegen das alte Regime der Unterdrückung aufstanden. Obwohl: Mittlerweile brennen wieder koptische Kirchen …

Ich denke, wir müssen deutlich machen: Menschen muslimischen Glaubens gehören zu Deutschland und damit eben auch der Islam. Was sind denn das für merkwürdige Differenzierungen, die versuchen, Menschen mit ihrem Glauben und den Glauben selbst auseinanderzudividieren! Ebenso gilt selbstverständlich: Menschen christlichen Glaubens leben in der Türkei und damit gehört das Christentum zur Türkei. Immerhin: Paulus war nach heutigen Kriterien ein türkischer Zeltmacher!

Und: was sind das für hämische, menschenverachtende Pamphlete, die sich profilieren auf Kosten anderer. Wie fühlt sich ein türkischer Taxifahrer in Berlin dessen eine Tochter Medizin studiert und die andere Lehramt, wenn ihm erklärt wird, er sei „Kopftuchmädchenproduzent“? Ich schäme mich dafür, das solche Tiraden (wieder?) Applaus finden in Deutschland. Unselig ist das! Denn als erstes gilt es schlicht, die Menschenrechte ernstzunehmen und umzusetzen. Ich stimme Sarrazin vollkommen zu, wohlgemerkt dem Bundestagsabgeordneten Manuel Sarrazin, der schreibt: „Wir brauchen eine menschenrechtlich fundierte humanitäre EU-Migrationspolitik, die auf humane Standards setzt, die Menschenrechte auch an den europäischen Außengrenzen, ob auf See oder an Land, wahrt, die Möglichkeiten der legalen Migration besser und neu eröffnet und die Möglichkeiten für Integration hier im Land stärkt.“ [10] Das wird die Frage sein: Wie gestalten wir Zuwanderung? Wie setzten wir das Recht auf Asyl für Menschen um, die politisch verfolgt werden?

11. Freut euch und jubelt, dass eure Belohnung groß ist bei Gott. Denn genauso verfolgten sie die Prophetinnen und Propheten vor euch. (5,12)

Bei allen Problemen, Herausforderungen, Ängsten: wir dürfen uns auch freuen. Auch wenn wir arm sind, leiden, unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden nicht erfüllt wird: es gibt Grund zum Feiern! Diese Welt ist kein hoffnungsloser Ort! Wir können jetzt und hier glücklich sein, weil wir etwas ahnen von Gottes zukünftiger Welt. Nein, Christen müssen keine Trauerklöße sein, selbst Protestanten nicht! Lebenslust ist nicht ausgeklammert, nur weil wir hinschauen auf die Probleme der Welt. Das Evangelium ist geradezu eine Anleitung zum Glücklichsein, weil wir einen zweiten Blick auf die Wirklichkeit haben. „Mit dem zweiten sieht man besser“ bekommt da eine ganz neue Bedeutung.

Wie also werde ich glücklich? Indem ich mein Leben und auch mein Glück als ein Geschenk Gottes verstehe. Mich beheimate in der Gemeinschaft der Kinder Gottes, die für Gerechtigkeit und Frieden eintreten. Hinschaue, wo Menschen verfolgt werden, trauern, Trost suchen. Dem folge, was mein Herz mir rät.

Glückseligkeit ist Herzenssache. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Fußnoten

  1. Peter Fiedler, Matthäusevangelium, Stuttgart 2006, S. 106.
  2. Vgl. Christine Gerber, Die gerechte Welt Gottes, in: Junge Kirche. 72. Jg. Extra zum DEKT 2011, S. 15ff.; S. 16.
  3. Ebd.
  4. AaO., S. 18.
  5. Tina Voß, Arm dran, in: Selig sind …, hg. v. Silvia Muster/Christof Vetter, Hannover 2009, S. 15ff.; S. 20.
  6. Vgl. Tanjev Schultz, Starker Ehrgeiz, schwache Leistung, in: SZ 29.9.10.
  7. Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München 2000.
  8. Vgl. SZ Nr. 125, 31.5.11, S. 7.
  9. Ebd.
  10. http://www.manuelsarrazin.de/europa/11-08-2009/europaeischer-migrationspakt http://www.manuelsarrazin.de/europa/09-09-2009/europaeische-migrationspolitik-0