Predigt zum Hohen Friedensfest Augsburg

Ökumenischer Festgottesdienst

Prälat Dr. Stephan Reimers

Liebe Gemeinde,

wie ist der Unfriede in die Welt gekommen? Welche Dynamik treibt Menschen zu Gewalt und Krieg? Eine wichtige Antwort darauf gibt eine der Anfangsgeschichten der Bibel: Die Erzählung von Kain und Abel. Ich lese den Predigttext aus dem 1. Buch Mose, Kapitel 4:

Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn. Danach gebar sie Abel,
seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde Ackermann.

Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?

Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, sie giert nach dir; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.

Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.

Diese Erzählung von den ungleichen Brüdern ist aufschlussreich für die Frage wie der Krieg in die Welt kam. Elie Wiesel, der Friedensnobelpreisträger, der als junger Jude Auschwitz überlebte, schreibt in seinem Buch „Adam, oder das Geheimnis des Anfangs“ über Kain und Abel:

„Wir verstehen die beiden nicht, spüren aber dunkel, dass ihr Schicksal uns angeht. Was sie erleben ist der erste Völkermord und mehr als das Modell für Krieg. Ihr Verhalten ist uns nicht fremd. Alles, was sie dazu treibt, nimmt unser eigenes Verhalten in sogenannten Extremsituationen vorweg. Im Grenzbereich konfrontieren sie uns mit einem doppelgesichtigen Wesen, das wir nicht anschauen können, ohne vor Angst zu zittern. Und Angst, das ist der Name für diese Geschichte. Eine grund- und ausweglose Angst, die keine Überwindung und keine Erlösung kennt.“

Ja, Angst ist der Schlüssel für diese Geschichte.

Ich verstehe das Gespräch, das Gott unmittelbar vor der Tat mit Kain führt, als einen Versuch, diese Angst aufzuspüren, um die kommende Katastrophe zu verhindern.

„Warum senkst du deinen Blick, Kain? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, sie giert nach dir, du aber werde Herr über sie.“

Dem Sinn dieser Anrede Gottes an Kain kommen wir ein Stück näher, wenn wir das hebräische Wort, das Luther mit „fromm“ übersetzt, in seiner ganzen Bedeutungsbreite ansehen. Das hebräische Wort „tam“ heißt von seinem ursprünglichen Wortsinn her soviel wie: ganz, vollendet, vollständig, unversehrt. Gottes Rede an Kain ließe sich vielleicht so ausdrücken:

„Wärest du ganz, Kain, und würdest in dir ruhen, dann könntest du dich mitfreuen, dass das Opfer deines Bruders mir behagt. Vielleicht würdest du mich offen fragen, was mir an deinem nicht so gut gefällt. Aber du würdest dich nicht in dich hinein verkrampfen und mit finsterem Blick herumlaufen. Kain, du bist noch nicht „tam“ - vollendet - dir fehlt noch etwas, weil du immer noch Angst hast, zu kurz zu kommen.“

Die Angst, zu kurz zu kommen, den Reichtum des eigenen Lebens nicht zu sehen, ist das nicht eine Gefahr des Menschen, die ihn immer umgibt?

Wir brauchen nur an uns selbst zu denken. In welch einem reichen Land dürfen wir leben, welche sozialen Sicherheiten erfahren die meisten von uns, welchen kulturellen Reichtum genießen wir?

Und dennoch, trotz dieser unwahrscheinlichen Lebensmöglichkeiten kann all dies in unserem Bewusstsein zusammenschrumpfen und vergessen werden. Missmut und Leere und das Gefühl: „es fehlt noch etwas“ oder „es ist doch alles zu mühselig“ können den Einzelnen so rasch überfluten, dass wir die Frage: „Warum ergrimmst du und warum senkst du deinen Blick?“ oft genug an uns selbst zu richten hätten.

In dieser Eigenart gleicht der moderne Mensch dem ersten Menschenpaar aufs Haar. Denn über Adam und Eva heißt es, dass sie alles hatten, den wunderschönen Garten Eden und Unsterblichkeit, aber es war ihnen nicht genug.

In Zeiten wirklichen Mangels kann diese Angst alles überfluten. Struggle for life, der Kampf ums Überleben, die Angst zu kurz zu kommen.

Die großen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts gründen in diesem Motiv: Deutschlands Griff nach der Weltmacht in der Kaiserzeit und die Wahrneh-mungsverengung vieler Deutscher, ein „Volk ohne Raum“ zu sein, pflasterten Hitlers Weg zur Macht und zum Vernichtungskrieg im Osten.

Auch der Beginn des 21. Jahrhunderts steht unter den Vorzeichen von Krieg und Gewalt. Und die Attentate vom September 2001 in den USA spiegeln das genannte Motiv wieder - Kains Angst. Das Unterlegenheitsgefühl vieler Menschen in der islamischen Welt gegenüber westlicher Technologie und Dominanz arbeitet den Islamisten in die Hände. Ein besonderer Schmerzpunkt ist der israelisch-palästinensische Konflikt: Israel, dieser westlich effektive Staat, eingepflanzt in das Zentrum der arabischen Welt.

Wie kann in dieser Verfeindung Frieden möglich werden? Dass das Recht ströme wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. Dieses Wort aus dem Amosbuch steht im Mittelpunkt unseres heutigen Gottesdienstes. Es hat mich an das Jahr 1992 erinnert. Damals wurde Jitzchak Rabin neuer Ministerpräsident in Israel. In seiner Regierungserklärung reichte er den Palästinensern demonstrativ die Hand und sprach von dem Freilegen einer Quelle: 

"Ein gemeinsames, hartnäckiges und ewiges Bemühen von tausend Armen. Wird es gelingen, den Stein von der Öffnung der Quelle fortzurollen?“, fragte die Dichterin Rahel. Die Antwort liegt in uns selbst, sind wir selbst.“

Heute wissen wir, dass die Quelle der Freundschaft und Offenheit füreinander damals nicht geöffnet werden konnte. Schon drei Jahre später löschten tödliche Schüsse das Leben Rabins und die Friedenshoffnungen von Oslo aus. Dennoch finden sich immer wieder Menschen, die nicht aufgeben und die versiegte Quelle zum Fließen bringen wollen.

Sehr bewegt hat mich im vergangenen Jahr das Bild eines palästinensischen Vaters, der ein 12jähriges israelisches Mädchen umarmt. Sie lebt mit dem Herzen seines Sohnes, der von israelischen Soldaten irrtümlich erschossen wurde, weil der Schütze die Plastikwaffe des 13jährigen als echt ansah. Die Eltern gaben Herz und andere Organe für Kinder des Feindes frei in der Hoffnung, versteinerte Herzen zu erweichen. „Wir möchten damit ein Zeichen der Versöhnung setzen“, sagen Ahmeds Eltern. „Die Welt soll sehen, dass wir Palästinenser in Frieden leben wollen.“

In diesem Frühjahr sind die Bischofskonferenz der Katholischen und der Rat der Evangelischen Kirche ins Heilige Land gereist. Die Christen dort zu besuchen und alle zu ermutigen, die nach Frieden streben, war das gemeinsame Ziel beider Reisegruppen. Im Blick auf die Friedensaussichten sind die Delegationen eher skeptisch zurückgekehrt. Und dennoch, zur Hoffnung ist der Mensch immer wieder bereit. So wie in der letzten Woche, als erstmalig der ägyptische und jordanische Außenminister im Auftrag der Arabischen Liga gemeinsam Jerusalem besuchten. Vielleicht bringt die Sorge vor einem radikalen Islam ja das voran, was vor 10 Jahren noch nicht zu bewegen war. Israel und die gemäßigten Araber haben wirklich gemeinsame Interessen. Aber um aus diesen Interessen einen Friedensprozess werden zu lassen, muss noch viel geschehen.

Den Israelis muss die Angst vor Terror genommen werden und den Palästinensern die Wut, im eigenen Land zu kurz zu kommen. Als Beispiel für Benachteiligung nenne ich die Aufteilung des knappen Wassers und die Bevorzugung der israelischen Siedler durch niedrige Wasserpreise. „Das Recht ströme wie Wasser“ - diese Losung unseres Gottesdienstes ist für den israelisch-palästinensischen Konflikt ganz wörtlich zu nehmen.

Dass ein Strom neuer Waffen den Weg zum Frieden erleichtern wird, ist unwahrscheinlich. Bei Waffen weiß man nie, gegen wen sie schließlich gerichtet werden. Die Katholische und die Evangelische Kirche werden nicht müde, in ihrem jährlichen Rüstungsexportbericht an die europäischen Richtlinien zu erinnern, die Waffenlieferungen in Spannungsgebiete verieten.

Vom gerechten Frieden her denken - das ist eine Leitperspektive der neuen Friedensdenkschrift unserer Kirche, die voraussichtlich in diesem Herbst auf der EKD-Synode diskutiert wird. Auch wenn Christen in Fragen des Friedens oft genug versagt haben und schuldig wurden, bleibt Friede unser Ausgangspunkt und unser Ziel. Mit der Geburt Jesu wird Frieden auf Erden verkündet. Und im Zentrum seiner Botschaft steht der revolutionäre Satz: „Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger“. Was für eine Zumutung enthält dieser Satz. Wir brauchen nur an konkrete Feinde zu denken. Und dennoch spüren wir, dass Frieden nur entstehen kann, wenn wir den jeweiligen Konflikt auch mit den Augen unserer Feinde sehen lernen und um Versöhnung beten. Den Feind mit dem Geist der Liebe zu sehen. Das ist genau das Gegenteil von Kains Angst, zu kurz zu kommen. Es ist vielmehr das, was uns der heute gelesene Evangeliumstext verheißt: Jesus gibt uns Wasser zu trinken, das unseren Durst wirklich stillt, weil er uns durch seine Gnade den Frieden schenkt und unser Durst nach Anerkennung erlöschen kann.

Wer an die Gnade und Güte des Auferstandenen glaubt, wird zu einem Leben befreit, in dem er Gottes Frage: Wo ist dein Bruder? wo ist deine Schwester? nicht zu fürchten braucht.

Amen