Fastenpredigt zum Aschermittwoch in der Bayerischen Landesvertretung
Prälat Dr. Stephan Reimers
Sehr geehrte Frau Staatsministerin Müller,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
vor einem Jahr begann mein Freund und Kollege Prälat Dr. Karl Jüsten seine Fastenpredigt mit den Worten: "Heute Abend gehen Sie, Herr Dr. Rothenpieler, als Hausherr ein hohes Risiko ein, indem Sie einen Rheinländer zur Fastenpredigt eingeladen haben - der das auch aus Überzeugung ist. Da gilt es einige Hürden zu nehmen..."
Liebe Frau Müller, ich fürchte, indem Sie heute einem Protestanten das Wort erteilen, nehmen Sie ein ungleich höheres Risiko auf sich. Was hat unser lieber verstorbener Bundespräsident Johannes Rau einmal über uns gesagt? "Wenn Protestanten Licht am Ende des Tunnels sehen, dann bauen sie ganz schnell ein Stück Tunnel an." Außerdem muss ich bekennen, ein Nordlicht aus Hamburg zu sein. Die gelten bekanntlich als sehr nüchtern, wenig ausschweifend und mit festen Regeln ausgestattet. Conrad Ahlers, der ehemalige Chefredakteur des Spiegels, erzählte gern, was ihm sein Onkel eingeschärft hatte: "Jung, wen du in Hamburg vor neun auf der Straße siehst, der ist nix und der wird auch nix."
Über Hamburgs Frauen habe ich vor kurzem ein herrliches Zitat Fontanes entdeckt. Er schreibt über die Hamburgerinnen:
,Sie seien >alle so zweifelsohne, haben innerlich alle so was ungewöhnlich Gewaschenes und bezeugen in allem, was sie tun und nicht tun, die Richtigkeit der Lehre vom Einfluss der guten Kinderstube. Man hat sich ihrer nie zu schämen und ihrem zwar bestrittenen, aber im Stillen immer gehegten Herzenswunsche, für eine Engländerin gehalten zu werden, diesem Ideal kommen sie meistens sehr nah.<
In einem so aufgeräumt gewaschenen und sachlichen Klima die von Politikern so geliebten 50 % + x der Wählerstimmen zu holen fällt allen Parteien schwer. Das musste auch Franz Josef Strauß, der König der Aschermittwoch-Redner, bei der Bundestagswahl im Jahr 1980 leidvoll erfahren. Doch auch der Karneval hat es in Hamburg schwer, dieser Stadt, in der Katholiken Seltenheitswert besitzen. In meiner Jugend fand einmal ein Festzug über die Reeperbahn statt. Neugierig ging ich mit meinen Geschwistern dahin. Sehr lustig war das nicht.
Vom Sinn des Wortes Karneval her könnte es in Hamburg anders sein. Eine Deutung versteht Karneval als Kurzform von ‚Carne vale', das heißt: "Fleisch, lebe wohl". Dieser Abschied fällt Menschen sehr schwer. Daher braucht man auch fast vier Monate, um ,lebe wohl' zu sagen. Wahrscheinlicher ist aber wohl die These, den Ursprung des Wortes Karneval in den lateinischen Worten: ,carre navale' zu suchen. Das bedeutet: Schiffswagen - Boote wurden auf Räder gesetzt und als festliche Umzugswagen geschmückt - vermutlich schon Festbräuche aus römischer Zeit.
Boote gab es ja in Hamburg immer genug. Daran hätte es nicht gemangelt, aber Katholiken hatten wir zu wenige. Dem Hamburger Reformator Bugenhagen hat ihre abnehmende Zahl damals natürlich sehr gefallen. Aber heute sehen wir das ganz anders: Wir hätten gern viel mehr Katholiken in Hamburg! Und das bestimmt nicht nur wegen des Karnevals. Es ist ja auch nicht so, das Katholiken durch ihre Gene eine natürliche Begabung für das närrische Treiben hätten, sondern der Schwung und die unbändige Lebensfreude der Jecken speist sich aus dem Wissen, dass am Aschermittwoch alles vorbei ist und das vierzigtägige Fasten beginnt, dessen Ende und Hoffnung das Osterfest ist. Diese Dynamik haben die Reformatoren außer Kraft gesetzt. Luther hat das Fasten nicht grundsätzlich abgelehnt, wohl aber das Kirchengebot. Jede Gesetzlichkeit und Verdienstlichkeit des Fastens wurde infrage gestellt. In der Apologie zu Art. 15 der Confessio Augustana heißt es: ,Gott will, dass wir allzeit nüchtern und mäßig leben, und wie die Erfahrung gibt, so helfen dazu nicht viele Fasttage.'
Am Anfang der Fastenzeit wurde traditionell als Evangeliumstext des Gottesdienstes die Versuchung Jesu in der Wüste ausgelegt, als ein Beispiel für sein vorbildliches Fasten von vierzig Tagen. Ganz anders deutet Martin Luther den Text. Für ihn ist entscheidend, dass der Geist Jesus in die Wüste führte. Wörtlich sagte er:
"Das ist auch die Ursache, warum der Evangelist mit großem Fleiß zuvor setzt und spricht, er sei durch den Geist in die Wüste getrieben, ... auf daß niemand dem Exempel nachfolge aus eigener Wahl und mache ein eigennütziges, eigenwilliges und angenommenes Fasten daraus, sondern warte des Geistes, der wird ihm Fastens und Versuchens genug schicken... Es heißt: "Jesus wurde vom Geist in die Wüste geführt", und nicht: "Jesus suchte sich selbst die Wüste aus"...
Wie stand Jesus selbst zum Fastengebot? In den Evangelien finden wir verschiedene Aussagen dazu:
Eines Tages beschweren sich die Jünger des Johannes bei ihm: "Warum fasten wir und die Pharisäer, deine Jünger, aber fasten nicht?"
Und Jesu sprach zu ihnen: "Können etwa die Hochzeitsleute trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Doch es werden Tage kommen, wo der Bräutigam von ihnen genommen sein wird, und dann werden sie fasten." (Mt. 9,14-16).
Ein andermal greifen Pharisäer Jesus mit dem Vorwurf an, dass seine Jünger am Sabbat Ähren ausraufen. Jesus verteidigt die Seinen mit dem Wort: "Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die, die bei ihm waren? Wie er ging in das Haus Gottes... und aß die Schaubrote, die niemand essen darf, als die Priester...
Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbat willen (Mk.2, 23-27).
Meine Damen und Herren,
in beiden Fällen erklärt Jesus weder Fastengebot noch Sabbatheiligung für erledigt, sondern er begründet Ausnahmen. Er legt die Gebote situativ aus. So wie ja auch das heutige fröhliche Fischessen sich der Auslegung einst sehr viel strengerer Regeln verdankt. Zu den Zeiten des Heiligen Benedikt gab es weder Fleisch noch Fisch. Und die Erlaubnis für das Bier kam auch sehr viel später.
Jesus hebt die Gebote nicht auf, er legt sie menschenfreundlich aus. Einmal sagt er: "Meinet nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen." (Mt. 5,17).
Dieses Jesuswort ist ein bleibender Wegweiser für Christen. Er lenkt unseren Blick vor allem auf die zehn Gebote von Sinai. Vor einiger Zeit traf ich einen Schulkameraden wieder, der mir nicht als besonders kirchlich aufgefallen war. Er meinte: "Je älter ich werde, um so mehr begreife ich, dass das Leben nur gelingen kann, wenn man die zehn Gebote als Richtschnur ernst nimmt." Ich glaube, dass dieses Urteil unser aller Lebenserfahrung entspricht. Wenn Menschen die Gebote als Orientierungspunkt aufgeben, dann entstehen Lügen und Abgründe. Im Altdeutschen heißt Trennung und Abgrund Sund. In Dänemark werden bis heute trennende Meeresarme so genannt. Sund ist zugleich das altdeutsche Wort für Sünde. Und es meint, dass Beziehungen auseinander brechen, weil sie nicht mehr von Verlässlichkeit, sondern von Misstrauen geprägt sind.
In einer Gesellschaft, in der Korruption zunimmt, ist es wichtig, dass viele Menschen durch ihr Verhalten Vorbild sind. Und das fängt bei kleinen Dingen an. Denn, wenn das Motto: "Der Ehrliche ist der Dumme" zum Leitwort wird, sind wir am Ende alle die Dummen. Dann entsteht eine kalte und mafiöse Gesellschaft, in der das Leben keinen Spaß mehr macht, weil Vertrauen ein Fremdwort geworden ist.
Wie heißt es in Martin Luthers Kleinem Katechismus:
"Du sollst nicht stehlen
Was ist das?
Wir sollen Gott fürchten und lieben,
dass wir unseres Nächsten Geld oder Gut
nicht nehmen, noch mit falscher Ware
oder Handel an uns bringen, sondern
ihm sein Gut und Nahrung
helfen, bessern und behüten."
Wir alle wissen, wo Gefahren in der eigenen Seele lauern und wir den Beistand der Gebote nötig haben. Daher brauche ich an dieser Stelle meiner Fastenpredigt nicht konkreter zu werden. Auch über das Thema Weißwürste will ich mich in diesem Hause nicht verbreiten, denn ich habe gehört, wie viel Kummer und Not aus diesem Fall entstanden sind.
Die Gebote zu erinnern und an jüngere Menschen weiterzugeben, das ist unser aller Aufgabe. Wer nicht beeinflusst, dankt ab.
Die Gebote sind eindeutig und jedem Menschen verständlich. Charles de Gaulle hat einmal gesagt, sie seien deshalb so kurz und klar, weil sie ohne Mitwirkung einer Sachverständigenkonferenz entstanden sind. Natürlich führen sie uns auch in Spannungen und Widersprüche hinein, in den Widerspruch zwischen verschiedenen Werten. Wie stehen wir zur Wahrheit am Bett eines todkranken Menschen?
Auch zum Thema ‚Notlügen' gibt es unterschiedliche Meinungen. Ob sie folgenden Fall unter diese Überschrift rücken würden, überlasse ich Ihrem Urteil:
‚Ein alter Mann spricht staunend einen Altersgenossen an: "Wie hast du es nur geschafft, diese wunderschöne, junge Frau rumzukriegen, dass sie dich heiratet? Du bist reich, aber trotzdem, du mit deinen 80 Jahren." "Nu", entgegnet der andere: "Ich hab ihr gesagt, ich sei 90."
Auch mit dem 3. Gebot: ;Du sollst den Feiertag heiligen' gibt es gewisse Schwierigkeiten. In ökumenischer Eintracht verteidigen die Kirchen den Sonntag ‚als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung' - so das Grundgesetz. Es muss Zeit sein auch für das, was sich ökonomisch nicht rechnet. Menschen brauchen diesen Tag - die heilsame Kultur der Unterbrechung. Ohne Sonntag gäbe es nur noch Werktage.
Diese Auffassung wird von vielen Christen geteilt. Ob allerdings sich mit dem Sonntag zwangsläufig ein Gottesdienstbesuch verbinden sollte, da gehen unter evangelischen Christen die Meinungen auseinander - hier in Berlin besonders: Die Teilnahme an evangelischen Gottesdiensten lag 1870 durchschnittlich bei 1,88 % der Kirchenmitglieder. Inzwischen - das Zähljahr ist 1998 - haben wir uns gesteigert - auf über 2 %.
Der Durchschnitt sagt natürlich nicht alles. Immer gab es auch gut besuchte Kirchen. Friedrich Schleiermacher hat den starken Zulauf zur Dreifaltigkeitskirche hier in Berlin-Mitte bescheiden so gedeutet: "In meine Kirche kommen hauptsächlich Studenten, Frauen und Offiziere. Die Studenten wollen meine Predigt hören, die Frauen wollen die Studenten sehen. Und die Offiziere kommen der Frauen wegen."
Warum sind wir heute zu einem Fischessen eingeladen? Die Fastenregeln machen offensichtlich einen großen Unterschied zwischen den Tieren des Himmels und der Erde und den Tieren des Wasserreiches. Das hat findige Mönche dazu gebracht, Enten zu den Wassertieren zu zählen, und auch den Biber, weil er einen geschuppten Schwanz habe.
Warum verträgt sich Fisch mit dem Fasten besser als Fleisch? Zwei Spuren will ich Ihnen zum Abschluss nennen: In Lukas 24 wird erzählt, dass der Auferstandene seinen Jüngern überraschend in Jerusalem erscheint. Er zeigt ihnen seine Wundmale und sagt dann: "Habt ihr etwas zu essen?" Und sie legten ihm ein Stück gebratenen Fisch vor. Und er nahm es und aß es vor ihnen.
Das Bild des Fisches ist schon für die frühe christliche Gemeinde ein wichtiges theologisches Symbol. Fisch heißt auf griechisch ‚ichthys'. Und seine fünf Buchstaben Jot, Chi, Theta, Ypsilon und Sigma lasen die Christen als Anfangsbuchstaben der Worte: Iesos Christos Theos Yios Soter = Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter- die kürzeste Zusammenfassung ihres Glaubens, das erste Glaubensbekenntnis. In der Verfolgungszeit ritzten sie das Fischzeichen in die Wände der Katakomben und noch heute ist das Fischsymbol als Autoaufkleber bei engagierten Christen sehr populär.
Soter, der Retter. Dieses Wort im Zusammenhang mit den Geboten erinnert daran, dass wir uns weder selbst retten müssen, noch können. Die Gebote sind keine Leiter, die zum Himmel führt - selbst wenn wir alle erfüllen könnten. Die Gebote sind eine Hilfe für unser Leben, für das Gelingen unserer Gemeinschaft. Gerettet sind wir, weil wir glauben und auf Gottes Hilfe und seine Gnade vertrauen. Auch daran will uns das heutige Fischessen auf seine Weise erinnern.
Ich schließe mit einem Wort von Martin Luther, das zeigt, dass auch wir Protestanten Tunnel meistern können:
"Hat unser Gott guten Rheinwein und frische Hechte geschaffen,
so darf ich sie wohl auch trinken und essen.