Predigt in der Marktkirche Hannover
Margot Käßmann
Liebe Gemeinde,
um das Fasten geht es heute. Oje, werden die ersten denken, das ist so recht protestantisch. Morgen ist Rosenmontag, dann kommt Faschingsdienstag und die Evangelischen reden vorher schon vom Fasten! Doch zum einen wird der Sonntag heute traditionell als „letzter Sonntag vor der Fastenzeit“ bezeichnet, zum anderen spricht der für heute vorgesehene Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja, den wir eben gehört haben, vom Fasten. Also auf gut hannoversch: Ausweichen gildet nicht!
Fasten
Und: Es ist doch interessant, dass Fasten, ein so alter, ja fast altertümlicher Begriff wieder derart in Mode gekommen ist! Gut, das liegt sicher auch an unserer in jeder Hinsicht übersättigten Gesellschaft. In den Nachkriegsjahren hätte wohl kaum jemand begeistert von Fastenerfahrungen gesprochen. Aber es ist schon faszinierend: Ein einziger Klick im Internet und Sie haben in sage und schreibe 0,26 Sekunden 5 Millionen 708 tausend Ergebnisse! Nein, ich habe nicht alle gesichtet für die Predigtvorbereitung! Aber allein die ersten Angebote sind erhellend. Wikipedia – Platz 1 – belehrt, dass „Fasten eine völlige oder teilweise Enthaltung von Speisen, Getränken und Genussmitteln über einen bestimmten Zeitraum hinweg„ meint! Danach kommt die Tageszeitung DIE WELT, die unseren Horizont erweitern will unter der Überschrift: „Wer denkt, er ließe dann einfach das Essen weg, täuscht sich“ – oha! Es folgt, wie zu erwarten war, die neueste BRIGITTE Diät auf Platz 3 und dann eine ntv-Reportage: „Ständiges Futtern macht krank“ – darauf wäre ich auch nicht gekommen! Schließlich noch auf Platz 5 STERN. DE: „Den Körper vom Ballast des Winters befreien“ – das riecht förmlich nach Frühling! Dazu öffnen sich sofort jede Menge kommerzielle Angebote vom Basenfasten an der Ostsee über Heilfasten in Bad Tölz, Buchinger Fasten für teures Geld für Körper, Geist und Seele. Fasten ist „in“, keine Frage! Und klar: Fasten tut gut, das erweisen ja wohl all diese Angebote.
Dass Fasten aber eine zutiefst religiöse Tradition hat und in allen Religionen beheimatet ist, kommt nicht vor in diesen ersten Klicks im Internet. Fastenzeit in religiöser Tradition meint aber weder Gesundheits- noch Fitnessfragen. Es geht darum, Abstand vom alltäglichen Rennen und Rasen zu gewinnen, mit dem Ziel, Gott näher zu kommen, sich neu auf den Glauben zu konzentrieren. Fasten im religiösen Sinne zielt auf Spiritualität, ihm geht es um die Erfahrbarkeit und Sinnlichkeit des Glaubens.
Bei allen großen religiösen Leitfiguren wird von einer Phase des Verzichts berichtet. Mose fastete vierzig Tage auf dem Berg Sinai bevor ihm die Zehn Gebote übergeben wurden. Jesus fastete vierzig Tage in der Wüste, bevor er begann, öffentlich zu predigen. Mohammed fastete, bevor ihm der Koran offenbart wurde. Fasten ist also in der religiösen Überlieferung eine Übung, die vorbereitet auf Gotteserfahrung, auf Glaubenseinsichten. Das Fasten reinigt auf gewisse Weise von allem, was uns an Begehren und weltlichen Genüssen beschäftigt, und hilft, dass wir uns auf die tieferen Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gott in unserem Leben besinnen. Es schafft sozusagen Freiräume für die Seele.
Im Christentum gibt es traditionell den Mittwoch als Fastentag – der Tag, an dem Judas Jesus verriet. Das ist in der Regel in Vergessenheit geraten. Zweiter Fastentag ist der Freitag, der Tag der Kreuzigung – als Kind war noch ganz klar für mich: An dem Tag wird kein Fleisch gegessen. Auch das wird heute selten praktiziert. Die Adventszeit als traditionelle Fastenzeit der Vorbereitung auf das Fest der Geburt des Gotteskindes – sie ist versunken unter einer massiven Schicht von Kommerz und Konsum. Aber die Passionszeit, die ist in unserem Land wieder bewusster in den Blick gekommen. Und zwar vor allem, weil es seit 1983 die Aktion „7 Wochen ohne“ gibt. Es begann mit dem Verzicht auf Nikotin oder Alkohol, Fernsehen oder Süßigkeiten. In den letzten Jahren hat sich die Aktion zu einer Anregung entwickelt, anders zu leben, innezuhalten, zu wagen, anders zu denken. So waren die Slogans in den vergangenen Jahren etwa: 7 Wochen ohne Geiz oder 7 Wochen ohne Ausreden. In diesem Jahr sollen es 7 Wochen ohne falsche Gewissheiten werden.
Mittwoch beginnt sie also, die Fastenzeit. 40 besondere Tage sollen es sein gemäß der biblischen Tradition, die schon bei Mose und bei Jesus genannt wird. Moment mal, werden die Schnellrechner unter ihnen jetzt denken: Vom 5. März bis zum 20. April, das sind doch 46 Tage! Stimmt. Die Sonntage als Feiertage aber werden in christlicher Tradition vom Fasten ausgenommen. Das ist doch irgendwie sehr menschenfreundlich, oder? Es darf in der Tat am Sonntag, am frohen Tag der Auferstehung eine Ausnahme geben. Und es gibt exakt 6 Sonntage in der Fastenzeit, so dass sie auf die traditionellen 40 Tage kommt.
Jesaja
Damit kommen wir zum Predigttext. Jesaja schildert eine Art Dialog zwischen dem Volk Israel und Gott. Das Volk sagt: „Warum fasten wir, und du siehst es nicht an?“ (58,3) Gott sagt: „Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.“ Jesaja zeigt eine große Spannung auf: Da fasten die Menschen und meinen, Gott müsste das doch anerkennen. Gott aber sieht das Fasten als Heuchelei, weil sich im Alltag der Menschen nichts ändert. Da herrschen Unrecht, Unterdrückung und Betrug, Menschen hungern, sind obdachlos – aber dafür haben diejenigen, die sich ihres so respektablen Glaubenslebens rühmen, keinen Blick. Ihr religiöses Leben spiegelt sich nicht in ihrem weltlichen Leben – das ist für Jesaja der Skandal. Er schreibt als Reaktion auf diese Situation eine Mahnrede oder mahnende Belehrung wie der Alttestamentler Claus Westermann sagt.
Zunächst wird vom Propheten gar nicht in Abrede gestellt, dass die Gemahnten sich bemühen. Sie versuchen ja, irgendwie religiös angemessen zu leben, indem sie etwa die Fastengebote achten. Aber Fasten als Leistung wird im Text des Propheten Jesaja massiv abgelehnt. Er erklärt, dass Gott genervt ist von all der Rederei über Fasten. Gott wäre es, sagt Jesaja, doch viel lieber, Menschen ließen Taten sehen: Mit den Hungrigen das Brot brechen. Die Obdachlosen ins Haus führen. Für sozialen Frieden Sorge tragen im Land. Das wäre gottgefälliges Leben, so Jesaja.
Politische Predigt
Da angekommen, wird es ungemütlich. Das klingt ja gleich schon wieder nach politischer Predigt. „Muss das denn immer wieder sein?“, höre ich die ersten fragen. Aber wie soll denn die Predigerin mit einem solchen Text umgehen? Brich mit den Hungrigen dein Brot – das hat eine politische Dimension, ja, sehr wohl. In unserem Land hungern Menschen. Nach Teilhabe, nach Beteiligung, nach Respekt und manche sehr wohl auch ganz real nach ausreichender Versorgung, nach Nahrung. Wer einmal in der Ausgabe einer der Tafeln war, sieht, wie der Überfluss der einen und der Mangel der anderen sich begegnen. Da gibt es Diskussionen, ich weiß das sehr wohl: Ist das nicht der falsche Weg? Entlasten die Tafeln nicht den Sozialstaat, der allen ein Grundeinkommen ermöglichen sollte? Aber Jesajas Frage wirkt doch hoch aktuell: Was ist los in einem Land, in dem die einen aus religiösen, gesundheitlichen oder ästhetischen Gründen fasten und die anderen in langen Schlangen um Nahrung anstehen? Da gibt es definitiv eine Schieflage!
Und: Was ist mit dem Hunger in der Welt? Oja, die Zahlen haben sich gebessert, ich höre schon die Kritiker, die sagen, das würde ich nicht wahrnehmen. Aber der Welthungerindex 2013 zeigt, dass 842 Millionen Menschen unter Hunger gelitten haben letztes Jahr. Da kann eigentlich keiner von uns beruhigt ins Bett gehen am Abend, weil die Statistik besser ist als früher.
Die ohne Obdach sind, die führe ins Haus! Ja, wie sollte ich heute in Deutschland über das an diesem Sonntag als Perikopentext vorgeschriebene Prophetenwort predigen ohne über die Flüchtlinge aus Afrika, die auf Booten nach Lampedusa kommen, ein Wort zu verlieren? Wie kann an solcher Stelle ignoriert werden, was über Menschen gesagt wird, die aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland kommen und nicht freundlich begrüßt und aufgenommen werden. Das sollte zuallererst ihnen als Mitmenschen gegenüber so sein. Aber dafür gibt es sogar ökonomische Gründe, weil wir Nachwuchs und Arbeitskräfte brauchen. Stattdessen ist aus dem Süden der Republik zu hören: „Wer betrügt, fliegt!“ Wobei bei diesem Slogan auch mal überlegt werden dürfte, wer eigentlich am massivsten betrügt in diesem Land: die Zuwanderer oder die Einheimischen? Die Debatten der letzten Monate lassen da vieles offen.
Oja, es ist gefährlich, in einer Predigt politische Rückschlüsse zu ziehen. Mir ist sehr bewusst, wie das mancher Predigt vorgeworfen wird! Und es ist doch klar: Predigten wurden auch auf entsetzliche Weise benutzt für politische Ziele. Besonders bedrückt hat mich die Lektüre so genannter „Kriegspredigten“ aus dem Jahr 1914. Vor hundert Jahren etwa sagte am 2. August der Berliner Hof- und Domprediger Bruno Doehring in einem Gottesdienst: „Ja, wenn wir nicht das Recht und das gute Gewissen auf unserer Seite hätten, wenn wir nicht – ich möchte fast sagen handgreiflich – die Nähe Gottes empfänden, der unsere Fahnen entrollt und unserm Kaiser das Schwert zum Kreuzzug, zum heiligen Krieg in die Hand drückt, dann müssten wir zittern und zagen. Nun aber geben wir die trutzig kühne Antwort, die deutscheste von allen deutschen: ‚Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt!“[1] Bei solcher politischen Predigt graust es mir und ich habe keine Ahnung wie der Kollege damals diese Kriegstreiberei mit dem Propheten Jesaja, mit der Botschaft Jesu, mit dem Neuen Testament hat in Verbindung bringen können.
Aber es ging leider weiter. In meiner jetzigen Heimatgemeinde in Berlin predigte Pfarrer Nobiling am 2. Juli 1933: „Christus ist und bleibt der Herr der Kirche und der Herr des Staates. Er, der zuließ, dass das deutsche Volk bald dem Antichrist zum Opfer gefallen wäre, will jetzt das deutsche Volk durch den von ihm berufenen Führer zur Erneuerung seiner Volksgemeinschaft führen. Dieses Ziel wird im Staat wie in der Kirche gelingen. Die neuen Führer der Kirche sind treu im Glauben und wollen des Volkes Bestes. Dieses Werk kann aber nur gelingen, wenn das Volk, wenn das evangelische Kirchenvolk nicht abseits steht. Jede Revolution brauchte Soldaten, jede Reformation gläubige Kämpfer.“[2]
Das ist beschämend, erschütternd und lässt selbstkritisch fragen: Wie kann ich predigen, was darf politisch sein in einer Predigt? Ich bin zutiefst dankbar, dass es nach 1945 eine Lerngeschichte gegeben hat: In Deutschland Ost und West, im deutschen Protestantismus. Eine Predigt darf niemals mit Ideologie verbunden sein, Hass oder Gegnerschaft schüren. Das Evangelium predigt Feindesliebe, Beten für die, die uns verfolgen, das Schwert an seinen Ort stecken. Jesus sagt im Matthäusevangelium, dass wir ihm da begegnen, wo wir Hungrige speisen, Obdachlose aufnehmen, Gefangene besuchen. Das kann und darf nicht missbraucht werden durch Hetze gegen Arme, Fremde, Verfolgte!
Und doch kann eine Predigt auch den biblischen Text verlassen, wenn sie unpolitisch wird, ängstlich ausweicht, weil sie nicht Stellung beziehen will zum aktuellen Kontext. Jesajas Mahnung, dass Fasten Selbstzweck werden kann, wenn Fasten nicht den anderen sieht, die Not in den Blick nimmt, kann die reale Not anderer heute nicht ausblenden.
Rechtfertigung
Am Ende fordert der Prophet auf, nicht zu meinen, dass wir durch irgendein religiöses Verhalten Gott näher seien, Gott imponierten. Es gibt keine Rechtfertigung allein durch Fasten!
Damit befinden wir uns im Herzstück der reformatorischen Entdeckung: Du kannst noch so großartig fasten, noch so imponierend beten, noch so wunderbar alle Gebote halten – vor Gott zählt das nichts. Es geht gar nicht um das, was du tust, sondern um das, was Gott tut! Gott sagt dir Lebenssinn zu. Selbst wenn du nicht fastest, nicht jeden Sonntag in die Marktkirche kommst – was alle Hannoveraner natürlich tun –, selbst wenn du nicht alle Gebote täglich hältst – das ist schlicht zweitrangig. Auf dem ersten Rang steht Gottes Zusage!
Es geht nicht darum, Leistungen vorzuweisen nach dem Motto: Ich habe sieben Wochen nicht geraucht! Oja, dafür wird ihnen der Hausarzt auf die Schulter klopfen! Aber mit Gott hat das nichts zu tun. Gott imponiert doch nicht, dass du sieben Wochen keine Schokolade gegessen hast – das wäre ein völlig absurder Gedanke! Mit derlei Verzicht oder irgendwelchen anderen Leistungen sammeln wir keine Meriten im Himmel, das war den Reformatoren klar. Wir erwirtschaften hier keinen Ablass für Sünden durch irgendein Verhalten. Was das betrifft, sind wir allesamt ganz und gar auf Gottes Gnade angewiesen.
Luther schreibt in seinem berühmten Text „Von der Freiheit eines Christenmenschen“: „Ich rate dir aber, willst du etwas stiften, beten, fasten, so tu es nicht in der Meinung, daß du wollest dir etwas Gutes tun, sondern gib´s dahin frei, daß andere Leute desselben genießen können, und tu es ihnen zu gut, so bist du ein rechter Christ“ (29). Im Grunde ist das eine Weiterführung von genau dem, was Jesaja sagt: Fasten ja! Aber nicht, um vor Gott gut da zu stehen. Nicht ganz für mich selbst. Sondern immer mit Blick auf die anderen!
Dialog
Am Ende des Predigttextes heißt es: „Dann wirst du rufen und der Herr wird die antworten“ (58,9a). Gottes Urteil ist also nicht unwandelbar. In der Beziehung zwischen Gott und Mensch kann sich immer wieder Neues ereignen. Das ist mit Blick auf unsere Religion bewegend! Gott ist nicht starr irgendwo in der unermesslichen Ferne dort draußen, sondern es gibt ein Geschehen auf Gegenseitigkeit. Ja, Gott wurde sogar selbst Mensch um dieser Beziehung willen, glauben Christinnen und Christen. Der Jesajatext aber zeigt ebenso wie auch das Buch Hiob oder die Jonageschichte, dass dieses Beziehungsgeschehen schon in der hebräischen Bibel gesehen wird. Gott und Mensch stehen im Dialog.
Wie kann das sein? Das ist und bleibt rätselhaft, gewiss. Aber Fragen gehören zum Glauben. Das zeigt in der jüdischen Tradition sehr schön der kleine Dialog: „Warum antwortet ein Jude auf jede Frage mit einer Gegenfrage?“ Antwort: „Und warum nicht?“. Oder die anrührende Geschichte von Elie Wiesel: Ein Junge fragt seinen Lehrer: „Warum betest du zu Gott, wenn man seine Antworten doch nicht verstehen kann?“ Der Lehrer antwortet: „Damit er mir die Kraft gebe, richtige Fragen zu stellen“.
Das ist tiefe jüdische Weisheit. Sie spiegelt sich auch im Protestantismus. Den Reformatoren lag an Bildung, weil Menschen selbst lesen können sollten, um ihr Gewissen zu schärfen, um fähig zu sein, Fragen stellen. Das bedeutet doch: Glaube ist nicht monolithisch, unwandelbar, felsenfest, sondern ereignet sich in diesem Dialoggeschehen mit Gott. Ein Glaube, der fragen darf, wird nie fundamentalistisch werden können im Sinne von: Fragen sind nicht erlaubt, es ist wie es ist und nichts darf sich wandeln. Nein, ein fragender Glaube weiß etwas von der Freiheit eines Christenmenschen. Dialoge sind erlaubt, ein Reden mit Gott wie bei Jesaja ist erwünscht, weil nur so um den richtigen Weg gerungen werden kann.
„Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten“ – in diesem Sinne wünsche ich uns allen eine bewegende, fragende, anregende, dialogische und auch selbstkritische Fastenzeit. Amen.
Fußnote:
- Manfred Gailus, „Ein Feld weißt und reif zu einer Geistesernte liegt vor uns!“. Deutsche Protestanten im Ersten Weltkrieg. In: Johannes Lepsius – eine deutsche Ausnahme, Göttingen 2013, S. 95ff.; S. 99.
- Zitiert nach: Gailus Habil., S. 147f.