Predigt über Epheser 4, 1-6 in Barth

Hermann Barth

(1) So ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid,
(2) in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe
(3) und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens:
(4) ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung;
(5) ein Herr, ein Glaube, eine Taufe,
(6)  ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.

Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

Liebe Gemeinde!

I.

Das fängt ja gut an: "Ich ermahne euch". Als ob wir die ganze Woche über nicht schon genug Ermahnungen zu hören bekommen hätten: am Arbeitsplatz, weil es dem Chef nicht schnell genug ging, vom Nachbarn, weil wir das Unkraut auf unsrer Seite des Zauns mal wieder zu spät angegangen sind, bei der Verkehrskontrolle, weil wir ohne Führerschein unterwegs waren, und so weiter und so weiter. Soll sich das am Sonntag in der Kirche genauso fortsetzen? Sind wir dazu in den Gottesdienst gekommen – und nicht vielmehr, um aufgerichtet und ermuntert zu werden?  

Andererseits: Gottesdienst und Bibelwort und Predigt sind kein Wunschkonzert. Es hilft uns wenig, wenn wir uns in der Kirche lediglich abholen wollten, was wir zu brauchen glauben, und gar nicht mehr genau hinhörten, was Gott uns durch sein Wort - vielleicht gegen all unsre Erwartungen – heute sagen will. Und so wenig wir es lieben, ermahnt zu werden – tief in uns drinnen wissen wir: Alles hat seine Zeit. Aufgerichtet zu werden hat seine Zeit, streng vermahnt zu werden hat seine Zeit. Ermuntern hat seine Zeit, tadeln hat seine Zeit. Das wird uns spätestens dann bewusst, wenn wir uns daran erinnern, dass wir selbst nicht nur Adressat von Ermahnungen sind, sondern auch Ermahnungen aussprechen. Es kommt immer darauf an, aus welchen Gründen Ermahnungen ausgesprochen werden und vor allem wie es geschieht. So sind wir gut beraten, beim heutigen Predigttext nicht reflexartig auf das Stichwort "ermahnen" zu reagieren, sondern genau hinzusehen und hinzuhören. Worum geht es?

II.

Der Apostel schreibt als Gefangener. Es wird nicht gesagt, von wo er schreibt. Gut möglich, dass an ein Gefängnis in Rom gedacht ist, der letzten Station des Paulus vor seiner Hinrichtung. Das gäbe seinem Brief ein besonderes Gewicht. Es wäre ein Art Testament – kostbar wie die Briefe Dietrich Bonhoeffers aus der Zelle in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. "Ich ermahne euch", schreibt der Apostel, "dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid ... Ertragt einer den andern in Liebe und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens".

Nach strenger Vermahnung klingt das eher nicht. Von Kritik und Tadel keine Spur. Im Gegenteil: Der Apostel bescheinigt den Christen in Ephesus ausdrücklich, dass Gott sie berufen oder gerufen hat, zur Gemeinde Jesu Christi zu gehören. Von einer Warnung, diese Berufung nicht zu verspielen, ist nichts zu hören, es gibt allenfalls einen nachhelfenden sanften Rippenstoß, die Berufung in der Lebenspraxis auch sichtbar und spürbar werden zu lassen: Lebt, was ihr seid! Oder wie es an einer späteren Stelle des Epheserbriefs heißt: Ihr wart früher Finsternis, nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts (5,8).

Der ermunternde Ton kommt an dieser Stelle des Epheserbriefs auch keineswegs überraschend. Sie nimmt nur auf und führt fort, was schon den ganzen dem Predigttext unmittelbar vorausgehenden Abschnitt bestimmt. Dort schreibt der Apostel:

Ich beuge meine Knie vor dem Vater ..., dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid ... Dem aber, der überschwenglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen ..., dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit.

Nimmt man diesen Abschnitt als Vorspann zum Predigttext hinzu, dann kann man ohne jede Ironie und mit aufrichtiger Dankbarkeit für diese stärkenden, ermutigenden Worte nur sagen:

DAS FÄNGT GUT AN.

Denn wer weiß, dass so für ihn gebetet wird und dass er im Dienste eines Herrn steht, der überschwenglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, der braucht keine strengen Vermahnungen und keinen Wink mit dem Zaunpfahl und keine Drohkulisse. Er freut sich darüber, dass er den Ruf Jesu Christi gehört hat, und wird all seinen Stolz daran setzen, dass sich sein Leben, sein Reden und sein Handeln als diesem Ruf würdig erweisen.
 
Ja, und nun braucht es nur noch eine Lösung für den auffallenden, ja befremdlichen Ausdruck, mit dem der Predigttext beginnt: "Ich ermahne euch". Wir müssen alle Assoziationen, die wir mit dem deutschen Wort "ermahnen" verbinden, ganz beiseitelassen. Des Rätsels Lösung besteht nämlich darin, dass das griechische Wort, das die Lutherbibel mit "ermahnen" wiedergibt, eine viel weitere Bedeutung besitzt: Sie reicht von "zurufen" über "ermahnen" und "bitten" bis zu "trösten" und "ermuntern". Das kann eine Bibelübersetzung nicht angemessen wiedergeben – auch wenn man, wie neuere Übersetzungen es tun, statt "ermahnen" das Wort "bitten" benutzt. Der Reichtum dessen, was das griechische Wort transportiert, ist in keiner einzelnen Übersetzung abzubilden. Man kann diesen Reichtum nur im Hinterkopf mitklingen lassen und muss den großen Bogen mitdenken, den der Apostel schlägt - vom Gebet für die Gemeinde in Ephesus über den Lobpreis Gottes, der tun kann weit über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, bis hin zu dem ermunternden Rippenstoß, mit dem der Predigttext beginnt:

DARUM RUFE ICH EUCH ZU, ICH, DER GEFANGENE IN DEM HERRN:
LEBT DER BERUFUNG WÜRDIG,
MIT DER IHR BERUFEN SEID!

III.

Was der Apostel  konkret damit meint, sich der Berufung durch Christus würdig zu erweisen, erläutert er anhand von zwei Bereichen: 1. dem Umgang mit anderen Menschen, auch, aber nicht nur innerhalb der Kirche, und 2. der Bewahrung der Einigkeit in Gemeinde und Kirche. Bei diesen Themen kann jeder von uns mitreden. In zweitausend Jahren hat sich dabei offenkundig wenig geändert.

"Seid eurer Berufung würdig ... in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe!"

Was wären die Familie, die Schule, die Arbeitswelt, die Politik – nicht zu vergessen die Kirche – für erfreuliche und wohltuende Orte, wenn alle – oder wenigstens die meisten – die Aufforderung des Apostels beherzigten! Wie anders sähen unsere kleine und die große Welt aus, wenn dort Demut, Sanftmut, Geduld und Einander-in-Liebe-Ertragen regierten!

Demut und Sanftmut sind freilich arg verkannte Tugenden. Demut wird gern mit dem Sich-Klein-Machen, dem Sich-Unterwerfen, dem Sich-ohnmächtig-geben verwechselt. In diesem Sinne spricht man bei Hunden, wenn sie sich auf den Rücken legen und sich ihrem Herrn oder sonst einem überlegenen Gegenüber ausliefern, von einer Demutsgebärde. Aber der Mensch ist kein Hund. Demut beim Menschen ist eine Selbstzurücknahme – so dass man sogar die These aufgestellt hat, Demut sei der innerste Kern allen Anstandes. Paulus hat im Philipperbrief (2,3) geschrieben: "In Demut achte einer dem andern höher als sich selbst." Und in der Tat: Was ist Anstand anderes, als sich selbst zurückzunehmen und alle Achtung dem andern entgegenzubringen? 

Sanftmut wird nicht nur verkannt, sie hat auch eine schlechte Presse. Landläufig stellt man sich unter sanftmütigen Menschen richtiggehende Softies vor: leise, konfliktscheu, mit einem Dauerlächeln auf dem Gesicht. Dabei sind die Sanftmütigen alles andere als Weicheier. Sanftmut hat mit Mut zu tun. Nicht mit der Sorte Mut, die sich auf Gedeih und Verderb und notfalls mit Gewalt durchsetzen will. Aber mit Beharrlichkeit, Furchtlosigkeit und Leidensbereitschaft.

Sanftmut ist sozusagen ein Mut, der mit Geduld gepaart ist. Auch da wird Geduld gebraucht, aber deswegen hat der Apostel die Gabe der Geduld vermutlich nicht in seine Aufzählung aufgenommen. Denn er lässt ihr die Lebensregel folgen: "Ertragt einer den andern in Liebe." Beides, die Gabe der Geduld und die Regel, einander in Liebe zu ertragen, erklärt sich gegenseitig. Es geht um den Umgang mit Menschen, und zwar um einen solchen Umgang, der dem anderen Zeit lässt. Fußball ist hier wie häufig ein Reservoir für lebensnahe Beispiele. Wenn ein Spieler in einer Formkrise steckt, stellt sich für den Trainer im allgemeinen die Frage, ob er ihn aufstellt oder nicht. So war es mit Miroslav Klose vor dem Spiel am vergangenen Mittwoch gegen Finnland. Die Geduld mit Miro und das Vertrauen in seine Fähigkeiten haben sich gleich dreimal ausgezahlt. Fußball ist nur ein Spiel. Ernst aber wird es im Miteinander der Ehepartner oder im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Bin ich zu pessimistisch, wenn ich sage, heute fehlt es vielfach an der Geduld und Kraft, den andern in Liebe zu ertragen?  Manchmal ist der Blick zurück verfälscht, weil verklärt. Dann ist man ein Opfer des verbreiteten Klischees, wonach früher angeblich vieles besser war. Aber um nur ein
Beispiel anzuführen – die starke Zunahme der Scheidungen spricht schon dafür, dass es heute mehr als früher an Geduld mangelt, das Unbefriedigende zu ertragen. Beziehungen sollen das Glück auf Erden sein, aber diese Erwartung überfordert sie.

Woher kommt die Kraft, einander in Liebe zu ertragen? Gewiss aus Vorbildern. Aber jetzt wird noch einmal wichtig, was im Vorspann, also im Gebet des Apostels für die Gemeinde in Ephesus, steht: Ich beuge "meine Knie vor dem Vater ..., dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit ... und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid".

IV.

Einander in Liebe zu ertragen – das ist nicht allein ein Thema für die persönlichen Beziehungen, in denen wir leben. Es ist ein Thema auch in unsren Gemeinden und Kirchen. Denn wir sind schon ein buntes Völkchen und haben recht verschiedene Auffassungen zum Beispiel über die Erwartungen an das himmlische Bodenpersonal oder strukturelle Veränderungen – von theologischen Fragen wie dem Verhältnis zu den Muslimen oder ethischen Fragen wie der Sterbehilfe ganz zu schweigen. Der Apostel erwähnt mit keinem Wort irgendwelche Streitigkeiten oder Konflikte oder Abspaltungen in Ephesus. Da wollen wir es ihm nachmachen und uns ganz auf das konzentrieren, was – bei allen Streitereien und Konflikten – unsere Einigkeit verbürgt.

Das Wichtigste ist, dass wir die Einigkeit der Gemeinden und Kirchen nicht aus eigener Kraft herbeiführen müssen. Gottes Geist hat uns schon eins gemacht, so dass unser Auftrag lediglich darin besteht, diese Einigkeit "zu wahren". Die bereits vorhandene Einigkeit aber zeigt sich und lässt sich festmachen – so der Apostel - an sieben Elementen: ein Leib Christi, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller. An dieser Liste fällt vor allem auf, was nicht genannt wird: zum Beispiel die Heilige Schrift und das Abendmahl und das kirchliche Amt und die Bischöfe und so fort. So erklärt sich auch, warum sich dieser Abschnitt des Epheserbriefs in der Lehre der reformatorischen Kirchen hoher Wertschätzung erfreut. Er ist sozusagen der Schriftbeweis dafür, dass die Einheit der Kirche keine umfangreichen und komplizierten Vorbedingungen kennt und braucht. Klassisch ist das in Artikel 7 des Augsburgischen Bekenntnisses formuliert:

"Zur wahren Einheit der Kirche genügt es, übereinzustimmen in bezug auf die Lehre des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente. Es ist aber nicht nötig, dass die menschlichen Überlieferungen oder von Menschen eingesetzten Riten und Zeremonien überall gleich sind. Denn Paulus sagt: 'Ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller' usw. (Epheser 4,5-6)."

Das bleibt für die reformatorischen Kirchen die Messlatte, die wir an alle Bemühungen um die sichtbare Einheit der Kirche anlegen!

Graf von Zinzendorf, der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, hat die Vorbedingungen für die wahre Einheit der Kirche noch weiter verschlankt und konzentriert – was umgekehrt die römisch-katholische Kirche zu der Rückfrage an uns veranlasst hat, ob wir es uns damit dann nicht doch zu einfach machen. Wir lassen diese Frage für heute auf sich beruhen und beten mit Graf von Zinzendorf:

"Ach du holder Freund, vereine deine dir geweihte Schar, dass sie es so herzlich meine,
wie's dein letzter Wille war. Ja, verbinde in der Wahrheit, die du selbst im Wesen bist,
alles, was von deiner Klarheit in der Tat erleuchtet ist."

Amen.