Bibelarbeit für den 29. Deutschen Evangelischen Kirchentag (1. Mose 12, 136, 23)
Wolfgang Huber
Alte Oper in Frankfurt/Main, Großer Saal, 9.00 Uhr
Losung und Lehrtext des Tages:
“Er dachte an uns, als wir unterdrückt waren, denn seine Güte währet ewiglich.”
(Psalm 136,23)
“Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!”
(Galater 5, 1)
Gebet aus Nairobi: Gott, der du uns frei machst und einst, lass uns den Sinn deines Weges erkennen, indem wir ihn gehen. Gib deiner Kirche eine Vision von der Freiheit, zu der du sie befreien willst. Amen.
I.
Dass ein Wirtschaftsflüchtling am Beginn der Heilsgeschichte steht, ist erstaunlich. Und befremdlich muss es für die sein, denen “Wirtschaftsflüchtlinge” ohnehin als Menschen zweiter Klasse erscheinen.
In dem Kapitel aus dem 1. Buch Mose, das der heutigen Bibelarbeit zu Grunde liegt, erleben wir Abram, den “Vater des Glaubens”, als Wirtschaftsflüchtling in dem zweifachen Sinn, in dem man auch heute davon sprechen kann. Es gibt Wirtschaftsflüchtlinge, die bringen ihr Vermögen dorthin, wo es vermeintlich sicher ist. Und es gibt Wirtschaftsflüchtlinge, die fliehen vor der nackten Not in ein Land, in dem sie hoffen, Essen, Unterkunft und Beschäftigung zu finden. Merkwürdigerweise beurteilt man hierzulande die erste Art von Wirtschaftsflüchtlingen meist gnädiger als die zweite. Für jemanden, der Steuern sparen oder besser: entziehen will, haben wir mehr Verständnis als für jemanden, der aus absoluter Armut kommend illegal bei uns einwandert, um Arbeit und Brot zu finden. Dabei ist die Sorge um den elementaren Lebensunterhalt moralisch überzeugender als die Absicht, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Deshalb hilft es, Abram in unserem heutigen Text zweimal unterwegs zu finden, in der einen wie in der anderen Rolle. Einmal sehen wir ihn ausgestattet mit allem, was er an Besitztümern in Haran angesammelt hatte, auf dem Weg nach Kanaan. Die Reichtümer, über die er verfügt, sollen ihm den Beginn in der neuen Umgebung erleichtern. Das zweite Mal flieht er vor dem Hunger, der in der neuen Heimat ausgebrochen ist. Diesmal fehlt ihm das Nötigste. Und er macht sich nach Ägypten auf den Weg.
Aber auch dort ist seines Bleibens nicht lange. Immer wieder begegnet er der Aufforderung: Mach dich auf den Weg; geh, auf dich gestellt. Ein Umherziehender ist dieser Abram. Er gehört zu denjenigen, von denen Bertolt Brecht sagte, dass sie “öfter als die Schuhe die Länder” wechselten. Wenn wir heute morgen an Abram denken, einen, der “öfter als die Schuhe die Länder” wechselte, ist es nicht verkehrt, die im Sinn zu haben, denen es heute genauso geht.
II.
Wie konnte der Wirtschaftsflüchtling zum Glaubenszeugen werden? Wir wollen die verschiedenen Etappen von Abrahams Weg nacheinander betrachten und zu verstehen versuchen. Ich lese die erste Etappe in der Fassung der Luther-Bibel (Kirchentags-Programmheft S. 22):
“Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will, Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog. So nahm Abram Sarai, seine Frau, und Lot, seines Bruders Sohn, mit aller ihrer Habe, die sie gewonnen hatten, und die Leute, die sie erworben hatten in Haran, und zogen aus, um ins Land Kanaan zu reisen. Und sie kamen in das Land, und Abram durchzog das Land bis an die Stätte bei Sichem, bis zur Eiche More; es wohnten aber zu der Zeit die Kanaaniter im Lande.
Da erschien der Herr dem Abram und sprach: Deinen Nachkommen will ich dies Land geben. Und er baute dort einen Altar dem Herrn, der ihm erschienen war. Danach brach er von dort auf ins Gebirge östlich der Stadt Bethel und schlug sein Zelt auf, so dass er Bethel im Westen und Ai im Osten hatte, und baute dort dem Herrn einen Altar und rief den Namen des Herrn an. Danach zog Abram weiter ins Südland.”
Diese Erzählung steht an einer einzigartigen Nahtstelle der biblischen Überlieferung: am Übergang von der Urgeschichte zur Geschichte der Erzeltern. Die Urgeschichte beginnt mit den Erzählungen von Schöpfung und Sündenfall. Über den Brudermord und die Sinflutgeschichte spannt sich der Bogen zum Turmbau von Babel. Eingestreut sind Geschlechtsregister und Völkertafeln, die verdeutlichen, welch riesiger menschheitsgeschichtlicher Bogen in diesen exemplarischen Erzählungen geschlagen wird. Menschliches Grundgeschehen wird geschildert, nicht eine Abfolge von Einzelereignissen dargestellt.
In eine andere Welt werden wir mit der Geschichte der “Erzeltern” geführt. Sie schlagen die Brücke von der Vielfalt der Völker zu dem einen Volk Israel, dem besonderen Bundesvolk Gottes, fügen diese besondere Geschichte aber sogleich wieder in die Weite einer Verheißung für alle Völker ein. Man hat sich angewöhnt, diesen Teil des 1. Buchs Mose als “Vätergeschichte” zu bezeichnen. Abraham, Isaak, Jakob und seine Söhne – vor allem Joseph natürlich – sind die Generationen von “Vätern”, die geschildert werden. Gegen die übliche Betrachtungsweise spricht nicht nur, dass bei ihr bestimmte Brüder notorisch verdrängt werden – neben Isaak steht Ismael, neben Jakob steht Esau - ; vor allem wird übergangen, dass den Männern Frauen zur Seite treten, die weit mehr sind als nur eine Ermöglichung der genealogischen Fortsetzung. Mit Abram verbinden sich Sara, Hagar und Ketura, mit Isaak Rebekka, mit Jakob Lea und Rahel. Gerade von der Abrahamsgeschichte gilt, dass sie in wichtigen Zügen ganz wesentlich eine Sara-Geschichte ist. Wir werden das noch sehen.
Der geschichtliche Hintergrund dessen, was uns berichtet wird, lässt sich nur von ferne erahnen. Wollten wir ihn ermitteln, müssten wir Genaueres über eine Zeit wissen, die irgendwo zwischen 2000 und 1400 vor Christi Geburt liegt. In dem Raum zwischen Südwestmesopotamien und Nordägypten ereignen sich die Bewegungen, von denen hier berichtet wird, auch die Wanderungen des Abram. Aber was da geschehen ist, hat die Späteren so beschäftigt, dass an den Geschichten immer weiter gesponnen wurde; immer wieder wurden eigene Erfahrungen im Spiegel dieser Geschichten verarbeitet. Bis in die Zeit des babylonischen Exils im sechsten Jahrhundert und darüber hinaus versinnbildlicht vor allem Abram die gemeinsame Erfahrung des Volkes Israel mit Zuflucht und Heimkehr, Sklaverei und Exodus, Exil und Neubeginn.
Mit Abram beginnt die Geschichte Israels; dabei ist er selber kein Israelit. Er wird der Träger göttlicher Segensverheißung; dabei stammt er aus einer Kultgemeinschaft, die eine der Gestirngottheiten des Zweistromlands verehrte Gottes Anrede aber reißt ihn aus allen vertrauten religiösen Bindungen heraus... Mit ihm beginnt Gott eine Geschichte, die im Zeichen des Segens stehen soll. Nicht weniger als fünfmal kommen in den wenigen Zeilen der Verse 2 und 3 die Worte “Segen” oder “segnen” vor – so als solle die fünfmalige Flucherfahrung der vorangehenden Urgeschichte in dieser einen Person für die ganze Menschheit in eine Segensgeschichte verwandelt werden.
Gottes Anrede veranlasst Abram dazu, sich auf den Weg zu machen. Er verlässt die Stadt, in welcher er mit seinem Vater gelebt hatte. Erfüllt er damit auch einen Wunsch, den sein Vater nicht hatte verwirklichen können? Der war auf dem Weg von Ur in Chaldäa nach Kanaan in Haran hängen geblieben. Abram setzt nun die Wanderschaft fort. Mit Hausrat und Rinderherden, mit Frau und Neffen macht er sich auf den Weg. Hinter sich lässt er das böse Stadtleben – darüber, dass es dort Streit gegeben hätte, spekuliert später der Koran; vor sich hat er das verheißene, hoffentlich fruchtbare Land. Ein “Wirtschaftsflüchtling” eigener Art.
Kanaan aber ist kein menschenleeres Land, das erst besiedelt werden müsste. Dort wird keineswegs der Gott verehrt, dessen Ruf Abram vernommen hat. Vertreiben will er die Bewohner, die er vorfindet, nicht. Auch macht er den Gott, der sich ihm offenbart hat, nicht zum Instrument seiner Machtansprüche. Bei Sichem schlägt er seine Zelte auf, bei der “Eiche More”. Es handelt sich dabei um weit mehr als um einen idyllischen Eichenhain. Abram zeltet bei einem Orakelbaum, also bei einem kanaanitischen Heiligtum. Er fängt nicht damit an, diese “Donarseiche” umzuhauen, aber er macht auch keinen Bogen um das Heiligtum. Neben dem bestehenden errichtet er einen neuen Altar. Auch auf seinen späteren Wegen trifft er auf Heiligtümer und weicht ihnen nicht aus. Vor allem für Bethel gilt das. Er scheut die Begegnung mit den anderen, den Fremden, nicht, sondern er ist bei ihnen. Er “ist präsent”, wie man heute sagt, er “steht zur Verfügung”. Er lebt nach der Regel, dass es bei solchen Anfängen nicht darauf ankommt, was man tut, sondern dass man da ist.
Man hat Abram als das “Urbild eines Missionars” bezeichnet. Aber das ist eine Mission besonderer Art. Es ist eine Mission, die wir heute auf andere Weise neu entdecken. Nicht eine Religionsgemeinschaft, sondern Gott ist das Subjekt dieser Mission. Menschen treten einfach in deren Dienst. Sie beginnt nicht mit einem Aktionsplan, sondern mit der Bereitschaft, präsent zu sein und zur Verfügung zu stehen. Sie verdrängt die Überzeugungen der anderen nicht, sondern setzt sich ihnen aus. Sie lässt die Angst vor dem Fremden hinter sich. Auf diese besondere Weise setzt sich der Anruf Gottes durch und wandelt Fremdheit in Segen. Es ist eine Mission, die das Gottvertrauen lebt, das sie verkündigt. Abram ist ein Beispiel für dieses gelebte Gottvertrauen; dadurch ist er Missionar.
Wie wäre es, wenn wir bei unserem Nachdenken über Mission heute an diesem einfachen abrahimitischen Punkt beginnen würde. Manches Verkrampfte an unseren Debatten und Bemühungen würde sich dann verlieren. Dialoge würden entstehen an den “heiligen Orten” unserer Zeit: den Banktempeln und Konsumkirchen. Gespräche kämen in Gang an den Hausaltären in unseren Wohnungen, den Fernsehern und Videorecordern. Und als Christen brächten wir das Vertrauen auf Gottes befreiende Gegenwart ein. Das wäre Mission.
“Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid. Schaut Abraham an, euren Vater, und Sara, von der ihr geboren seid. Denn als einen einzelnen berief ich ihn, um ihn zu segnen und zu mehren.” So sagt es der Prophet in der Zeit des babylonischen Exils (Jes. 51,1f.). Für ein Vertrauen auf Gott, das der Unsicherheit des eigenen Lebens und seines Weges standhält, steht Abraham. Deshalb wird sein Glaube gepriesen bis ins Neue Testament hinein, bis zu Paulus, der in ihm nicht nur den leiblichen Stammvater des Volkes Israel, sondern auch den Stammvater des Glaubens sieht (Röm 4,1-5).
Und Nelly Sachs, die Dichterin des jüdischen Schicksals, sieht in Abraham das Urbild eines für Gott geöffneten Menschen. In ihrem Gedicht “Abraham” heißt es: “O du, / aus dem mondversiegelten Ur, / der du im Sande der abtropfenden Sintfluthügel / die sausende Muschel / des Gottesgeheimnisses fandst / ... O du / aus dessen ahnendem Blut / sich das Schmetterlingswort Seele entpuppte, / der auffliegende Wegweiser ins Ungesicherte hin / ... O Abraham, / die Uhren aller Zeiten, / die sonnen- und monddurchleuchteten / hast du auf Ewigkeit gestellt.”
III.
Ungesichert ist nicht nur die Seele, ungesichert ist auch der Lebensunterhalt. Das bringt Abram erneut auf die Wanderschaft. Wiederum heißt es: Geh! Nun sehen wir Abram in der anderen Rolle des Wirtschaftsflüchtlings, des Hungernden auf der Suche nach Brot.
“Es kam aber eine Hungersnot in das Land. Da zog Abram hinab nach Ägypten, dass er sich dort als ein Fremdling aufhielte; denn der Hunger war groß im Lande. Und als er nahe an Ägypten war, sprach er zu Sarai, seiner Frau: Siehe, ich weiß, dass du ein schönes Weib bist. Wenn dich nun die Ägypter sehen, so werden sie sagen: Das ist seine Frau, und werden mich umbringen und dich leben lassen. So sage doch, du seist meine Schwester, auf dass mir‘s wohlgehe um deinetwillen und ich am Leben bleibe um deinetwillen.
Als nun Abram nach Ägypten kann, sahen die Ägypter, dass seine Frau sehr schön war. Und die Großen des Pharao sahen sie und priesen sie vor ihm. Da wurde sie in das Haus des Pharao gebracht. Und er tat Abram Gutes um ihretwillen; und er bekam Schafe, Rinder, Esel, Knechte und Mägde, Eselinnen und Kamele. Aber der Herr plagte den Pharao und sein Haus mit großen Plagen um Sarais, Abrams Frau, willen. Da rief der Pharao Abram zu sich und sprach zu ihm: Warum hast du mir das angetan? Warum sagtest du mir nicht, dass sie deine Frau ist? Warum sprachst du denn: Sie ist meine Schwester, so dass ich sie mir zur Frau nahm? Und nun siehe, da hast du deine Frau; nimm sie und zieh hin. Und der Pharao bestellte Leute um seinetwillen, dass sie ihn geleiteten und seine Frau und alles, was er hatte.”
Was soll jemand machen, der in seiner Heimat nicht findet, was er zum Leben braucht? Die rabbinische Überlieferung hat aus dem Beispiel des Abram, dem ja einige Generationen später auch die Söhne Jakobs folgten, eine allgemeine Regel abgeleitet: “Ist Hungersnot in der Stadt, so zerstreue deine Schritte.” Gemeint ist: Findest du in deiner Heimat nichts zu essen, so wandere aus. Abrams Verhalten wird zur Begründung dieser Regel ausdrücklich zitiert.
Wer sich vor den Folgen einer solchen Regel fürchtet, der sollte mehr tun, als nur die eigenen Grenzen dicht zu machen. Er müsste eher einen Beitrag dazu leisten, dass es vor Ort nicht zu einer Hungersnot kommt. Maßnahmen dafür, dass Lebensmittel angebaut und bezahlt werden können, sind wichtiger als die Aussage, Wirtschaftsflüchtlinge missbrauchten das Asylrecht.
Wie wäre es eigentlich Abram oder den Söhnen Jakobs bei uns ergangen? Daran, dass Abram recht daran tat, in Ägypten Zuflucht zu suchen, lässt unsere Erzählung keinen Zweifel.
Zweifelhafter ist, was im zweiten Teil der Erzählung alle Aufmerksamkeit auf sich zieht: Abrams Verhalten gegenüber seiner Frau, der schönen Sarai. Nun geht sein Kalkül der Selbsterhaltung wohl doch zu weit. Dafür, dass er seine Frau bittet, sich als seine Schwester und nicht als seine Frau zu bezeichnen, kann man ihn noch zu verteidigen versuchen. Denn das konnte sie tun, so Thomas Mann, “ohne geradehin zu lügen: denn erstens nannte man, namentlich im Lande Ägypten, die Geliebte gern seine Schwester. Zweitens aber war Sarai eine Schwester Lots, den Abraham als seinen Neffen zu betrachten und Bruder zu nennen pflegte; so konnte er allenfalls Sarai als seine Nichte ansehen und ihr den Schwesternamen im üblicherweise erweiterten Sinne beilegen, wovon er auch zum Zwecke der Irreführung und des Selbstschutzes Gebrauch machte.” (Th. Mann, Joseph und seine Brüder, Frankfurt a.M. 1964, 91).
Das lässt sich hören. Freilich macht es einen Unterschied, ob ein Mann seine Geliebte “Schwester” nennt oder ob sie selbst sich so bezeichnet. Aber auch wenn wir von diesem Unterschied absehen, kann man die Augen nicht davor verschließen, in welche Situation Abram seine Ehefrau bringt. Er gibt sie der für die Wohlhabenden der damaligen Zeit zugänglichen Form der Prostitution preis; er liefert sie dem Pharao zur Eingliederung in seinen Harem aus. Den unglaublich üppigen Lohn steckt er als “Bruder” ein.
So wird aus dieser Geschichte ein drastisches Beispiel für die Rechtfertigungslehre. In seiner Massivität geht es eigentlich zu weit: Der Träger der Verheißung ein Zuhälter des Pharaos. Dass Abram nicht aus seinen Taten, sondern aus Glauben gerechtfertigt wird, tritt hier überaus plastisch vor Augen. Wer aus Gründen der Selbsterhaltung den ihm nächsten Menschen zum bloßen Instrument macht, der ist fürwahr auf Gnade angewiesen.
Zum Glück nimmt die Geschichte eine günstige Wendung. Dem Pharao wird es offenbar schwer gemacht, sich an der schönen Sarai zu freuen. Denn “der Herr plagte” oder schlug “den Pharao.“ Was damit gemeint ist, wird nicht gesagt. Ein Midrasch hat die Lücke in einer hinreißenden Weise gefüllt. Er geht davon aus, dass ein Engel unsichtbar mit in dem Schlafzimmer weilte, in dem der Pharao Sarai aufsuchte. Und er versteht es wörtlich, dass der Pharao “auf Sarais Wort” hin geschlagen wurde. “Der Pharao wollte ihr den Schuh ausziehen, da schlug (der Engel) ihn auf die Hand. Er wollte ihre Kleider berühren, da schlug er ihn wieder. Der Engel beriet sich mit Sara über jeden einzelnen Schlag. ... Wenn Sara sagte, er solle zuhauen, schlug er ihn, wenn sie sagte, er solle ein wenig einhalten, tat er es” (G. Stemberger, Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel, München 1989, 181).
Der Pharao gibt nach; wir gehen nicht fehl in der Annahme, dass er noch andere Haremsdamen zur Verfügung hatte – auch wenn sie nicht so schön gewesen sein mögen wie Sarai. Seine Beschwerde gegenüber Abram ist nachvollziehbar; er fühlt sich durch die Aussage, es handle sich bei Sarai um Abrams Schwester, in die Irre geführt. Bemerkenswert ist, dass er nicht zurückfordert, was er Abram als großzügige Entlohnung für die Dienste seiner “Schwester” überlassen hat. Deutlich zeigt sich sein Ärger freilich darin, dass er eine eilige, wenn auch komfortable Abschiebung ins Werk setzt.
Zwar kommt Sara in diesem zweiten Teil der Erzählung nicht ausdrücklich zu Wort. Aber sie nimmt uns doch ganz in ihren Bann. Sie ist die eigentliche Hauptperson dieses Teils der Erzählung. Auch wenn die Haremssituation im alten Ägypten mit modernen Formen der Prostitution nicht unmittelbar verglichen werden kann, drängt sich eine Analogie schon durch die dem Ehemann, dem vermeintlichen “Bruder” gewährte Entlohnung auf. Die Empathie gehört Sarai. Und auch Gott nimmt für Sarai Partei. Er peinigt den Pharao, um sie zu befreien.
Damit wird sie nicht nur zum Urbild für das Volk Israel, das aus der Gewalt des Pharaos befreit wird. Sie wird auch zum Urbild für all diejenigen Frauen, die in sexuelle Abhängigkeit gebracht, zur Prostitution gezwungen und in der Prostitution gedemütigt werden. Auch heute gilt, dass sich Empathie für die davon betroffenen Frauen unmittelbar einstellt oder doch einstellen müsste. Auch heute gehört es zu den Hoffnungen des Glaubens, dass Gott, der auf der Seite der Gedemütigten steht, Partei nimmt für Frauen, denen von Männern derartiges angetan wird.
Aber daraus folgt nach meiner Überzeugung gerade nicht, dass Prostitution zur Normalität – zu einem „normalen Beruf“ - erklärt wird. Das Gegenteil ist zu wünschen. Wer einmal die entwürdigende Zurschaustellung von Frauen an der deutsch-tschechischen Grenze gesehen hat, wer den wachsenden Handel mit Frauen aus Osteuropa oder aus Thailand vor Augen hat, der sieht sich zu einer ganz anderen Folgerung genötigt. Wo immer der Körper von Frauen zur Ware und ihre Sexualität zum Handelsobjekt gemacht wird, liegt ein Angriff auf ihre Würde vor – auch dann, wenn dieser Angriff rechtlich bestens abgesichert wird. Der Hinweis, der auch in unserer Erzählung eine Stütze finden kann – der Hinweis nämlich, es handle sich um das älteste Gewerbe der Welt, hilft da nichts. Es geht darum, dass Gott Partei ergreift und auch die heutigen Pharaonen plagt; und es geht auch darum, dass wir uns der eigenen Verantwortung bei diesem Plagen nicht entziehen. Denn sonst müssen wir zugeben, dass es Sarai bei uns auch nicht besser ginge als beim Pharao.
IV.
Wir müssen noch einmal zum Anfang zurückkehren. Denn wir haben bisher die absurde Situation schweigend übergangen, mit welcher die Erzählung von Abram und Sarai beginnt. Abram wird mit der Verheißung ausgestattet, dass Gott ihn zu einem großen Volk machen will – einem Volk, das so bekannt und anerkannt sein wird, dass alle Völker der Erde sich in seinem Namen Segen wünschen werden. Doch der Leser des 1. Buchs Mose, der diese Verheißung zur Kenntnis nimmt, hat schon zuvor gelesen, dass Abrams Frau Sarai unfruchtbar ist (1. Mose 11,30). Die große Verheißung kollidiert mit der harten Realität. Daraus empfängt die gesamte Geschichte ihre Spannung. Dass Sara schließlich doch einen Sohn zur Welt bringt, löst diese Spannung. Abram wird wirklich zum Stammvater Israels. Aber unterdessen hat ihm die agyptische Magd Hagar auch einen Sohn geboren, Ismael. Die Verheißungsgeschichte, die von Abraham ausgeht, ist nicht auf Israel beschränkt. Und der Segen, der ihm zugesprochen ist, wird ausdrücklich auch auf die Völker ausgedehnt. Auch wir als Christen fühlen uns deshalb in diese Verheißungsgeschichte hineingenommen.
Dass Abraham eine gemeinsame Bezugsgestalt für Judentum, Christentum und Islam ist, ist in den letzten Jahren verstärkt ins Bewusstsein getreten. Freilich wäre es verharmlosend, würde man annehmen, dass die großen Aufgaben des Dialogs zwischen diesen Religionen durch die Berufung auf Abraham als die einigende Gestalt schon gelöst wären. Dadurch, dass man von “abrahamitischen Religionen” spricht, die alle durch den Glauben an den einen Gott bestimmt sind, ist noch nicht entschieden, ob die Gottesbilder dieser Religionen sich vereinbaren lassen oder miteinander im Konflikt liegen. Abraham eint nicht nur; am Verhältnis zu ihm zeigen sich auch gravierende Unterschiede.
Jeder ernsthafte Dialog bezieht sich ja nicht nur auf das, was man gemeinsam sagen kann; er bewährt sich vielmehr gerade im Umgang mit Unterschieden. Aber für den Dialog der drei monotheistischen Religionen ist es ein großer Schritt nach vorn, wenn sie miteinander erkennen, dass die Segensverheißung an Abraham sich dreifach entfaltet.
In unserem Text wird diese Segensverheißung zwar in besonderer Weise Israel zugesprochen: “Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein” (v.2). Aber neben Isaak – und das heißt: über Israel hinaus – ist auch Ismael in die Segensverheißungen Abrahams einbezogen – der Sohn von Hagar, der ägyptischen Magd. Ausdrücklich heißt es von ihm: “Ich habe ihn gesegnet und will ihn fruchtbar machen und über alle Maßen mehren” (1. Mose 17,20). Noch darüber hinausgehend wird aber – nun wiederum in unserem Text selbst – eine weitere Öffnung in die Völkerwelt insgesamt vollzogen, wenn es heißt: “Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden”(v.3). Die Segensverheißung gilt also Isaak, dem Ersterwählten, sie gilt Ismael, dem Erstbeschnittenen und im Bund Gesegneten; sie gilt der Weite der Völker. Sagen wir zu viel, wenn wir in Isaak, dem Ersterwählten, das Volk Israel, in Ismael, dem Hinzutretenden, den Islam, in der Weite der Völker aber diejenigen sehen, die durch Jesus Christus hinzuerwählt und mitgesegnet sind (B. Klappert, Abraham eint und unterscheidet, in: R. Weth, Bekenntnis zu dem einen Gott?, Neukirchen 2000, 98-122)?
Jedenfalls Muslime sehen das so. Für sie ist Ismael der Urvater der arabischen Stämme und damit des Islam. Mohammed, der sich auf die Verehrung des einen Gottes konzentrieren wollte, suchte die Quellen für diese Gottesverehrung zunächst in der biblischen Überlieferung, wie sie durch Juden und Christen weitergegeben wurde. Als er sich dann zum Propheten berufen wusste, gewann die Bezugnahme auf Ismael und durch ihn auf Abraham eine neue Bedeutung. Denn in Abraham trat ihm der Glaube an den einen Gott in einer Form entgegen, die zeitlich vor dem mosaischen Gesetz und vor der Lehre Christi lag. So konnte eine direkte Verbindung des Islam mit Abraham zugleich für den Gedanken einer inhaltlichen Unabhängigkeit des Islam von Judentum und Christentum fruchtbar gemacht werden. Abraham wird zum vorbildlichen Muslim. Vorbild ist er vor allem darin, dass er Gottes Prüfung durchsteht und das Gottvertrauen in den Fährnissen des Lebens bewährt. Nach dem Koran reinigen und erneuern Abraham und Ismael als erste Muslime die Kaaba in Mekka (Sure 2,124 ff.). In Mekka sind nach islamischer Tradition Ismael und seine Mutter Hagar begraben. Die muslimischen Pilgerinnen und Pilger in Mekka sind also bis zum heutigen Tag zu Gast bei Abraham, Hagar und Ismael. Sie sind nicht beim Propheten Mohammed zu Gast, der in Medina begraben liegt.
Das II. Vatikanische Konzil der römisch-katholischen Kirche hat die Bezugnahme des Islam auf Abraham ausdrücklich erwähnt, als es im Jahr 1965 die Tür zu einem gewandelten Verhältnis der katholischen Kirche zum Islam aufstieß: “Auch auf die Muslime blickt die Kirche mit Wertschätzung, denn sie verehren den einen Gott, der lebt und bleibt, der barmherzig und allmächtig ist, den Schöpfer des Himmels und der Erde und Sprecher zu den Menschen. Sie (die Muslime) streben danach, sich von ganzem Herzen sogar seinen unerforschlichen Befehlen zu unterwerfen, so wie es Abraham tat, mit dem sich der islamische Glaube besonders verbunden fühlt.”
Aber auch das andere ist wahr: Die Berufung auf die gemeinsame abrahamitische Tradition trägt die Gefahr in sich, “das im gemeinsamen Ursprung (aus der eigenen Perspektive) Verbindende so stark ins Zentrum zu rücken, dass das Spezifische an Wert verliert und unscharf wird. Der Respekt vor der Würde und Integrität einer Religion gebietet es, sich ihr als ganzer zu stellen und nicht einzelne, der eigenen Religion nahestehende Aspekte herauszufiltern und in einer Art Vereinnahmungsstrategie sich anzugleichen.” So formuliert die Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland zum “Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland” (Gütersloh 2000, 32).
Und unverkennbar ist auch: In den jüdischen, christlichen und islamischen Perspektiven auf Abraham wird dieser Erzvater leicht zur Projektionsfläche für die eigenen Glaubensvorstellungen und Legitimationsbedürfnisse. Juden gewinnen Zugang zu Abraham im Zusammenhang der mosaischen Überlieferung; Christen sehen ihn in der paulinischen Deutung; Muslime sehen ihn mit den Augen des Propheten Mohammed. Die einen betonen die Bundeszusage für das eigene Volk, die anderen den über die Gesetzeserfüllung hinausweisenden Glauben, die dritten den einen Gott und den ihm geleisteten Gehorsam.
Aber solche unterschiedlichen Akzente in Judentum, Christentum und Islam werden jeweils mit dem einen Abraham verbunden. Den gemeinsamen Bezugspunkt in Abraham und die Unterschiedenheiten in gleicher Weise zu würdigen, gehört zu den heute besonders wichtigen Aufgaben im interreligiösen Dialog. Wechselseitiger Respekt kann sich mit der Bereitschaft verbinden, Unterschiede wirklich zu thematisieren.
Denn der Dialog der Religionen steht heute vor einer doppelten Gefahr. Einerseits wird er unmöglich, wenn der Geist der Unversöhnlichkeit oder der dogmatischen Rechthaberei zur Hörunfähigkeit und Sprachverwirrung führt. Andererseits steht es um ihn schlecht, wenn um einer vermeintlichen Harmonie willen Unterschiede nicht benannt und Unvereinbarkeiten verschwiegen werden. Denn dann wird der nötige Streit um die Wahrheit unterdrückt. Er wird dagegen möglich, wenn gegenseitiger Respekt und die Bereitschaft zum Hören sich mit dem Willen verbinden, die eigene Glaubensüberzeugung einzubringen und der Überprüfung im Gespräch auszusetzen. Dass manche Versuche in dieser Richtung misslingen, sollte uns von diesem Weg nicht abbringen. Würden wir den aufrichtigen Dialog verweigern, so wäre die Rede von den drei “abrahamitischen Religionen” leeres Wortgeklingel, ein ungedeckter Scheck.
V.
Die Vielfalt der Glaubensweisen und die Unterschiedlichkeit der Völker sind schon für Abraham selbst ein Problem. Den Konflikt der Religionen erlebt er selbst in dem Augenblick, in dem Gott ihn aus seiner vertrauten Kultgemeinschaft herausruft. Abraham, so sahen wir, setzt sich der Begegnung mit Menschen anderer Religion aus, ohne die anderen wegen ihrer abweichenden Glaubensüberzeugung verächtlich zu machen. Er hält Verschiedenheit aus. Er versteht das Zusammenleben nicht von vornherein als Anpassung. Er kann mit Fremdheit umgehen, weil er des Auftrags sicher ist, der an ihn ergangen ist: “Geh, auf dich gestellt.”
Wir würden unsererseits Abraham zur Projektionsfläche unserer eigenen Probleme und Erfahrungen machen, wenn wir die religiöse Pluralität, die wir heute erleben, in diese Erzählung hineinlegen würden. Aber die Erinnerung an die Gestalt des Abraham kann uns dabei ermutigen, uns dieser religiösen Pluralität zu stellen und mit ihr selbstbewusst und aufrichtig umzugehen.
Berührungsängste gegenüber Fremden sind in aller Regel Ausdruck eigener Unsicherheit. Feindseligkeiten gegenüber Fremden und ihren religiösen Überzeugungen zeigen sehr häufig einen Mangel an Ichstärke an, auch einen Mangel an geklärter religiöser Identität.
Dass sich in den letzten Jahren gerade im Osten Deutschlands, wo ich Verantwortung trage, rechtsextreme Denk- und Handlungsweisen ausgebreitet haben, hängt für mich auch damit zusammen, dass die Frage nach den eigenen religiösen Wurzeln mit einem Tabu belegt ist. In einer solchen Situation können wir uns nicht damit zufrieden geben, nur einer unbestimmten religiösen Subjektivität als Resonanzboden zu dienen. Wir müssen die inhaltliche Kraft des christlichen Glaubens, die gelebte Praxis christlicher Frömmigkeit und eine nachvollziehbare Lebensgestalt des Glaubens erkennbar machen. Denn nur dann bieten sich – in Zustimmung und Widerspruch, in Ablehnung und Annahme – Möglichkeiten, zum christlichen Glauben ein eigenes Verhältnis zu entwickeln, diesen Glauben abzuweisen oder anzunehmen. Machen wir die Kirche dagegen nur zum Entfaltungsraum einer unbestimmten und ungreifbaren Religiosität, weichen wir scheinbar unbequemen Auseinandersetzungen aus; aber wir verweigern zugleich die Klarheit, die Auseinandersetzung ermöglicht und zu eigener Entscheidung einlädt. Auch das lehrt uns die Gestalt des Abraham: In unserer Kirche brauchen wir nicht nur die Freiheit der Pluralität; wir brauchen auch den Mut zur Verbindlichkeit des Glaubens, zum Vollzug des Bekenntnisses, zur Praxis des Vertrauens auf Gottes Güte.
Vom Osten Deutschlands habe ich gerade gesprochen. Aber breitet sich nicht auch im Westen Deutschlands eine Mentalität aus, der schon die Frage nach Gott als deplaziert gilt? “Wie hast du’s mit der Religion?” Würden die meisten heute weniger pikiert auf diese Gretchenfrage reagieren als Goethes Faust? “Lass das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut; / Für meine Lieben ließ‘ ich Leib und Blut, / Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben. ... Mein Liebchen, wer darf sagen: / Ich glaub‘ an Gott?/ Magst Priester oder Weise frage, / Und ihre Antwort scheint nur Spott / Über den Frager zu sein?” Über den wabernden Pantheismus, zu dem sich Faust dann schließlich herbeilässt, würden auch heute viele sich nicht hinauswagen: “Wir brauchen die Kirche“ – als Kulturträger, als Altenpflegeagentur – “aber wir sind uns doch einig, Herr Pfarrer, an Gott zu glauben braucht man deshalb nicht” . So kann man es wieder und wieder hören.
Dem ist zu widersprechen. Die von vielen erwünschte Außenwirkung der Kirche ist nicht zu haben ohne eine Erneuerung ihrer inneren Substanz. Nach gesellschaftlichen Wirkungen der Kirche zu fragen, reicht nicht zu, wenn wir nicht zu allererst darauf hoffen, dass der Glaube in dieser Kirche sich mit neuer Lebendigkeit erfüllt. Wie beides zusammenpasst, haben Menschen immer wieder an der Gestalt des Abraham gespürt. Dass er etwas bewirkt hat, kann man nicht bestreiten: “Geh, auf dich gestellt.” Aber er folgte damit nur einem Ruf: “Du sollst ein Segen sein.”