Morgenandacht

04. November 2002 (7. Tagung der 9. Synode der EKD Timmendorfer Strand )

Wir beten mit Worten aus dem 139. Psalm.

Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war. Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß! Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich immer noch bei dir.

Liebe Schwestern und Brüder! Es ist Ihnen mit den Tagungsunterlagen ein Heft zugeschickt worden, ein Text- und Bildzyklus. Ich wurde gebeten, mit Hilfe dieses Text- und Bildzyklus den heutigen Tag zu eröffnen und ich habe mich dem gern gestellt. Ich bitte Sie, dieses Heft unaufgeschlagen vor sich zu legen, damit Sie es in den Blick nehmen können. Jedes der in diesem Text- und Bildzyklus enthaltenen Bilder ist eine eigene Bildmeditation wert. Bitte lassen Sie uns gemeinsam einen Augenblick das Titelbild anschauen.

Zunächst aber lese ich dazu einen kurzen Abschnitt aus Matthäus 12: Und Jesus ging von dort weiter und kam in ihre Synagoge. Und siehe, da war ein Mensch der hatte eine verdorrte Hand. Und sie fragten ihn und sprachen: Ist’s erlaubt, am Sabbat zu heilen? Und er sprach zu ihnen: Wer ist unter euch, der sein einziges Schaf, wenn es ihm am Sabbat in eine Grube fällt, nicht ergreift und ihm heraushilft? Wie viel mehr ist nun ein Mensch als ein Schaf. Darum darf man am Sabbat Gutes tun. Da sprach er zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus. Und er streckte sie aus, und sie wurde ihm wieder gesund wie die andere.

In der Frage, was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst, wird, liebe Schwestern und Brüder, die Reichweite unserer Wahrnehmungsfähigkeit und Beziehungsfähigkeit gedehnt. Neben der Bilddimension ist es vor allem die Beziehungsdimension, die unser menschliches Leben ausmacht. Die Beziehung zu uns selbst, zu unserer Mitwelt und zu Gott, so wird es später auch im Kundgebungsentwurf noch einmal benannt.

Ein Blick auf dieses Titelfoto: Zunächst bitte ich sehr herzlich darum, dass Sie Ihre ästhetischen Anfragen an das Bild und an das Motiv einen Augenblick zurückstellen und sei es um des Menschen willen, dem diese Hand gehört. Fotos sind, wie Texte, wie auch biblische Texte, rezeptionsoffen, sie sind interpretationsfähig und haben ihre eigene Semantik, einen Bedeutungsumfang, der deutungsfähig bleibt. Sie regen zur Deutung an und sie teilen mit den Worten das Risiko, falsch verstanden, falsch interpretiert zu werden. Die Semantik, namentlich die strukturelle Semantik, hat mich immer schon fasziniert. Sie sorgt dafür, dass niemand von uns verzweifeln muss, höchstens schmunzeln, wenn er in kurzem Abstand an zwei Tankstellen vorbeifährt, und an der einen steht: Autowäsche fünf Minuten und an der nächsten Tankstelle steht: Autowäsche 24 Stunden. Oder in unserem Kontext, da wir gerade vom Frühstück kommen: Am Büfett steht ein Brotaufstrich, dort heißt es: Original Bienenhonig. Man weiß woher er kommt. Aber gleich daneben steht ein zweiter, da steht: Original Imkerhonig. Sie kennen das. Das Risiko der Rezeptionsoffenheit trifft zuallererst den Schreiber, den Autor, den Redner auch den Fotografen und sein Motiv. Es ist ein in die Welt und der Betrachtung ausgesetztes Kind, das selbstständig wird in der Begegnung mit anderen Menschen. So betrachte ich auch dieses Titelbild.

Wer von uns kann übrigens schon solche Bände sprechenden Hände aufweisen wie dieses Bild? Bücher, Computertasten, Synodalunterlagen hinterlassen derart aussagekräftige Spuren nicht. Es ist eines unbekannten Menschen kräftige rechte Hand, erhoben vielleicht zum Gruß an uns und gleichzeitig einen ungeschützten Einblick in sein Leben gewährend. Wie gesagt, ungeschützt vor Spekulationen, auch vor denen, die fehlgehen.

Vielleicht berichtet die Hand von Erde, von Pflanzen und Pflegen, von Wachsen und Reifen, vom Zupacken bis zur Ernte. Vielleicht berichtet sie vom Ablassen des Motoröls, vielleicht vom Einholen des Netzes, vielleicht berichtet sie vom Formen und Gestalten oder vom Färben - jedenfalls von einer Tätigkeit, die die Haut angreift, denn die Fingerkuppen sind so blank, dass sie die charakteristischen Hautrillen, die als Fingerabdrücke die Identität des Menschen zu dokumentieren in der Lage sind, gar nicht mehr aufweisen. Tag für Tag muss sich dieser Vorgang wiederholen, bis dieser Mensch und seine Familie Nahrung haben, ein Einkommen und ein Auskommen, bis Zeit ist, zu feiern oder zu ruhen. 

In diese Hautfalten hat sich die Signatur seiner Arbeit tief eingegraben. Willst du wissen, wie ich lebe, dann sieh meine Hand an. Und dann sieh deine Hand an. Und dann lass uns miteinander ins Gespräch kommen und reden, welche Spuren deine Hand aufweist, welche meine, welche Geschichten unsere Hände erzählen von dir, von mir und von der Liebe Gottes, seiner Barmherzigkeit und seinem Wunsch, uns heil werden zu lassen, und von der Liebe Christi, die dem Mann mit der verdorrten Hand schon sicher war, als sie noch verkrümmt war.

Oder hebt er die Hand wie wir in diesen Tagen, um abzustimmen? Ich wünschte es ihm, denn dann hätte er Beteiligungsrechte, Entscheidungsfreiheit. Sie sind kostbar, besonders in feudalen und totalitären Gesellschaften, der leider immer noch zahlenmäßig stärksten Erscheinungsform in unserer Welt.

Oder sagt er: Halt an, auf diesem Weg geht’s nicht weiter. Kehr um, wenn du nicht Schaden nehmen oder Schaden verursachen willst? Oder segnet er die Betrachter in der Gewissheit, uns zu helfen, uns zu sagen, dass wir nicht allein sind, nie und nimmer allein, wie Jesaja es sagt: Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit - zu den Fröhlichen, die sagen: Ich brauche Gott nicht, zu den Traurigen, die sagen: Mir hilft Gott nicht, und zu den Enttäuschten, die sagen: Es gibt Gott nicht.

Wenn man das Heft um 180 Grad dreht, dann wird eine bittende Hand daraus, eine, die unsere Bereitschaft zu teilen anfragt oder die darauf wartet, die Hostie zu empfangen oder etwas anderes von unserem geschenkten Reichtum.

Diese Hand ist in christlicher Diktion die Hand unseres Bruders, so wie die anderen auf den Bildern dargestellten Menschen unsere Schwestern und Brüder sind. So will es Gott, der in Jesus Christus unser Bruder geworden ist, der sich für das Detail interessiert und noch mehr für die ganze Geschichte und ihre Zukunft, für die ganze Wahrheit, für die Hand des Unbekannten, für die verdorrte Hand und für deine Hand. Der will, dass wir heil werden, dass wir Heil erfahren, unseren Zeitgenossen Heil verkünden, und der uns verheißen hat, unsere Bilder voneinander, von der Deutungsoffenheit einmal frei zu machen, uns die Wahrheit zu zeigen. Schon jetzt. Auch dann. Amen.