Predigt im Abschlussgottesdienst der EKD-Synode in Ulm

Wolfgang Huber

Bischof Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Predigt im Abschlussgottesdienst der EKD-Synode in Ulm
28. Oktober 2009

1. Korinther 13,8-12

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen

I.

Zwei Bilder menschlichen Lebens, zwei Fragmente menschlicher Existenz, die Innenseite zweier Menschen will ich an den Beginn stellen. Zwei Romane geben mir dazu den Anstoß, die in diesen Tagen und Wochen viel diskutiert werden – schon deshalb, weil die beiden Autorinnen Kathrin Schmidt und Herta Müller jüngst herausragende Auszeichnungen erhalten haben. Dass es zwei Frauen sind, die diese Auszeichnungen erhalten haben – wundert das jemanden?

Kathrin Schmidt – vor einigen Tagen in Frankfurt mit dem Deutschen Buchpreis 2009 ausgezeichnet – beschreibt in ihrem Werk „Du stirbst nicht“ Eindrücke einer vierundvierzigjährigen Frau, die nach einem Hirnaneurisma langsam die Fragmente, die ihr aus ihrem Leben einfallen, neu sortiert. Bruchstücke tauchen in ihr auf, für die sie wieder Worte findet und in denen sie sich langsam selbst wiederfindet. Das Haus steht leer und schweiget und aus den Fenstern steiget die weiße Birke wunderbar, variiert sie Matthias Claudius. Von einem Parkplatz aus schaut sie über die Wiese zu einer alten Alkoholentzugsstation. Früher hatte sie als ehrenamtliche Betreuerin einer jungen Frau mit diesem Ort zu tun: Eine intelligente Chemielaborantin mit Abitur, zwei Kinder – aber sie verfiel dem Alkohol. Aber würde sie die Frau heute überhaupt wieder erkennen, wenn sie ihr noch einmal begegnen würde? Oder kann sie Gerhard besuchen, der lange Jahre zuvor mit Volljährigen, die aus der Alkoholentzugsstation entlassen wurden, einen Film drehte, um sie auf diese Weise auf ihrem schwierigen Weg zu begleiten? Aber wie sollte sie Gerhard finden, wie ihn erreichen, wo ihr im Rollstuhl, an den sie gefesselt war, jede Bordsteinkante größte Probleme machte? Wird aus solchen Fragmenten wieder ein Leben entstehen?

Herta Müller – Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009 – schildert in ihrem Roman „Atemschaukel“ fünf Jahre aus dem Leben eines jungen Mannes – fünf Jahre, die er zwischen Leben und Tod in einem Arbeitslager verbringt. Das Ende des Zweiten Weltkriegs bestimmt die Szenerie, die angstvollen Erfahrungen der deutschen Bevölkerung in Rumänien prägen die Atmosphäre. „Die Kalkfrauen“, „der Hungerengel“, „der Kartoffelmensch“, der „Pistolenmann“ oder „der Blechkuss“ zeigen die Welt des Lagers. In einer solchen Situation gewinnt das Kleine an Bedeutung; wie der tägliche Hunger gestillt wird, ist ein großes Thema. Wie kann man zwei Monate überleben mit nichts anderem als gekochten Kartoffeln? Wie überwindet man die Angst nach versuchter Flucht? „Dann zog er mich am Arm aus der Reihe und zeigte, als wäre er wieder stumm, in den Abend, in die Steppe, dorthin, wo ich am Morgen hergekommen war. Dort ließ er mich stehen. Und den Frauen gab er den Marschbefehl und ging hinter der Brigade in die andere Richtung. Ich stand am Feldrand, sah ihn mit den Frauen wegmarschieren und war sicher, bald lässt er seine Brigade allein und kommt zurück. Und ohne Zeugen wird es einmal knallen und heißen: Erschossen auf der Flucht.“ Bruchstücke einer bedrängenden Realität: so lässt Herta Müllers Roman aus vielen kleinen Teilen ein Ganzes entstehen.

Nur am Fragmentarischen lässt sich das Ganze des Lebens darstellen. Szene an Szene gereiht, das Verstehen und das Unverständnis nebeneinander, Selbsterkenntnis und Selbstentfremdung eng verwoben, sich selbst genug und zugleich sich selbst ein Fremder. Im Fragmentarischen leuchtet auf, wie das Leben im Ganzen gemeint ist. Dadurch wird Literatur zur Lebensdeutung, zum Ringen um Wahrheit, zum Blick auf das Ewige. Die beiden prominenten Beispiele von Kathrin Schmidt und Herta Müller, die Auszeichnungen, die ihnen zuteil werden, und das große Echo, das sie finden – all das zeigt, wie groß das Interesse an einer literarischer Erfassung des Lebens und damit an Lebensdeutung und einem tieferen Erfassen des Lebenssinns ist.

II.
Wir alle, liebe Gemeinde, kennen das Hohe Lied der Liebe, das der Apostel Paulus singt. Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle – so fängt es an. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen – so endet es. Aber mitten in diesem Hohen Lied der Liebe unterbricht der Apostel Paulus sich selbst und beschreibt, wie fragmentarisch, wie unvollkommen unser Zugang zur Wirklichkeit und damit auch zum Sinn unseres eigenen Lebens ist. Mitten im hymnischen Lobpreis der Liebe schildert er, dass wir mit all unseren Bemühungen an Grenzen stoßen: Unser Wissen ist Stückwerk; ja, sogar von unserem prophetischen Reden gilt nichts anderes. Zwar hat sich heute in der allgemeinen Einschätzung das Verhältnis von Wissen und Prophetie umgekehrt. Der Prophetie schreibt man heute äußerste Ungewissheit zu; nichts Wagemutigeres gibt es deshalb, als prophetisch zu reden. Wissen dagegen verspricht Gewissheit; und es dehnt sich mit einer schon astronomisch zu nennenden Geschwindigkeit aus. Und doch sagen kluge Wissenschaftler, dass mit jeder derartigen Ausdehnung des Wissens sich nur die Zahl der offenen, der ungelösten Fragen vermehrt. Wie auch immer man das Verhältnis zwischen Wissen und Prophetie bestimmt, die Einsicht des Apostels gilt auch für uns: Unser Wissen ist Stückwerk, unser prophetisches Reden ist Stückwerk – nicht einmal die für die anderen unverständliche Zungenrede hebt uns über diese Grenze hinaus.

All das ist aus der Arbeit des Rates der EKD wohl bekannt. Auch die Leitung der Kirche ist Handeln auf Unsicherheit. Auch eine Wahlperiode von sechs Jahren ändert nichts daran, dass unser Reden und Handeln Fragment bleibt. Das hat der Rat der EKD erlebt, der sich heute verabschiedet; darauf darf sich auch der neue Rat getrost einrichten.

Wieso getrost? Zu der nüchternen Einsicht, dass all unser Bemühen Stückwerk bleibt, gibt es ein Vorzeichen vor der Klammer: Die Liebe hört niemals auf. Die Liebe ist es, die uns schon jetzt über die Grenze hinausschauen lässt, die unserem Wissen, unseren prophetischen Bemühungen und sogar den Kühnheiten, die in Unverständlichem enden, gesetzt sind.

Die Liebe hört niemals auf. Von ihr her kommt das Erkennen all dessen, was wir jetzt nur wie in einem dunklen Spiegel sehen. Die Liebe hört niemals auf. In ihr scheint schon auf, was über das stückweise Erkennen möglich sein wird: ein Blick auf das Ganze, ein Blick auf den Menschen, wie Gott ihn sieht. Nur im Licht der Liebe lässt sich ertragen, was uns ausmacht, was wir getan und unterlassen haben. Nur als Geliebter kann ich mir selbst in die Augen schauen.

Die Liebe hört niemals auf. Auch wenn alles aufhört, wenn selbst die Splitter unseres Lebens ans Ende kommen und kein Nacheinander der Tage uns mehr vor der Glut der Erkenntnis und der Zusammenschau unseres Lebens schützen wird, hört die Liebe nicht auf, hört Gottes Liebe nicht auf, hört Gott nicht auf, uns zu lieben. Nicht dass wir alles sofort verstehen könnten! Manches erweist sich für ziemlich lange Zeit als rätselhaft. Nicht nur für manche Wahlgänge in der Wahl zum Rat der EKD gilt das. Aber das Zutrauen bleibt, dass sich auch im Rätselhaften ein Sinn zeigen wird: der Sinn der Liebe. Nicht dass es im kirchlichen Leitungsgeschäft immer harmlos zugeht. Wer sich auf diese Aufgabe einlässt, muss daran erinnert werden, dass auch die Kirche zur noch nicht erlösten Welt gehört, wie es die Barmer Theologische Erklärung von 1934 ausdrücklich festhält. Aber in der kirchlichen Leitungsverantwortung sind wir zugleich dadurch verbunden, dass wir über die Unvollkommenheiten hinausschauen, dass wir uns in Gottes Liebe bergen, dass wir im Vertrauen auf Gott immer wieder neu beginnen.

Nach all den Jahren in der Leitungsverantwortung für unsere Kirche bekenne ich gern: Der Geist der Liebe hat höchst praktische Bedeutung; er macht die Last leichter, die uns aufgelegt ist. In der gemeinsamen Verantwortung erleben wir es: „Gott legt uns eine Last auf; aber er hilft uns auch.“ Diejenigen, die heute aus dem Rat der EKD ausscheiden, haben die Erfahrung gemacht: Weil Gottes Liebe nicht aufhört, hat uns die Verantwortung für unsere Kirche Freude gemacht; wir haben zusammen viel gelacht. Wir wünschen dem neuen Rat der EKD, dass es ihm genauso gehen wird.

III.

„Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden.“ Sören Kierkegaard wird dieser knappe Satz zugeschrieben; in meinem eigenen Leben findet er ein unmittelbares Echo. So manche Entscheidung – auch manche Entscheidung der Synode der EKD – habe ich in ihrer Bedeutung für mein Leben im Nachhinein besser verstanden als im jeweiligen Augenblick. Wie gut, dass wir den Sinn, den unser Leben im Ganzen hat, in Gottes Hand gut aufgehoben wissen. Im Vertrauen auf Gott wissen wir, dass all die Einzelteile, Entscheidungen, Einsichten, Niederlagen, Gewissheiten und Zweifel in unserem Leben nicht ohne einen inneren Zusammenhang sind. Doch worin dieser innere Zusammenhang besteht, ist in jeder Generation von neuem auszubuchstabieren.

Aus der Haft im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel schreibt Dietrich Bonhoeffer am 23. Februar 1944 an Eberhard Bethge: Je länger wir aus unserem eigentlichen beruflichen und persönlichen Lebensbereich herausgerissen sind, desto mehr empfinden wir, dass unser Leben fragmentarischen Charakter hat. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt ... Fragmente, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke z.B. an die Kunst der Fuge. Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragments ist, ... dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.

Unmittelbar davon bedroht, dass sein Leben auf der Höhe seiner Tage abbrechen würde, hielt Bonhoeffer an der Hoffnung fest, dass seinem Leben einst anzusehen sei, wie das Ganze gedacht war. Heute wissen wir, wie Recht er damit hatte. Warum sollen wir dann kleinmütig auf die Fragmente schauen, die wir zustande bringen? Warum sollen wir uns nicht an ein großartiges Wort halten, mit dem Paul Tillich die Einsicht des Paulus kommentierte: Die Größe des Menschen liegt in seiner Fähigkeit, zu wissen, dass das Sein fragmentarisch und rätselhaft ist. Die Einheit, zu der die Fragmente unseres Lebens gehören, liegt jenseits von ihnen; sie wird ergriffen durch Hoffnung, nicht von Angesicht zu Angesicht.

Und so bleiben wir getrost dabei: Werkstücke haben wir zuwege gebracht, an denen andere weiterarbeiten. Wir unternehmen Schritte auf einem Weg, auf dem andere weitergehen. Das Bild aus dem Sport trifft es: Wir geben an einem solchen Tag den Staffelstab weiter.  Ob es 4 mal 100 oder 4 mal 400 Meter sind oder ob die 11. Synode der EKD den 12. Rat der EKD gewählt hat: man muss den Staffelstab im richtigen Bereich weitergeben. Das ist in unserer Kirche klar und gut geregelt.

Zur vorgesehenen Zeit übernimmt der neue Rat der EKD sein Amt. Wir erbitten Gottes Segen für die, die nun den Stab übernehmen. Und wir vertrauen darauf: Auch wenn unser Wissen und unser prophetisches Reden, unser Leiten und unser Tun Stückwerk ist – die Liebe hört niemals auf. Amen